Lebenslang Verbrecher
Polizei-Fotos von Tatverdächtigen sind in den USA allgegenwärtig. Selbst Unschuldige werden von ihren „Mug Shots“ verfolgt. Und damit erpresst.
Thomas T. war mit seinem Leben zufrieden. Als Chef der Schulaufsicht von Kenilworth, einem Bezirk im US-Bundesstaat New Jersey, hatte sich der 42-Jährige einen exzellenten Ruf erarbeitet. Sein Jahresgehalt von knapp 150.000 Dollar lieferte ihm und seiner Familie ein gutes Auskommen.
„Ich habe meinen Job geliebt“, erzählte T. in einem der raren Interviews, die er in den vergangenen Monaten gegeben hat. Denn T. ist heute kein leitender Beamter mehr. Er ist ein Mann, der alles verloren hat: seinen guten Ruf, seinen Job, sogar seine Würde.
Verantwortlich dafür ist, auch das gehört zur Wahrheit, zum Teil er selbst. Während seiner Zeit als Behördenchef joggte T. regelmäßig auf dem Sportplatz einer nahegelegenen High-School. Niemand ahnte, dass ihm bei seinen Runden regelmäßig der sogenannte Läuferdurchfall überkam, offenbar so akut, dass er es nicht mehr bis auf die Toilette schaffte.
Im Mai 2018 wurde T. dabei erwischt, wie er seine Notdurft hinter der Zuschauertribüne verrichtete. Juristisch hatte der Fauxpas für ihn fast keine Folgen: Nach kurzer Zeit im Polizei-Gewahrsam und einem Bußgeld von 500 Dollar war die Sache erledigt.
Doch der eigentliche Horror fing damit erst an, denn die Polizei hatte mehrere „Mug Shots“ des Mannes angefertigt.
Millionen von „Mug Shots“ stehen im Netz
Unter dem Begriff (wörtl.: „Visagen-Aufnahmen“) versteht man Fotos, die bei Verhaftungen gemacht werden. Im Fall von T. gelangten die Bilder ins Internet und lösten dort eine Welle aus Erniedrigung und Häme aus. Landesweit spotteten Medien über den „Flitzer-Beamten“ aus New Jersey; in der Schule wurden seine beiden Kinder gehänselt. Am Ende legte T. sein Amt freiwillig nieder.
Ohne die rasante Verbreitung der „Mug Shots“ wäre dem Betroffenen wohl vieles erspart geblieben. Und nicht nur ihm: Millionen von Amerikanern stehen mit ihren Polizeifotos im Internet. Deren Veröffentlichung hat in den USA eine lange Tradition, weil das Informationsinteresse der Bevölkerung stärker gewichtet wird als die Privatsphäre von Verdächtigen.
Ob jemand wirklich schuldig ist, verraten die Bilder hingegen nicht. Oft genug werden Anschuldigungen vor Gericht entkräftet oder Verurteilte haben ihre Strafe längst abgesessen, während ihre „Mug Shots“ weiterhin abrufbar sind. Mit einer simplen Google-Suche können Freunde, Nachbarn oder Arbeitgeber sie finden – ein Erbe, das Existenzen zerstören kann.
Doch nicht nur die Polizei und traditionelle Medien spielen beim Ausschlachten der „Mug Shots“ eine wichtige Rolle. Während die Strafverfolgungsbehörden die Fotos von ihren Homepages nehmen, sobald jemand seine Strafe verbüßt hat oder freigesprochen wurde, sind kommerzielle Internetportale an diese Vorgaben nicht gebunden.
Die Masche fällt unter die Pressefreiheit
So gibt es in den Vereinigten Staaten unzählige Websites, die nichts anderes machen, als „Mug Shots“ zu veröffentlichen. Damit diese wieder verschwinden, müssen Betroffene heftige Gebühren bezahlen. Meist werden mehrere Hundert, manchmal sogar über tausend Dollar fällig, ohne Garantie, dass die Fotos danach nicht doch wieder auf einer anderen Seite auftauchen.
Obwohl es bei dieser Masche eindeutig ums Geld geht, ist ihr rein rechtlich nur schwer beizukommen. Die Veröffentlichung von „Mug Shots“ fällt in den USA unter die Pressefreiheit, auf die sich die Internetportale auch gerne berufen. Gleich auf der Startseite von Mugshots.com, einer der bekanntesten Websites, beteuern die Betreiber ihren Status als Nachrichtendienst.
„Indem wir die Öffentlichkeit über Verhaftungen informieren, nehmen wir die Behörden in die Pflicht“, heißt es dort. Nur so sei die „humane Behandlung“ von Verhafteten gewährleistet.
Dass die Website über einen Partnerdienst Gebühren verlangt, um Fotos zu löschen, steht dort freilich nicht. Vielmehr präsentieren sich diverse Online-Dienste als unabhängige Anbieter, obwohl es als sehr wahrscheinlich gilt, dass sie mit den Mug-Shot-Websites unter einer Decke stecken.
Die Partnerseiten werben mit dem Versprechen, den „ruinierten Ruf“ von Personen lückenlos wiederherzustellen und online gestellte Polizeifotos innerhalb weniger Tage zu löschen – gegen eine saftige Gebühr, versteht sich.
„Wir müssen die Ausbeutung stoppen“, fordert eine Senatorin
An genau diesem Hebel wollen einige Bundesstaaten nun ansetzen. Statt die Veröffentlichung der Fotos selbst zu verbieten, stellen sie die horrenden Lösch-Gebühren unter Strafe. So trat in New Jersey im vergangenen Jahr ein Gesetz in Kraft, das solche Praktiken als Erpressung wertet.
„Wir mussten diese Ausbeutung einfach stoppen“, sagt Teresa Ruiz, eine demokratische Senatorin, die maßgeblich für das neue Gesetz gekämpft hat. Sie selbst habe lange Zeit gar nichts von der Problematik gewusst, sagt Ruiz.
„Dann hat mir ein Wähler eine E-Mail geschrieben. Er hatte alles richtig gemacht, war längst wieder frei und wurde trotzdem weiterhin an den Pranger gestellt.“
Laut dem neuen Gesetz müssen die Websites die Fotos kostenfrei löschen, wenn jemand vor Gericht freigesprochen wurde oder seine Strafe verbüßt hat. Oft sind die Besitzer der Websites jedoch nur schwer zu ermitteln.
Auch werden die Vorgaben offenbar selbst von der Polizei nicht immer eingehalten. So dürfen in New Jersey keine „Mug Shots“ von Personen veröffentlicht werden, die wegen eines geringfügigen Delikts verhaftet wurden. Warum es im Fall des Schulaufsichtschefs trotzdem geschah, ist unklar.
„Wir wissen nicht, wie gut unser Ansatz funktioniert“, räumt die Senatorin Teresa Ruiz ein. „Bis jetzt haben wir das Gesetz noch nicht evaluiert.“
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