Klimakämpfer in Borneo: Indigene wollen Regenwald vor Palmöl retten
In Indonesien werden riesige Waldflächen für Plantagen gerodet. Indigene Dayak in Kalimantan kämpfen für ihr Land, indem sie zu alten Traditionen zurückkehren.
Sobald es dämmert, haben es die Menschen in Tumbang Mantuhe eilig, nach Hause zu kommen: Wenn es dunkel wird, so glauben sie, erwachen die Geister der Toten – und damit auch die Seelen der alten Bäume, die den Ort früher umringt haben. Heute gibt es hier keinen Wald mehr. Das 500-Seelen-Nest liegt im Herzen von Kalimantan, dem indonesischen Teil der Insel Borneo, wie eine Oase zwischen riesigen Ölpalmenplantagen. Deren Grenzen haben sich bis auf einen Umkreis von wenigen Kilometern an die Gemeinde herangeschoben. Den letzten Dorfwald ließ eine Palmölfirma 2013 für neue Pflanzungsflächen illegalerweise abfackeln.
Die Bewohnerïnnen haben versucht, sich dagegen zu wehren. Mit Demonstrationen und gerichtlichen Klagen. Viele genutzt hat es ihnen nicht – ihre Gegner sind internationale Konzerne mit Verbindungen bis in höchste Regierungskreise. Daher probieren sie es nun mit einer anderen Strategie: Rückbesinnung auf ihre Traditionen. Fast alle Einwohnerïnnen der umgebenden Dörfer gehören zu den indigenen Dayak Ngaju, die schon hier lebten, als es auf Borneo weder Straßen noch Plantagen gab. Indem sie ihre uralte Kultur unter Schutz stellen lassen, wollen sie die letzten verbliebenen Wälder retten, von denen sie – und mit ihnen die ganze Welt – abhängig sind. Eine Rückkehr zur Vergangenheit soll die Zukunft der nächsten Generation sichern.
Die tropische Nacht legt sich schnell und undurchdringlich wie eine Decke über die einfachen Holzhäuser. Statt Licht füllt eine Kakophonie von Zikadengezirp, Froschgequake und Geckorufen die Dunkelheit. Staatliche Stromversorgung gibt es hier genauso wenig wie öffentliche Wasserleitungen, eine weiterführende Schule oder einen Supermarkt. Das Wasser kommt aus dem schlammig-braunen Fluss oder einem Brunnen hinter dem Haus. Vor den Holzhäusern auf Stelzen stehen handgeschnitzte Totempfähle, die an die Vorfahren erinnern sollen – ein Zeichen des animistischen Kaharingan-Glaubens, der unter den Dayak Ngaju noch weit verbreitet ist. Offiziell gehören fast zwei Drittel der lokalen Bevölkerung der protestantischen Kirche an.
„Früher drangen nur wenige Sonnenstrahlen durch das Blätterdach des Urwaldes, so dicht standen die Bäume hier“, erzählt Bauer Pesi, der wie viele Indonesier nur einen Namen hat. Der 74-Jährige wuchs noch in einem traditionellen Langhaus auf, in dem seine Familie mit der gesamten Dorfgemeinschaft wohnte. „Wir jagten Hirsche und Wildschweine und sammelten Knollen und Früchte. Damals gab es auch noch viele Orang-Utans, aber die ließen wir in Ruhe. Andernfalls hätten wir die Geister des Waldes gestört.“
Inzwischen sind die Naturgeister nicht nur im Wald gestört. Auch der Fluss ist verschmutzt mit Düngern und Pestiziden. Die Verunreinigungen stammen vor allem aus den umliegenden Plantagen, allerdings auch vom illegalen Goldabbau mit Quecksilber weiter oben am Lauf: „Der Wald und die Natur waren immer unsere Lebensgrundlage. Wenn es die nicht mehr gibt, suchen die Menschen nach anderen Einkommensquellen“, erklärt Pesis Nachbarin Santie. Die 40-jährige Gemüsebäuerin, die alle nur Mama Feri nennen, hat heute für alle gekocht: Wasserspinat und Auberginen vom eigenen Feld, dazu gegrillten Fisch, den ihr Mann am Nachmittag gefangen hat.
Arbeitsplätze versus Selbstversorgung
Die Dayak sind traditionell Selbstversorger. Meist bauen sie Trockenreis oder Gemüse an. Erst in den 1950er-Jahren kam der Nassreis nach Borneo, der allerdings nur in den Ebenen und nach Trockenlegung der Torfmoore gedeiht. Außerdem wurden Kautschuk, Pfeffer und Kakao eingeführt, womit bis heute viele Kleinbauern ihr Geld verdienen. Ihre Pflanzungen werden aber mehr und mehr von großen Palmölfirmen verdrängt. Die Regierung argumentiert, dass die riesigen Plantagen viele Arbeitsplätze schaffen würden. Umwelt- und Menschrechtsorganisationen kritisieren, der Großteil der Arbeiterïnnen komme aus Java und Sumatra oder gar aus dem Ausland, während die Dayak höchstens als Tagelöhner jobben dürfen. Im Gegenzug verlieren mindestens genauso viele Menschen ihre traditionell bewirtschafteten Felder und Gemeinschaftswälder. Diese sorgten bislang nicht nur für Nahrung, Brenn- und Baumaterial, sondern auch für ein gesundes, feuchtes Klima unter der brennenden Äquatorsonne. All das geht durch den Anbau von Ölpalmen verloren: Die aus Afrika stammende Monokultur gedeiht nur dann gewinnbringend, wenn ihre keine anderen Gewächse in die Quere kommen.
An diesem Abend treffen sich die Bewohnerïnnen von Tumbang Mantuhe in ihrem Versammlungshaus mit Mitarbeitenden des Borneo Institute. Dreieinhalb Stunden sind die Menschenrechtsaktivistïnnen aus der Provinzhauptstadt Palangka Raya über holprige, matschige Pisten gefahren – vorbei an schier endlosen Plantagen, die sich lediglich durch die Höhe der Ölpalmen unterscheiden. Die Bäuerïnnen wollen mit darüber diskutieren, was sie tun können, um ihr eigenes Land, ihr Leben vor den Palmölfirmen zu retten.
„Es heißt, unser Regenwald sei die Lunge der Welt. Wie sollen unsere Kinder später atmen, wenn keine Bäume mehr da sind?“ – Mama Feri
Die Menschen in Kalimantan wissen, wie es sich anfühlt, wenn man nicht atmen kann. Kaum eine andere Region des weltgrößten Archipels war in den vergangenen Jahren so stark von menschgemachten Naturkatastrophen betroffen: Überschwemmungen, Erdrutsche – und riesige Feuer. Jedes Jahr brennen die Wälder auf Borneo und der Nachbarinsel Sumatra. 2015 hüllten die schlimmsten Waldbrände der vergangenen 20 Jahre große Teile Südostasiens über fünf Monate hinweg in dichten Rauch. 2,6 Millionen Hektar Land verbrannten, dutzende Menschen starben durch direkte Einwirkung der Feuer. Eine halbe Million mussten wegen Atemwegsbeschwerden behandelt werden. Die indonesische Behörde für Metereologie, Klima und Geophysik bezeichnete die Waldbrände von 2015 als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“: Praktisch alle Feuer in jenem sehr trockenen El-Niño-Jahr waren durch Brandrodung verursacht worden.
Offiziell ist Brandrodung in Indonesien verboten – doch sie bleibt die einfachste und billigste Methode, um den für Ackerbau wenig geeigneten Boden Borneos urbar zu machen. Seit Jahrhunderten praktizieren auch die Dayak diese Art der Landwirtschaft, die im Englischen so plakativ „Slash-and-burn“ genannt wird: Die Bäume werden abgeschlagen und alle Pflanzenreste anschließend abgebrannt. Die Asche wird danach als Dünger verteilt. Nach einigen Jahren des Anbaus darf die Erde wieder so lange ruhen, bis sich die Natur erholt hat, während die Bauern andere Parzellen beackern. Früher hatte jede Gemeinschaft einen kollektiven Wald, der nach einem festgelegten Rotationsprinzip genutzt wurde. Dieser traditionelle Wanderfeldbau schadete Mensch und Natur trotz Brandrodung wenig.
Torfwaldbrände gelten als Klimabombe
Seit sich allerdings Plantagenunternehmen darauf verlegt haben, ihre Flächen im großen Stil abzufackeln, sieht das anders aus. Denn unter Borneos Regenwäldern lagern bis zu zehn Meter tiefe Torfflöze, die zwischen 3.000 und 6.000 Tonnen Kohlenstoff pro Hektar speichern – also mehr als 40mal so viel wie ein Wald in Deutschland. Diese jahrhundertealten Böden aus Pflanzenresten dienen als riesiger Schwamm, um in der Regenzeit überflüssiges Wasser aufzusaugen und dem Wald in der Trockenzeit Feuchtigkeit zu spenden.
Werden diese Schichten trockengelegt oder gar verbrannt, werden riesige Mengen an Kohlendioxid freigesetzt. Tropenwaldexperte Willie Smits von der Masarang Foundation rechnet vor, dass bei der Konvertierung eines Torfwaldes 38 Tonnen CO2 verpuffen, um irgendwo anders mit Biodiesel aus Palmöl eine Tonne davon einzusparen. Oft glühen die Feuerherde noch jahrelang unterirdisch weiter und lodern in jeder Trockenzeit wieder auf. Expertïnnen sprechen von einer Klimabombe, die sich auf die ganze Welt auswirke. Wissenschaftlerïnnen der University of Queensland und der Norwegian University of Life Sciences haben 2018 nachgewiesen, dass es einen engen lokalen Zusammenhang gibt zwischen Entwaldung und steigenden Temperaturen: In Gegenden von Borneo, wo der Wald abgeholzt wurde, war es durchschnittlich 1,7 Grad wärmer als in Waldgebieten, zugleich ging der Niederschlag ohne Wald um mehr als 15 Prozent zurück.
Dennoch dehnt Indonesien seine Plantagen immer weiter aus, vor allem für Ölpalmenanbau. Als weltgrößter Hersteller von Palmöl bestreitet Indonesien zusammen mit Nachbar Malaysia mittlerweile 85 Prozent der weltweiten Produktion. Der größte Teil geht in die Lebensmittel- und Kosmetikindustrie: Jedes zweite fetthaltige Konsumprodukt enthält das meistgenutzte Pflanzenöl der Welt, von Fertigpizza über Brotaufstrich bis hin zu Lippenstift oder Duschgel. Immer mehr Palmöl landet außerdem im Tank. Dass die EU – immerhin der drittgrößte Abnehmer nach Indien und China – inzwischen beschlossen hat, Palmöl bis 2030 nicht mehr in europäischem Biodiesel zu verwenden, hat am rasanten Ausbau der Plantagen in Kalimantan wenig geändert. Denn in China und Indien gibt es keine solche Richtlinien. Und die globale Nachfrage wächst nicht nur bei der Produktion von Biodiesel, sondern auch für Konsumgüter. So hat sich die Fläche der Ölpalmenpflanzungen in ganz Indonesien in den letzten zehn Jahren mehr als verdoppelt: 2020 waren es bereits 15 Millionen Hektar – das entspricht mehr als 40 Prozent der Fläche Deutschlands. Nur ein kleiner Teil dieser Plantagen erfüllt die Nachhaltigkeitskriterien, die die EU übergangsweise für Biokraftstoffe fordert.
Indigene Gemeinden wollen ihre traditionellen Rechte zurück
Besonders problematisch sind die Landnutzungsrechte. Weil sie keine Zertifikate für ihr Land besitzen, haben die indigenen Einwohnerïnnen in Indonesien einen schwierigen Stand gegen die Behörden, die Genehmigungen an die Plantagenunternehmen vergeben. „Die Vergabe von Landnutzungsrechten ist für die Regionalregierung die schnellste Methode, an Geld zu kommen. Das fördert die Korruption“, sagt Yanedi Jagau, Direktor des Borneo Institute. 2014 hat der Oberste Gerichtshof Indonesiens in einem Grundsatzurteil bestimmt, dass traditionelles Gemeinschaftsland nicht automatisch dem Staat gehört. Drei Jahre später hat die Regierung den ersten indigenen Gemeinschaften das Nutzungsrecht für die von ihnen genutzten Land- und Waldflächen übertragen. Mit der Anerkennung als „Desa Adat“ – was in etwa: „Dorf unter traditionellem Recht“ bedeutet – geht die Pflicht einher, die alte Kultur zu pflegen, aber auch das Land produktiv zu nutzen. „Das ist nun unsere Hoffnung“, erklärt Yanto Soupa, Dorfchef von Tumbang Samui.
Seine Gemeinde bildet mit Tumbang Mantuhe und drei weiteren Dörfern den Landkreis Manuhing Raya. Im Norden erhebt sich das mächtige Müller-Schwaner-Gebirge, das sich mit seinen knapp 3.000 Meter hohen Gipfeln mitten durch die drittgrößte Insel der Welt zieht. Hier gibt es noch Urwälder – in Bergregionen wachsen Ölpalmen nicht gut – und auch die ein oder andere Dayak-Kultstätte. Doch die alte Sprache, die Tänze und die sakralen Rituale der Stämme beherrschen nur noch wenige. „Die Dayak können ohne Wald nicht überleben – genauso wenig wie unsere Kultur, die mit den Bäumen verschwindet“, sagt Soepa, der zur braunen Beamtenuniform einen traditionellen Kopfputz trägt. „Als, Desa Adat‘ könnten wir nicht nur unsere Kultur wiederbeleben, sondern auch die Kontrolle über unser Land zurückerhalten“, hofft der 41-Jährige.
Auf einer feierlichen Großversammlung Anfang 2020 haben die Gemeinden von Manuhing Raya gemeinsam beschlossen, dass alle Bewohnerïnnen in einem Referendum darüber abstimmen, ob die fünf Dörfer den Status „Desa Adat“ erhalten sollen. Wochenlang zogen Freiwillige von Haus zu Haus, um allen Stimmberechtigten die Hintergründe zu erläutern und sie zum Referendum einzuladen. „Das war sehr aufregend“, erzählt Mama Feri. „Ich hatte gehofft, dass wir mit der Rückkehr zu unseren alten Traditionen unser Land beschützen könnten. Und keine Angst mehr vor den Palmölfirmen haben bräuchten.“ Doch ihre Euphorie war bald verflogen: Nur 28,4 Prozent der Einwohnerïnnen von Tumbang Mantuhe hatten dafür gestimmt, die Gemeinde in ein „Desa Adat“ zu verwandeln. Mama Feri weinte vor Enttäuschung. Ein Jahr später erzählt sie, dass auffällig viele Nachbarïnnen ihr Land inzwischen an Palmölfirmen verkauft hätten und nun als Tagelöhner in den Plantagen arbeiteten. „Das ist kein Zeitalter der Traditionen, sondern des Geldes“, sagt sie resigniert.
„Wir wollen selbst entscheiden, was für unser Land und die Zukunft unserer Kinder das Beste ist.“ – Yanto Soepa
Im Nachbardorf Tumbang Samui ist die Stimmung nach dem Referendum deutlich fröhlicher, die Zeichen stehen auf Aufbruch: Eine klare Mehrheit hat sich hier für den Status als „Desa Adat“ entschieden. Man wolle ein neues Langhaus bauen, die Kinder sollten wieder rituelle Tänze lernen. Und man wolle zur traditionellen Landwirtschaft zurückkehren – mit Wanderfeldbau, Mischkulturen und natürlichem Dünger, berichtet Dorfchef Sapoe. Aber er zeigt auch Verständnis für diejenigen, die beim Referendum mit Nein gestimmt haben: noch ist unklar, wie viel Land der Dorfgemeinschaft zugesprochen wird. „Viele haben Angst vor Problemen mit der Regierung. Andere wollen nicht rückständig sein und in alte Zeiten zurückfallen. Ihnen müssen wir beweisen, dass wir nicht gegen Fortschritt sind, auch nicht gegen Investitionen. Aber es müssen die richtigen sein – und wir wollen selbst entscheiden, was für unser Land und die Zukunft unserer Kinder das Beste ist“, sagt der zweifache Vater.
Aufgeben ist keine Option
Doch Mama Feri und ihre Mitstreiterïnnen aus Tumbang Mantuhe geben ebenfalls nicht auf. Mit Hilfe von NGOs haben sie ihre Landflächen mit Drohnen vermessen und in ein gemeinschaftliches Register eintragen lassen. Einige Bauern beteiligen sich an einem Wiederaufforstungsprogramm, das einerseits Natur und Klima hilft, sich zu erholen, andererseits von der Regierung als produktive Nutzung anerkannt werden muss. Die Teilnehmer haben sich verpflichtet, keinen chemischen Dünger zu verwenden und ihre Felder nicht mehr abzubrennen. Es hat viel Überzeugungskraft gebraucht, den Bäuerïnnen klar zu machen, dass dies vermutlich die einzige Chance ist, ihr Land zu retten. „Wenn wir uns nicht gegen die Ausweitung der Ölpalmenplantagen wehren, werden wir in Zentralkalimantan am Ende nur noch kahle Erde haben. Ich habe Angst davor, dass wir dann nichts mehr zu essen haben und immer mehr Katastrophen erleben werden“, sagt Mama Feri. „Natürlich denke ich dabei zuerst an meine Familie. Aber auch der Rest des Landes, vielleicht sogar die ganze Welt, wird die Folgen spüren, wenn wir unseren Regenwald nicht beschützen können.“
Dieser Text ist ein Auszug des Kapitels „Die Traditionsbewahrer“ aus dem neuen Weltreporter-Buch „Die Klimakämpfer“.