Oberster israelischer Naturschützer: „Jetzt ist die Stunde der Solidarität.“
Der Chef des größten israelischen Naturschutzverbandes, Dan Alon, über das Engagement der Zivilgesellschaft nach dem Terrorangriff der Hamas, die Hilfe aus dem Ausland und die Bedeutung der Natur für die grenzüberschreitende Verständigung.
Dan Alon, 56, ist Geschäftsführer der Society for the Protection of Nature in Israel (SPNI), des größten und ältesten Umwelt- und Naturschutzverbandes Israels. Zuvor stand er viele Jahre lang an der Spitze von BirdLife Israel, dem israelischen Partner des Zusammenschlusses internationaler Vogel- und Naturschutzverbände. Das Time-Magazine ehrte ihn zum Earth Day 1999 wegen seines Engagements für die israelisch-palästinensische Kooperation in seiner Kategorie „Heroes of the Planet“.
Dan, wie haben Sie diesen Samstag, den 7. Oktober erlebt?
Samstagmorgen ist die einzige Zeit in der Woche, in der ich Gelegenheit finde, ein paar Stunden lang ungestört Vögel beobachten zu gehen. Das ist eine Tradition, ja ein Ritual, seit vielen Jahren. Ich hatte gerade auf dem Weg in mein traditionelles Beobachtungsgebiet an einer Tankstelle gehalten, um einen Kaffee zu kaufen – da ging es auch schon los. Zuerst hörte ich ihr Zischen, dann sah ich die Raketen fliegen – und dann gab es auch schon die ersten Einschläge. Nicht ganz nah, aber auch nicht sehr weit entfernt. Wie alle anderen verbrachte ich dann eine Weile im Schutzraum der Tankstelle und entschied mich dann, möglichst schnell zu meiner Familie zurückzukehren. Es war eine Autofahrt von 40 Minuten durch einen Raketenhagel. Aber ich bin heil zu Hause angekommen. Ich hatte viel mehr Glück als viele andere.
Sie tragen auch Verantwortung für viele Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen. Wie sehr sind die Menschen bei SPNI von den Ereignissen des 7. Oktobers und dem seitdem anhaltenden Raketenbeschuss betroffen?
Wir sind stark betroffen, wie alle anderen Teile der Gesellschaft auch. Während wir beide hier am Telefon sprechen, bin ich auf dem Rückweg von einer Beerdigung. Der von Silvia, der Schwester meiner Assistentin. Sie hat im Kibbutz Be'eri gelebt, einem der Orte, die die meisten Opfer des Hamas-Massenmordes zu beklagen haben. Silvia wurde zehn Tage lang vermisst – schrecklich, aber es gab Hoffnung. Vor zwei Tagen wurde ihre Leiche gefunden. Sie ist eine von vielen. Ich kann nicht einmal zu allen Beerdigungen gehen – es sind zu viele gleichzeitig. Vier Naturführer, die ehrenamtlich für uns gearbeitet haben, sind als Soldaten am 7. Oktober getötet worden, als sie den Menschen während des Überfalls zur Hilfe kommen wollten. Der Sohn eines unserer Leute im Norden Israels ist ermordet worden – ich könnte die Liste fortsetzen. Hier herrscht eine tiefe, tiefe Traurigkeit.
Wird im SPNI-Hauptquartier überhaupt gearbeitet, in so einer Situation?
Wir als Management-Team arbeiten. Den Mitarbeitenden haben wir das natürlich freigestellt. Viele müssen zu Hause sein, um ihren Familien beizustehen. Viele sind als Reservisten bei der Armee, Männer und Frauen – und der andere Familienteil muss bei den Kindern bleiben, denn seit dem 7. Oktober sind Schulen und Kindergärten geschlossen. Das ist der Alltag im Krieg. Neben anderen grauenhaft-normalen Dingen, die in so einer Situation zu erledigen sind: Beerdigungen organisieren zum Beispiel. Gleichzeitig gibt es aber auch viele Menschen, die sich gerade jetzt bei uns melden, um ihre Hilfe anzubieten. Wer kann, hilft dem anderen. Das ist bei uns in der SPNI so, das ist aber auch in der ganzen Gesellschaft gerade so. Es gibt eine riesige Welle der Hilfsbereitschaft in ganz Israel, das ist einer der ganz wenigen Lichtblicke in diesen dunklen Tagen.
Israels Botschafter in Deutschland, Shimon Stein, hatim RiffReporter-Interviewvon einer Sternstunde der Zivilgesellschaft gesprochen, die Israel mitten in der schlimmsten Terror-Katastrophe seiner Geschichte erlebe. „Die Bürger sind aufgestanden und haben die Rolle der Regierung und der Verwaltung fast komplett in allen Lebensbereichen übernommen. Wo man es sich nur vorstellen kann, ist die Zivilgesellschaft in vollem Einsatz. Dagegen war die Regierung mit ihren 30 Ministerien nicht zur Stelle, als man sie in der Stunde Null am meisten brauchte“, sagte er. Was tut die SPNI als tief in der Zivilgesellschaft verwurzelte Organisation derzeit?
Direkt nach dem dem 7. Oktober haben uns viele Anrufe von Menschen erreicht, die ihr Zuhause verlassen mussten: wegen des anhaltenden Dauerbeschusses mit Raketen aus dem Gazastreifen, weil ihre Häuser durch Raketen oder den Terror-Überfall zerstört sind – oder, weil sie mit ihren traumatisierten Kindern nicht an den Orten bleiben können, an denen sie unbeschreibliche Gräueltaten mit angesehen haben. Sie müssen sich das so vorstellen: Aus Heimat sind an diesem schwarzen Samstag Orte geworden, an denen Blut, Horror und Zerstörung allgegenwärtig sind. Dort können viele nicht bleiben. Wir haben deshalb sofort gehandelt und unsere Field-Study-Center in Unterkünfte für diese Familien umfunktioniert.
Field-Study-Center, das sind Einrichtungen, die am ehesten mit Bildungszentren oder Jugendherbergen verglichen werden können, in denen zu normalen Zeiten Umweltbildung und Forschung stattfindet, wo Menschen aber auch im Urlaub oder bei Wanderungen übernachten können. Was tun Sie dort?
Die Familien kommen für fünf Tage zu uns. Während dieser Zeit betreuen wir sie rundum und versorgen sie mit allem, was sie brauchen. Natürlich Unterkünfte und Essen, aber auch alles andere: Für die Kinder haben wir umweltpädagogische Programme, damit sie sich in und mit der Natur etwas erholen können und damit beginnen können, ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Was viele dieser Kids erlebt haben, wird ihr Leben für immer verändern. Das sieht man, wenn man ihnen in die Augen blickt. Was wir tun können ist, ihnen eine erste Atempause nach dem Horror zu verschaffen und sie moralisch zu unterstützen. Und natürlich entlasten wir damit auch die Eltern, die nicht minder Grauenvolles erlebt haben.
Der Bedarf ist immens. In Medienberichten ist die Rede davon, dass 400.000 Menschen in Israel quasi Binnenvertriebene sind. Die Urlauberstadt Eilat am Roten Meer plant offenbar sogar, eine Zeltstadt für die Evakuierten zu errichten. Ist da eure Hilfe mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein?
Auch in Eilat haben wir ein Field-Study-Center, das wir geöffnet haben. Wir haben bisher mehr als 200 Familien helfen können. Ja, das ist angesichts des Ausmaßes der Not ein Tropfen auf den heißen Stein: aber erstens zählt jeder Tropfen, um ein Glas zu füllen und zweitens arbeiten wir nach Kräften daran, noch mehr tun zu können. Denn die Regierung selbst evakuiert bisher nur die Orte, die unmittelbar am Gazastreifen liegen – die allererste Linie entlang der neuen Front. Ganze Städte – Sderot, Aschkelon, Ofakim, die auch nur fünf, sechs oder sieben Kilometer entfernt sind – sind auf sich selbst gestellt.
SPNI lebt unter normalen Bedingungen von Kursen an Schulen, geführten Wanderungen und Studienreisen. Diese Einnahmen dürften weggebrochen sein. Wie sehr ist Geld jetzt ein Problem?
Alle Einnahmen fallen natürlich in den Kriegszeiten weg. Gleichzeitig hat uns die Öffnung unserer Zentren schon in den ersten beiden Wochen mehr als eine Million Schekel (über 200.000 Euro) gekostet. gekostet. Wir können einen Teil der Kosten aus den Mitteln decken, die wir über unsere Spendenkampagne bekommen.
Kann die finanzielle Belastung durch die fehlenden Einnahmen bei gleichzeitig explodierenden Kosten die SPNI in eine existenzielle Bedrängnis bringen?
Wenn wir bis zum Jahresende ein Ende des Krieges erleben, werden wir das schaffen. Wenn die Situation auch 2024 anhält, wird es eng. Aber da sind wir noch nicht. Jetzt geht es darum weiterzumachen.
Sie haben einenSpendenaufruf an Unterstützerinnen und Unterstützerdes Naturschutzes international gestartet. Wie ist die Resonanz bisher?
Wir bekommen vor allem aus den USA und Kanada viel Unterstützung. Ich bin aber auch sehr gerührt davon, dass auch viele Israelis in dieser Situation die Kraft finden, uns zu unterstützen.
Auch aus Europa, aus Deutschland, kommen viele Menschen in jedem Jahr nach Israel – nicht zuletzt wegen der Natur. Wie sieht es mit Hilfe von hier aus?
Auch dort haben wir einige Freunde, die uns helfen.
Das ist keine sehr ausführliche Antwort …
Ich möchte eigentlich nicht sehr viel dazu sagen, aber vielleicht soviel: Ich weiß, dass viele Menschen gerade in Europa ein zwiespältiges Gefühl mit Blick auf die politische Lage im Nahen Osten und den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern haben. Aber hier geht es nicht um Politik. Am 7. Oktober hat eine Gruppe schrecklicher Terroristen 1400 Menschen auf die bestialischste Weise getötet, die man sich vorstellen kann und ein ganzes Land, eine ganze Region, in eine furchtbare Krise geworfen. Jetzt ist die Zeit, Menschlichkeit zu unterstützen – und ja, auch die Zeit unsere Arbeit für Menschlichkeit zu unterstützen – es geht hier nicht um Politik. Jetzt ist die Stunde der Solidarität.
Wo wir nun aber doch über Politik sprechen: Wie sieht es innerhalb der SPNI mit gesellschaftlicher Diversität aus?
Wir sind stolz auf unsere Vielfalt in der SPNI. Ungefähr 20 Prozent unserer Leute sind arabischer Herkunft: Muslime, Christen, Drusen, Beduinen. Wir arbeiten sehr stark in der arabischen Gemeinde Israels, wir sind sehr stolz darauf und wir werden es weitermachen. Es geht hier nicht um Religion, wir arbeiten für die Menschen, die hier leben – und für die Natur.
SPNI war immer eine starke Kraft in der israelischen Gesellschaft auf der Seite des Friedens und der Kooperation mit seinen arabischen Nachbarn. Was wird aus diesen Projekten?
Wir haben Kooperationen mit Menschen in den Palästinensischen Autonomiegebieten, mit Jordanien und zuletzt mit Marokko und anderen Staaten. Wir werden das weitermachen, so gut wie möglich.
Haben Sie Beispiele für grenzüberschreitende Projekte?
Gerade vor wenigen Monaten haben wir das Projekt eines grenzüberschreitenden Feuchtgebietes zwischen Israel und Jordanien gestartet. Im Jordantal, einem der wichtigsten Drehscheiben des Vogelzugs zwischen Europa und Afrika, wollen wir gemeinsam ein sehr bedeutendes Rastgebiet für Vögel vergrößern und damit gleichzeitig einen Beitrag zum natürlichen Klimaschutz leisten. Und natürlich gibt es seit langem das internationale Projekt von Yossi Leshem zur biologischen Schädlingsbekämpfung durch den Schutz der Schleiereule. Dort arbeiten Palästinenser, Jordanier, Marokkaner und Israelis Hand in Hand – ein wirkliches Vorzeigeprojekt für Naturschutz als Weg zur Verständigung.
Kann Naturschutz eine Kraft des Friedens sein?
Davon bin ich fest überzeugt. Natur verbindet uns alle. Gleich, welcher Nationalität, Religion oder Hautfarbe wir sind: Natur ist der Ort, an den es uns zieht, wenn wir traurig sind; an den wir gehen wenn wir glücklich sind. Alles, wofür und wovon wir leben, hat mit Natur zu tun. Und Natur kennt keine Grenzen. Zugvögel wissen das, wir sollten es auch lernen. Ich bin überzeugt, dass Natur Teil der Lösung sein kann.