Tel Aviv: Leben in der teuersten Stadt der Welt
Wie lebt es sich in der kostspieligsten Stadt der Welt – und wie schaffte es das kleine Tel Aviv Metropolen wie Paris und Hongkong zu überholen?
Ganz schön Chuzpe hat sie, diese Stadt am Mittelmeer mit ihren gerade mal 450.000 Einwohnern. Mit dem Slogan „Non-Stop-City“ versuchte sie schon in den Achtzigern mit den Metropolen dieser Welt zu konkurrieren. Dabei war sie damals selbst kaum 80 Jahre alt. Wer nach der „Weißen Stadt“ sucht – so nennt sich Tel Avivs Bauhaus-Erbe von 4000 Gebäuden aus den Dreißigern – stößt allerdings eher auf eine grau-melierte Stadt. Der „Kratzputz“ der deutschen Architekten war halt doch nix fürs Wüstenklima. Außerdem gilt Tel Aviv noch: als die veganste Stadt der Welt, als LGBTQ-Mekka des Nahen Ostens – und ja, als Hundeparadies: Diese haben hier wie Ultraorthodoxe und Schwule sogar ihre eigenen Strände. Ach so, der Stadtstrand ist ganze 14 Kilometer lang. Aber genug angegeben.
Weniger stolz ist man auf den neuesten Superlativ. Im November krönte der britische Economist Israels zweitgrößte Stadt zur „Teuersten Stadt der Welt“. Ursache für die zweifelhafte Ehre ist nur zum Teil der derzeit starke Shekel – der laut des Economist Israels erfolgreicher Impf-Politik zuzuschreiben ist. Während man sich international also doch ziemlich wunderte, wie Tel Aviv Paris und Hongkong überholen konnte, zuckten die Israelis nur die Schultern. Überrascht war niemand. Die Frage sei eher, so formulierte es die Zeitung Haaretz:
„Wo bleibt der Luxus in der teuersten Stadt der Welt?“
Eine Frage, die ich mir auch gerade mal wieder stelle. Als ich vor acht Jahren das erste Mal eine Bleibe in Tel Aviv suchte, war ich mir noch sicher, dass mich nach dem Münchner Mietmarkt nicht viel schocken kann.
Seitdem bin ich sieben Mal umgezogen. Die Verträge laufen hier selten über ein Jahr. Die Vermieter wären ja schön dumm. Wer mehr bietet, gewinnt. Und wer Eigentum hat, hat ausgesorgt. 2021 kostete eine durchschnittliche Vier-Zimmer-Wohnung mindestens 1,3 Millionen Euro.
Aus der ersten Bleibe wurde mein Laptop geklaut – weil die Haustür aus einer eintretbaren Spanplatte bestand: Der Vermieter nagelte sie eigenhändig zusammen und schraubte ein abschraubbares Vorhängeschloss an. Die zweite war ein illegaler Aufbau auf einem Flachdach, mit einer Außentreppe, so wacklig, dass wir im Krieg die Raketen aus Gaza am Himmel bestaunten, statt den riskanten Abstieg zum Bunker zu wagen. In der dritten wurde das Wohnzimmer im Winterregen zum Swimmingpool. Nummer Fünf war ein ehemaliger Pferdestall an der Stadtmauer von Jaffa – mit Ratten und Schneckenbesuch, aber so urig, dass der Vermieter lieber ein hippes Café daraus machen wollten. Und nun ja: Die jetzige Wohnung schien ein Glückstreffer, bis mir kürzlich im Schlaf der erste Regentropfen ins Gesicht fiel. Die Miete zahle ich natürlich bar, so spart sich wenigstens der Besitzer ordentlich Steuern. Wohlgemerkt: Diese Wohnungen befanden sich alle in den gefragtesten Vierteln der Stadt.
Hälfte des Einkommens für die Wohnung verballern
Immerhin teile ich mir die Miete neuerdings mit meinem Freund. Der Nachtteil: Nun kann ich nicht mal mehr vor mir selbst verheimlichen, dass ich eine echte „Freierit“ bin. Ein „Freier“ ist im Hebräischen ein gutmütiger, etwas trotteliger Mensch, der sich ständig übervorteilen lässt. (Das Wort stammt aus dem Jiddischen, hat aber nichts mit dem deutschen „Freier“ zu tun. Eine Theorie besagt, dass einst rumänische Freiherren am Plattensee unbedarft mit Geld umhergeworfen haben.) Meine Unbedarftheit besteht zum Beispiel darin, dass ich eine Bio-Gemüsebox abonniert habe, anstatt zum arabischen Supermarkt zu radeln. Oder dass ich aus Faulheit in den zwei Monopol-Supermarktketten Käse kaufe, dessen Preis vom „Milch-Kartell“ der einheimischen Bauern bestimmt wird, oder mit hohen Zöllen importierte Deodorants, von den acht Klopapierrollen zu zehn Euro ganz zu schweigen. Dass wir beide, ohne mit der Wimper zu zucken, acht Euro für 0,3-Liter Bier hinlegen, oder fünf Euro für den Cappuccino, ist nicht „freierisch“, sondern Tel Aviv.
Genaugenommen sind wir natürlich allesamt Freier, die freiwillig die Hälfte unseres Durchschnitt-Einkommens für eine Wohnung verballern, die zwar nah am Meer ist, aber eben auch im Winter feucht und sandig.
Wirtschaftswissenschaftler Alex Coman von der Universität Tel Aviv erklärte der Jüdischen Allgemeinen, dass sich der Inlandsmarkt so entwickelt habe, „weil das Angebot nicht wettbewerbsfähig und die Nachfrage selbstgefällig ist“. Er fordert die Israelis auf:
„Werdet wieder wütend!“
Das letzte Mal, dass sich die Tel Avivis wehrten, ist schon zehn Jahre her. Damals zelteten Tausende über Wochen auf dem Rothschild Boulevard – der Prachtstraße im Herzen der Stadt, und demonstrierten gegen steigende Mieten, soziale Ungerechtigkeit und: die Monopolisierung des Hüttenkäses. Der war nämlich innerhalb von drei Jahre fast doppelt so teuer geworden. 2014 ebbte der Protest zwar noch einmal auf, aber der Tenor lautete nicht mehr: „Occupy Tel Aviv“, sondern: „Olim le Berlin!“ – Lasst uns nach Berlin auswandern! Auslöser der Bewegung war ein Schokopudding. In Israel als „Milky“ beliebt und teuer, in Berlin ein Schnäppchen, wie ein junger Israeli mit seinem Kassenzettel in den sozialen Medien bewies.
Aber was ist mit denen, die sich nicht einfach so entscheiden können, wo sie leben wollen? Tel Aviv ist nicht nur die teuerste Stadt der Welt, sondern in all seiner faszinierenden Diversität mit jüdischen Einwandererkulturen, arabischen Israelis, asiatischen Gastarbeitern und afrikanischen Geflüchteten ein Miniatur-Planspiel dafür, wie Gentrifzierung weltweit funktioniert.
„Jerusalem betet, Haifa arbeitet, Tel Aviv spielt.“
Dass sich die Grenze zum Schattenschlag der Weißen Stadt beinahe monatlich um einen Straßenzug verschiebt, liegt einerseits daran, dass es für viele junge Israelis keine Alternative zur Partystadt am Meer gibt. Nicht umsonst heißt es: „Jerusalem betet, Haifa arbeitet, Tel Aviv spielt.“ Wegen des Dauerstaus und der schlechten Verkehrsanbindung lohnt es auch gar nicht, außerhalb zu wohnen. Dabei wird dann gern übersehen, dass sich hier zehn Stadthunde auf einmal in ihren Leinen verknoten: Ihre Besitzer kommen oft trotz Zweit- und Drittjobs nicht aus den roten Zahlen. Zeit zum Gassigehen bleibt da nicht. Höchstens, wenn der Drittjob Hundesitting ist.
Die Kluft wächst
Andererseits lockt das „Silicon Wadi“ Geld in die Stadt: Russische Oligarchen, Venture Capitalists, wohlhabende Juden aus Frankreich auf der Suche nach der Zweitwohnung, und natürlich die glücklichen Israelis, die gerade einen Exit mit dem Start-Up hingelegt haben. Die Kluft wächst.
Dass ich seit Jahren selbst als Teil der Karawane von Viertel zu Viertel gen Süden migriere, vergrößert mein schlechtes Gewissen nur noch. Da hilft es auch nichts, dass ich ab und an mal im „Hilweh Markt“ Ohrringe aus Haifa oder mundgeblasene Gläser aus Hebron kaufe. Das Geschäft gehört einer jungen Palästinenserin, die beschlossen hat, sich und ihre Kultur nicht weiter aus Jaffa verdrängen zu lassen. Immerhin ist sie hier aufgewachsen. Die Gentrifizierung der einst arabischen Hafenstadt, aus der die meisten Palästinenser 1948 flohen oder vertrieben wurden, ist für Adria Abu Shehadeh hochpolitisch. Die ehemals arabische Stadt im Süden wurde von der jüdischen Elite lange gemieden, bis sich das junge Tel Aviv die zerfallenden Mauern einverleibte. Das einst schrabbelige Flohmarktviertel mit seinen (jüdischen) Boutiquen, Bars und Cafés steht seit ein paar Jahren in den Rankings der hippsten Nachbarschaften der Welt ganz oben.
Dass das kleine Tel Aviv als kosmopolitische Weltstadt gefeiert wird, liegt aber gerade an den Kontrasten, dem bunten Durcheinander der Kulturen und Subkulturen – und ihren Grenzbereichen:
Zwischen Weißer Stadt und Schattenschlag
Gar nicht weit vom Rothschild Boulevard mit seinen Start-Up-Hubs und restaurierten Bauhaus-Fassaden wirft ein monströser Amboss aus Beton seinen Schatten über eine ganze Nachbarschaft. Die Tel Avivis bezeichnen den „Neuen Zentralen Busbahnhof“ als ihren weißen Elefanten: Er schluckt Geld und ist zu nichts nütze. Tatsächlich stehen die meisten der 2500 Ladenlokale seit Jahrzehnten leer. Der Bau war von Anfang an eine gigantische Fehlkalkulation. Doch rund um den Bahnhof haben nicht nur Junkies und Prostituierte ihre Nische gefunden. Der Bahnhof bündelt ein informelles Netzwerk für alle, die auf der Sonnenseite der Stadt keinen Platz haben: Afrikanische Kirchen, philippinische Post und Bank finden sich hier, ein thailändischer Gemüsemarkt, eine Klinik für Sexarbeiter, Anwälte für Asylsuchende. Nun soll der Bau endgültig abgerissen werden; denn selbst auf Tel Avivs „Slum“ haben Immobilienhaie nun ein Auge geworfen. Mit dem Abriss des zweitgrößten Busbahnhofs der Welt (wie gesagt, Tel Aviv hat Chuzpe) würde jedoch die Stadt nicht nur für einen Monat in einer Wolke aus Feinstaub verschwinden, wie Architekten befürchten. Nicht nur die Geflüchteten und Gastarbeiter würden ihre Heimat verlieren. Sondern auch die jiddische Bibliothek in der fünften Etage, in der 40000 Bücher im Rhythmus des Busfahrplans wackeln – und „The Block“ in den Eingeweiden des Elefanten. Tel Avivs berüchtigter Electro-Club wird regelmäßig von DJs aus dem Berliner Berghain bespielt – und ist für viele junge Städter ein Grund (noch) nicht auszuwandern.