Die absolut phänomenale Langeweile
Melbourne nach 260 Tagen Lockdown
Der längste Lockdown der Welt, eine Fünf-Millionen-Einwohnerstadt bleibt zu Hause. Und das seit Pandemiebeginn schon mehr als 260 Tage und Nächte. Wie hält ein Mensch das aus? Kurz bevor Victorias Premier Daniel Andrews sein Bundesland und seine Hauptstadt mit einem „Ende des Lockdowns“-Versprechen in freudig-nervösen Aufruhr versetzt, spreche ich mit Drew Stocker, einem High School-Lehrer in Melbourne. Er mietet gerade eine Einzimmerwohnung im sehr urbanen Stadtteil Collingwood und erzählt, wie die Pandemie sein Leben verändert hat – und warum er nicht mehr idyllisch am Wasser wohnt.
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Wenn ich richtig zähle, erlebt Ihr in Melbourne gerade Tag 73 von Lockdown Nummer 6, inklusive einer Ausgangssperre zwischen 21 und 5 Uhr mit strengen „Stay at home“-Regeln – Wie geht’s Dir heute, Drew?
Ich war eben draußen vor der Tür, in der Smith Street, das ist übrigens die Straße, die im Juli vonTime Out zur „coolsten Straßen der Welt“ gekürt wurde. In dieser überlässigen Straße war ich also unterwegs, um meine Lebensmittel einzukaufen. Ich habe auch einen Blick in die Weinbars, Cafés und Restaurants geworfen, in denen ich vielleicht eines Tages wieder mein Geld ausgeben kann. Aber heute ging es wie gewohnt mit Maske nur in den Supermarkt, denn nachher koche ich für meinen Bubble-Freund Abendessen. Wir müssen natürlich vor 21 Uhr fertig sein, denn er muss vor der Sperrstunde zurück nach Hause.
Am Anfang des jetzigen (inzwischen 74 Tage währenden) Lockdowns haben wir uns dreimal die Woche getroffen, aber das war einfach zu viel – wir sind ja kein Paar, sondern nur befreundet. Ach so, zur Erklärung: Jeder Single in Melbourne darf einen sogenannten Bubble-Friend haben, das ist ein Mensch, mit dem man sich trotz Pandemie treffen darf. Aber man muss halt aufpassen, dass man sich nicht gegenseitig überstrapaziert. Meinen derzeitigen Bubble-Freund habe ich früher vielleicht alle 14 Tage gesehen – dreimal die Woche war einfach zu viel. Jetzt haben wir uns auf ein Abend- oder Mittagessen am Wochenende eingependelt und freuen uns die ganze Woche über darauf, einen anderen Menschen zu sehen.
Und wie sah die „coolste Straße“ der Welt vorhin aus?
Es sind wirklich wenig Leute unterwegs, ich habe den Eindruck, dass niemand über 50 mehr auf der Straße ist. Die Fahrradkuriere rasen durch die Straßen und liefern Take-away-Mahlzeiten aus. All die exklusiven Läden, superteuren Metzger und Cocktailbars sind natürlich dicht, nur der Supermarkt ist geöffnet. Wirklich jeder trägt drinnen und draußen Maske.
It is what it is – Diesen Satz kann ich einfach nicht mehr hören!
Für viele Deutsche ist schwer zu verstehen, wie die Menschen diese langen und strikten Lockdowns ertragen. Glaubst Du, dass Australier tendenziell geduldiger oder gehorsamer sind als andere Nationen?
Das Vertrauen in ihre Politiker ist hier ausgesprochen groß. Mein Eindruck ist, Australier sind überwiegend zufrieden damit, wenn jemand ihr Land führt. Sie tun dann halt, was ihnen gesagt wird. Es kann natürlich auch daran liegen, dass eben nur 26 Millionen Australierïnnen hier leben, die sind vielleicht einfacher zu dirigieren?
Einen Satz, der ständig fällt, den ich allerdings nicht mehr hören kann ist „It is what it is“ (Es ist wie es ist) – Motto: Was wir nicht kontrollieren können, können wir ebenso gut akzeptieren. Ja, natürlich ist das bemerkenswert stoisch, aber mir schwingt da zu viel Lethargie mit, es ist irgendwie entmündigend.
Und die Melbournians halten sich wirklich überwiegend an diese strengen Auflagen?
Oh ja, es gibt ein extrem hohes Maß an Leuten, die die Vorschriften genau einhalten. Ich glaube, ich bin in den letzten Monaten nur einer einzigen Person begegnet, die keine Maske trug. Es war mein Immobilienmakler, und er entschuldigte sich auch gleich und erklärte mir irgendein Hautproblem. Sonst kenne ich niemanden, der die Regeln bricht oder überstrapaziert.
Magst Du etwas über Deinen schlimmsten Lockdown-Moment erzählen?
Ich hatte mir diese idyllische Zweizimmerwohnung in einem Vorort am Wasser gekauft: Geräumig, hell, Balkon, nette, ruhige Gegend, die Port Phillip Bay vor der Tür, zur Arbeit 40 Minuten mit der Bahn, zum Ausgehen in der Innenstadt war es ähnlich weit. Also eigentlich ideal, oder? Aber im ersten langen Lockdown vergangenes Jahr (112 Tage bis Oktober 2020) bin ich vor Einsamkeit und Langeweile schlicht eingegangen. Am Anfang war es so wunderbar: die Blumen in den Vorgärten, die Vögel sangen, die Ruhe, die Idylle, die netten hübschen Vorortstraßen – in denen ausschließlich junge Familien und Rentner wohnten. Leider lebten alle meine Freunde jenseits der Fünf-Kilometer Zone, in der ich mich bewegen durfte.
Ich konnte niemanden besuchen, den ich kannte, die Einsamkeit war erdrückend, eine absolut phänomenale Langeweile. Kein Café, kein Mensch, mit dem ich mich austauschen konnte. Ich habe die Wohnung wieder verkauft und mir eine Einzimmerwohnung mitten in der Innenstadt gemietet. Jetzt wohne ich in so einer Art Schuhschachtel, in einer dieser nett dekorierten Wohnungen. Eigentlich sollte das unser Rückzugsgebiet, unsere private Oase sein – durch die Pandemie ist sie zu einer Art City-Gefängnis geworden, in dem wir nicht nur schlafen, essen, unserer Freizeit verbringen, sondern auch arbeiten müssen. Aber wenigstens kann ich hier in der Innenstadt auf die Straße gehen und meine Freunde treffen.
Du bist Gymnasiallehrer, Drew, was macht oder machte der Lockdown mit deiner Arbeit?
Eine Schulklasse lese ich normalerweise in den ersten zwei Minuten: ich weiß, wer präsent ist, wer nervös oder abgelenkt ist und wer arbeiten will. Über Video ist das ungleich schwerer. Dazu kommt, dass wir alle Zoom-müde sind. Vor zwei Jahren haben wir uns Tricks ausgedacht, wie wir die Schülerïnnen davon abbringen können, zu viel Zeit an den Bildschirmen zu verbringen. Ha! Jetzt bin ich froh, wenn sie im Unterricht ihre Kamerafunktion nicht ausschalten.
Verrückterweise haben wir es geschafft, zwischen den diversen Lockdowns unsere Schultheateraufführung zu organisieren: „Der Alchimist“ von Ben Jonson. Ich habe das Stück vom 17. Jahrhundert ins zeitgenössischen Melbourne transportiert. Es war großartig, welche Energie diese Arbeit bei uns allen freigesetzt hat – wenn auch nur vorübergehend.
Ich war aber beeindruckt, wie widerstandsfähig die meisten sind. Inzwischen kann ich es kaum erwarten, wieder mit den Schülerïnnen face to face zu arbeiten. Die Abschlussklasse unterrichte ich schon jetzt wieder in der Schule, das tut extrem gut. Und manchmal fahre ich in die Schule und zoome von dort mit den anderen Jahrgängen, einfach um Hemd, Hose und Jackett anziehen zu müssen, meinen vier Wänden zu entkommen und nicht auf der Couch zu landen. Der Lockdown hat mir den Spaß am Unterrichten aber gründlich vermiest. Ich hoffe, er kommt zurück, ich setzte irgendwie auf die Kids, dass sie mir helfen, zu meinem besten Selbst zurückzufinden.
Jetzt soll der Lockdown auch in Melbourne endlich enden. Gibt es etwas, das Dir Sorgen macht?
Ja, es ist seltsam, aber es liegt tatsächlich eine gewisse Ängstlichkeit in der Luft. Einerseits haben wir glaube ich alle ein bisschen verlernt, wie wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten sollen. Ich kann natürlich kaum abwarten, dass es vorbei ist, ich habe einen Flug nach London gebucht, um meine Mutter zu besuchen, und Tische in drei verschiedenen Restaurants. Aber es ist wirklich auch seltsam, ich denke wir werden unser Sozialleben irgendwie wieder ganz neu aufbauen müssen. Und ich frage mich auch: Wann kommt die nächste Pandemie? Was machen wir, wenn eine neue Variante des Virus kommt, gegen die meine beiden AstraZeneca-Impfungen nicht schützen – geht dann alles wieder von vorne los?