Großbritannien: Die Polizei als Täter
Die britische Regierung plant ein drakonisches Gesetz, das die Befugnisse der Polizei ausweiten und das Recht auf Protest beschränken wird. Viele Aktivistïnnen sind alarmiert – aber sie haben nicht vor, klein beizugeben.
Ein sonniger Samstag im Zentrum Londons. Ein paar hundert Menschen marschieren das Victoria Embankment hinauf, entlang der Themse. Sie zünden violette und grüne Leuchtfackeln an – die Farben der Suffragetten – und halten Plakate in den Händen, auf denen steht: „Die Polizei ist der Täter“, und „Polizei: Schuldig“. Die meisten der Protestierenden sind Frauen. Als sie bei der Polizeiwache von Charing Cross ankommen, schalten sie Eintausend Taschenalarme ein, sogenannte Rape Alarms, und schmeißen sie verächtlich vor die Füße der Polizisten, die sich vor dem Eingang aufgestellt haben. Dazu skandiert die Menge: „A C A B – All Cops Are Bastards!“
Genau ein Jahr ist es her, dass die Londoner Polizei in ihre tiefste Krise seit vielen Jahrzehnten stürzte und das Vertrauen von tausenden Londonerïnnen verlor. Viele Bürgerïnnen kamen auf einmal zum Schluss, dass sie von den Beamten der Metropolitan Police keinen Schutz erwarten können, mehr noch: dass die Polizei eine Gefahr für ihre Sicherheit darstellen kann. Ausschlaggebend war der Mord an Sarah Everard, der die Stadt und das Land erschütterte. Everard, 33 Jahre alt, war an einem Abend im März 2021 auf dem Nachhauseweg in Südlondon, als der Polizist Wayne Couzens vorgab, sie zu verhaften. Er legte ihr Handschellen an, fuhr sie mehrere Stunden durch die Nacht aufs Land, wo er sie vergewaltigte und mit seinem Polizeigürtel erdrosselte.
Der wütende Protest vor der Charing Cross Station ist eine Erinnerung an den Mord an Everard – und eine Warnung: Denn zur gleichen Zeit, als die Londonerïnnen der Polizei mit zunehmenden Misstrauen begegnen, macht sich die britische Regierung daran, die Macht der Behörde erheblich auszubauen. Insbesondere sind es Proteste wie dieser hier, die in Zukunft deutlich schwieriger abzuhalten sein dürften.
Frustrierend friedliche Proteste
Die sogenannte Policing Bill hat ihren Ursprung in der tiefen Frustration der britischen Polizei über die Klimaproteste von Extinction Rebellion (XR). Im Frühling 2019 besetzten deren Aktivist:innen Knotenpunkte in London und in anderen britischen Städten, und zwar mehrere Wochen lang. Aus der hektischen Kreuzung am Marble Arch, an einer Ecke des Hyde Park gelegen, wurde eine Art Sommerfest-Gelände, mit Konzerten, Yoga-Stunden, politischen Debatten und Essensständen – alles sehr friedlich, aber vielleicht gerade deswegen so nervig für die Londoner Metropolitan Police. Solche Proteste seien darauf ausgerichtet, die „Polizei in die Knie zu zwingen“, sagte die damalige Met-Chefin Cressida Dick. Zwar verfügen die Behörden bereits heute über reichlich Befugnisse, Demonstrationen einzuschränken, wenn sie als „störend“ empfunden werden – aber das ging der Polizei nicht weit genug: Sie forderte mehr Macht, um gegen die Protestierenden vorzugehen.
Bei der Hardlinerin Priti Patel, die das Innenministerium leitet, stieß Dick auf offene Ohren. Im März 2021 legte Patel die Police, Crime, Sentencing and Courts Bills vor, kurz Policing Bill. Die Vorlage gibt der Polizei unter anderem die Befugnis, bei statischen Protesten, also Sit-ins und anderen Demos, die an einem Ort bleiben, genaue Anfangs- und Endzeiten vorschreiben. Sie könnte zudem einen Protest verbieten, wenn er – kein Scherz – zu laut ist. Und sie kann diese Regeln auf Proteste anwenden, die aus nur einer Person bestehen. Wer sich nicht an Beschränkungen hält, die man „hätte kennen müssen“, macht sich strafbar – auch wenn man nicht direkt von einem Beamten darauf hingewiesen worden ist. Und schließlich ist es laut dem Gesetz eine Straftat, „bewusst oder rücksichtslos ein öffentliches Ärgernis zu verursachen“.
Angriff auf die Bürgerrechte
Zusammengenommen sei dies ein massiver Angriff auf die Bürgerrechte, sagen Kampagnen. Amnesty International warnt: „So ein enormer und beispielloser Ausbau der Polizeibefugnisse würde zu viel Macht in die Hände des Staates legen, er könnte Proteste im Prinzip nach Belieben verbieten.“ Selbst manche konservativen Parlamentarier halten das Gesetz für völlig überrissen: Ein überparteilicher Parlamentsausschuss hat gewarnt, dass das Gesetz unter Umständen gegen das Recht auf Protest verstößt – und damit einen Bruch der Menschenrechte darstellt.
Besonders Frauenrechtsgruppen und Kampagnen, die sich für die Rechte ethnischer Minderheiten einsetzen, haben Alarm geschlagen. „Protest ist ein fester Bestandteil des Kampfes für Frauenrechte – und besonders die Rechte von Schwarzen Frauen und solchen aus anderen Minderheiten“, schreibt eine Koalition aus mehreren Bürgerrechtskampagnen in einem Arbeitspapier. Zwar sieht das neue Gesetz härtere Strafen in Fällen häuslicher Gewalt vor, aber die Organisationen kritisieren, dass dies überhaupt nichts dazu beitrage, die Ursachen dieser Gewalt anzugehen. Zudem sei der Staat selbst ein „wichtiger Treiber von Gewalt gegen Frauen“ – sie verweisen auf die restriktive Migrationspolitik, die die Ausbeutung von Frauen begünstige, oder auf die Art und Weise, wie die Polizei gegen Proteste von Frauen vorgeht. Sie zitieren ein spezifisches Beispiel: Eine Mahnwache für Sarah Everard im März 2021.
Die Demo wurde wenige Tage nach der Verhaftung von Wayne Couzens angekündigt. Sie sollte im Londoner Park Clapham Common stattfinden, unweit der Stelle, wo der Polizist sein Opfer entführt hatte. Die Kundgebung war aufgrund der Covid-Einschränkungen nicht bewilligt worden, aber trotzdem fanden sich im Park hunderte Menschen zusammen, die meisten von ihnen Frauen. Als die Dunkelheit einbrach, kam die Polizei. Die Beamtïnnen bahnten sich grob schubsend einen Weg durch die Menge, sie trampelten über die niedergelegten Blumen und begannen, Frauen wegzuzerren und ihnen Handschellen anzulegen. Ein Bild ging damals durch die Medien: Eine junge Frau liegt am Boden, zwei Polizisten halten sie nieder und drücken ihr die Hände auf den Rücken. Die Frau, Patsy Stevenson, ist unter den Protestierenden, die an diesem Samstag vor der Charing Cross Station ihre Rape Alarms aktivieren. „Fuck the Police“, ruft Stevenson der Menge zu.
Die Polizei als Täter
Für die Aktivist:innen liegt hierin das größte Problem der Policing Bill: Es legt mehr Macht in die Hände genau jener Institution, die ihre Macht immer wieder missbraucht – eine Institution, die durchzogen ist von tiefgreifenden strukturellen Problemen: Gewalt, Misogynie, Rassismus. Es gibt viele Statistiken, die diese Einschätzung untermauern.
Zum Beispiel sind in Großbritannien seit 1990 über 1800 Menschen in Polizeigewahrsam oder beim Kontakt mit der Polizei ums Leben gekommen; in zehn Fällen wurden Polizisten des Mordes oder Totschlags beschuldigt, aber keiner wurde verurteilt. Zudem ist bekannt, dass männliche Polizisten auch zu Hause gewalttätig werden. Das Bureau of Investigative Journalism hat aufgedeckt, dass zwischen 2015 und 2018 fast 700 Polizisten wegen häuslicher Gewalt angezeigt worden sind – aber in weniger als zehn Prozent der Fälle wurden die Beschuldigten aus dem Dienst entlassen oder zumindest verwarnt. Ein ehemaliger leitender Polizist sagte gegenüber dem Fernsehsender Channel 4, dass durch Polizisten ausgeübte häusliche Gewalt eine „Epidemie“ darstelle.
Doch die polizeilichen Übergriffe spielen sich auch außerhalb der eigenen vier Wände ab: 2015 und 2017 sind bei der Polizeiaufsichtsbehörde fast 400 Beamte angezeigt worden, weil sie ihre «Macht zur sexuellen Bereicherung missbrauchten» – die Vergehen reichen von belästigende Textnachrichten bis zu körperlichem sexuellem Missbrauch. Laut Frauenkampagnen sind davon insbesondere Sexarbeiterinnen und Drogenabhängige betroffen, sowie Frauen, die sich wegen häuslicher Gewalt an die Polizei gewandt hatten.
Ziviler Ungehorsam als Taktik
Auch ethnische Minderheiten zählen zu jenen Bevölkerungsgruppen, die von der Strafjustiz besonders hart angegangen werden. Schwarze Männer werden von der Polizei neunmal häufiger gefilzt als weiße. Die Wahrscheinlichkeit, dass Schwarze wegen Drogenvergehen verhaftet werden, ist zehnmal so hoch wie bei Weißen. Nichtsdestotrotz sieht die Policing Bill vor, Personenkontrollen zu erleichtern – die Polizei bräuchte nicht einmal einen Verdacht, dass jemand eine Straftat begangen hat, um die Person zu filzen. Das Gesetz „werde Minderheiten unverhältnismäßig treffen und den Rassismus und die Diskriminierung, die viele erleben, vertiefen“, schreibt Amnesty International.
Weniger als ein Jahr nach dem Mord an Sarah Everard verursachte die Met den nächsten Skandal, der die Befürchtungen der Protestierenden erneut bestätigte: Die Medien enthüllten Textnachrichten, die männliche Beamte in der Charing Cross Station ausgetauscht hatten – sie enthalten haarsträubende Homophobie, Misogynie und Rassismus – von Witzen über Vergewaltigung bis zu Prahlerei, dass jemand eine „somalische Ratte“ zusammengeschlagen habe. In ihrem Bericht über die Vorfälle schreibt die Polizeiaufsichtsbehörde: „Wir glauben nicht, dass es sich um Einzelfälle handelt“ – ein Zugeständnis, dass die Polizei strukturelle Probleme hat. Die Häufung der Skandale zwang die Londoner Polizeichefin Cressida Dick im Februar zum Rücktritt. Aber an der Entschlossenheit der Regierung, das Polizeigesetz durchzusetzen, änderte das nichts.
Auf der Straße hingegen hat sich im vergangenen Jahr viel Widerstand geregt. Die Proteste gegen die Vorlage waren breit und zahlreich, von London über Bristol bis Glasgow gingen Frauen und Männer auf die Straße, um gegen den Abbau ihrer Rechte zu kämpfen. Es zeigte Wirkung: Einige der drakonischeren Klauseln im Gesetz wurden vom Oberhaus zurückgewiesen. Dennoch steht die Policing Bill kurz vor der Absegnung. Aber damit ist es noch nicht vorbei – in mancher Hinsicht beginnt es dann erst. Denn die Aktivist:innen haben nicht vor, klein beizugeben: Sie planen, sich dem Gesetz durch zivilen Ungehorsam zu verweigern. Das heißt: Wenn ein Protest verboten wird, geht man trotzdem hin, und wenn jemand grundlos gefilzt wird, stellt man sich zum Opfer, um die Person zu schützen. Ob das funktioniert, wird sich zeigen müssen – aber zu urteilen nach der Wut, die am Samstag vor der Polizeistation in Charing Cross zu spüren ist, werden die Beamten alle Mühe haben, das Gesetz durchzusetzen.