Oscars 2022 – Interview mit Encanto-Komponistin Germaine Franco
Die Latina macht Geschichte in der Filmmusik
Germaine Franco könnte am Oscar Abend Geschichte machen. Und ausgerechnet jetzt entscheidet die Akademie, diesen Preis aus der Live-Übertragung zu kürzen.Im Interview sprach die Komponistin darüber und über ihren Weg zu den Oscars
Die Vorreiterrolle ist gleichzeitig aufregend und eine große Verantwortung
Sie sind die erste Latina, die in der Oscar-Kategorie beste Filmmusik nominiert sind. Sie sind die erste Frau überhaupt, die die Musik zu einem Disney-Zeichentrickfilm geschrieben hat. War Ihnen das alles bewusst, während Sie an Encanto gearbeitet haben?
Nein, wenn ich arbeite, konzentriere ich mich ganz auf die Musik. Zum Glück. Ich versuche immer, meinem Team mein Bestes zu geben. Ich möchte einfach so kreativ wie möglich sein. Es ist die größte Belohnung für mich, dass mir Menschen schreiben: Wir haben den Film zwanzig Mal gesehen, und meine Tochter weiss jedes Wort. Es ist für mich das größte Geschenk, dass Zuschauer den Film und die Musik mitten in einer Pandemie genießen und dass wir ihnen das Leben für ein paar Momente leichter machen können. Erst rückblickend ist mir richtig klar geworden, welche Vorreiterrolle ich habe. Inzwischen bin ich sehr stolz darauf, weil mir viele Mädchen und junge Frauen schreiben, dass ich sie inspiriere. Das ist aufregend und gleichzeitig eine große Verantwortung, dass ich ihnen auch wirklich Türen öffne.
Der Auftrag, den Sie von Disney bekamen, hatte drei Vorgaben: Erstens: keine traditionelle Disney-Musik. Zweitens: kolumbianische Rhythmen. Drittens: magischer Realismus. Als Sie das hörten, wussten Sie da gleich, wie sich das anhören würde?
Oh nein, ich habe monatelang mit Tönen, Themen und Instrumenten experimentiert. Es gab diesen Sound ja noch nicht. Wir wollten etwas ganz Neues. Nicht die ganze Zeit ein riesiges Orchester wie oft bei Disney-Filmen. Wir wollten etwas Intimeres und nur in wenigen Momenten das ganz große Theater. Ich habe mir viele kolumbianische Instrumente schicken lassen, auf ihnen gespielt und das aufgenommen. Dann habe ich Effekte und Musik, die ich schon vorher komponiert hatte, dazu gemischt.
Für die Filmmusik trotz Pandemie in fremde Kulturen eintauchen
Normalerweise reisen Sie gerne und tauchen ein in die Kulturen, in denen die Filmcharaktere leben. Diesmal ging das nicht wegen der Pandemie. Wie haben Sie sich beholfen?
Ich habe stundenlang kolumbianische Musik gehört, Dokumentarfilme angeschaut, Geschichtsbücher gelesen und Bücher, die in magischem Realismus geschrieben sind. Dann habe ich unabhängig vom Film Musik geschrieben. Die kolumbianischen Instrumente habe ich dabei nicht nur traditionell eingesetzt, sondern mir erlaubt, damit zu experimentieren.
Ein Konzert hier in Los Angeles war auch wichtig, wenn ich das richtig gehört habe.
Ja, das war eine Woche bevor wir mit den Aufnahmen begonnen haben. Ich habe (den kolumbianischen Singer-Songwriter) Carlos Vives gesehen. Er hatte eine ganze Band aus Kolumbien dabei, und afro-kolumbianische Background-Sängerinnen. Es war fantastisch. Kaum jemand hielt es auf den Sitzen. Auf der Heimfahrt habe ich gedacht Wir brauchen die Stimmen dieser Sängerinnen und beim Studio angefragt, ob das möglich ist. Sie haben ja gesagt, und eine Woche später haben wir eine Online Session gemacht. Ihr lebhafter Sound hat dem Song seine wahre Stimme gegeben.
Ihr Weg von der Schlagzeugerin und Klavierspielerin in El Paso in Texas an der Grenze zu Mexiko hat Sie über eine eigene Jazzband, das Studium der klassischen Musik und viele musikalische Abenteuer auch nach Berlin gebracht. Wie kam das?
Ich war da mit dem Weltorchester zum 750. Jahrestag von Berlin, 1987, Ich habe es geliebt. Das Brot, das Essen und natürlich die Musik. Wir haben Konzerte gegeben. Danach bin ich in die Jazzclubs und Salsa-Bars gegangen. Da habe ich fantastischen Latin Musikern zugehört. Es war wunderbar.
Sie haben noch eine andere Verbindung zu Deutschland, über den Komponisten Hans Zimmer, richtig?
Ja, Hans ist mehr als ein Kollege. Er ist ein Freund und ein Mentor. Ich habe ihn über John Powell kennengelernt, mit dem ich mehr als zehn Jahre zusammengearbeitet habe. Ich war dabei, als er Musik zu Kung Fu Panda komponiert hat. Als ich mich selbständig gemacht habe, hat Hans mir einen Film gegeben. Das war eine tolle Geste. Ich habe ein paar Monate lang ein Studio bei ihm gehabt. Es war der Film Dope und wurde ein großer Erfolg beim Sundance Festival. Das hat mir sehr geholfen.
Enttäuscht über die Entscheidung der Oscar Akademie – aber es gibt Wichtigeres
Jetzt sind Sie beide für einen Oscar nominiert.
Das ist eine große Ehre. Ich bewundere Hans, weil er immer wieder neue Sachen ausprobiert. Und seine Musik zu Dune ist einfach exquisit. Überhaupt, dass ich nominiert bin, ist eine große Ehre. Ich bin erst seit sechs Jahren Mitglied der Oscar Akademie zusammen mit all diesen ausgezeichneten Komponistinnen und Komponisten. Dass sie mich unterstützen, bedeutet mir sehr viel. Es zeigt mir, dass sie meine Arbeit wichtig finden, dass sie ihnen gefällt. Das ist sehr befriedigend. Und eine Oscar-Nominierung ist natürlich etwas ganz Besonderes.
Und nun wurde ausgerechnet die Musik-Kategorie mit sieben anderen aus der Live-Übertragung gestrichen. Was halten Sie davon?
Natürlich waren alle Künstlerinnen und Künstler, die das betrifft, sehr enttäuscht, als wir das gehört haben. Und überrascht. Ich war überrascht. Ich hoffe, dass wir wenigstens alle zusammen im selben Raum sind und gemeinsam feiern können. Ich möchte mit meinem Team zusammen die Aufregung dieses Moments spüren. Ich wünschte, das Produktionsteam würde die Entscheidung zurücknehmen. Aber es gibt derzeit Wichtigeres auf der Welt
Gibt es etwas, was Sie gerne sagen möchten, sollten Sie einen Oscar bekommen?
Ja, dass Musik uns ein Gefühl der Zusammengehörigkeit gibt. Dass Musik eine Sprache ist, die heilt. Dass sie in jeder Kultur, egal welche Sprache wir sprechen, Gemeinschaft schafft und uns verbindet und dass wir mehr davon brauchen.
Vielen Dank, Germaine. Herzlichen Glückwunsch zur Nominierung und viel Glück.