Alzheimer in Katalonien: Die vergessene Generation
In Katalonien stirbt heute jeder zehnte Pflegebedürftige ohne Unterstützung vom Staat
Aus dem Angebot der RiffReporter-Koralle Berichte aus Spanien
Gebetsmühlenartig wiederholt die spanische Regierung unter Ministerpräsident Rajoy seit Jahren, dass es dem Land nach der Krise wieder besser gehe. Bei den Menschen ist von einem Aufschwung aber wenig zu spüren. Laut einer jetzt veröffentlichten Studie stirbt in Spanien heute jeder zehnte Betreuungsfall, ohne je auch nur einen Cent vom Staat gesehen zu haben. Besonders hart trifft es die Region Katalonien, der seit dem Jahr 2012 Gelder vorenthalten werden. Viele Menschen sind komplett auf sich alleine gestellt.
„Mein Traum ist es, einmal den Jakobsweg entlang zu wandern. Das will ich unbedingt machen, bevor ich sterbe, “ erzählt mir die Spanierin Neus Costa Bugallo vor laufender Kamera für meinen Dokumentarfilm „Alzheimer – Die Truhe der Erinnerung“. Sie fügt hinzu: „Ich weiß nur noch nicht, wann das sein wird, “ und fängt an zu weinen.
Nieves ist 54 Jahre alt und hat eine langwierige Behandlung von Brustkrebs hinter sich. Sie hatte sich kaum von der Strahlentherapie erholt, als die Nachricht eintrifft, welche die nächsten Jahre für sie prägen wird. Bei Emérita, der Mutter ihres Ehemanns Amadeu, wurde Alzheimer diagnostiziert. Die 80-jährige lebte bis dahin alleine auf ihrem Gehöft in einem kleinen Bergdorf in Galizien unweit der Atlantikküste. Dort ist eine Pflege der Großmutter unmöglich, die beiden anderen Söhne der einst so strengen Frau haben dankend abgewunken.
Die Großmutter pflegen möchte keiner, also erbarmt sich Amadeu. Amadeu war einst aus der verarmten Region Galizien weggegangen. Er sah dort keine Zukunft für sich und seine Kinder. Es zog ihn in die wirtschaftlich stärkere Region Katalonien, wo er schließlich eine neue Heimat findet. Es fällt ihm nicht schwer, sich in dieser neuen Heimat zurechtzufinden. Auch die neue Sprache, das Katalanische, wird alsbald verinnerlicht, so dass sich im Hause der Familie bald ein buntes Gemisch aus Sprachen ergibt, die abwechselnd gesprochen werden. Nieves und Amadeu sprechen in alter Tradition untereinander Galizisch, mit den Kindern sprechen sie Katalanisch und Spanisch. Keiner hat ein Problem damit.
Und schließlich kommt auch die Oma aus Galizien dazu, die Amadeu mit dem Auto herholt, 1500 Kilometer hin und wieder zurück. Auf dem Hof der Familie gibt es viele Tiere. Hunde, Katzen, Hühner, Hasen und ein Pony. Da wird doch für Emérita noch Platz in unserem Haus sein, sagt sich Amadeu. Er will die unterschwelligen Furcht, dass seine Mutter alleine und verwirrt irgendwo in den galizischen Bergen stirbt, weil sie einfach den Heimweg vergessen hat, nicht akzeptieren.
Doch für die Familie entwickelt sich die Heimpflege schnell zum Problem, trotz allen guten Willens. Einer muss immer bei der Oma bleiben, längere Zeit alleine lassen konnte man sie nur zu Anfang ihrer Krankheit. Alzheimer ist eine Krankheit, bei der die Lebensuhr für den Betroffenen progressiv abläuft. Gnadenlos. Zu spüren bekommt das die Familie nach und nach, Schritt für Schritt. Waren anfangs noch gemeinsame Ausflüge mit der Oma möglich, wird es mit der Zeit immer schwieriger, die alte Frau beim Laufen zu unterstützen. Alles fällt ihr schwerer, alle lebenswichtigen Fähigkeiten gehen ihr verloren.
Besonders leidet ihr Sohn Amadeu darunter, weil unweigerlich der Moment kommt, an dem die Mutter sich nicht mehr daran erinnert, dass sie einen Sohn hat. „Das ist sehr hart“, sagt Amadeu.
Er hat sich zum Heimpfleger fortgebildet, so gut es eben geht. Niemand ist darauf vorbereitet, einen dementen Menschen zu pflegen, der eine 24-Stunden-Betreuung nötig hat. Das richtige Halten, das richtige Liegen, das Wechseln der Windeln, alles muss erst gelernt werden. Vieles im Haus muss an die Bedürfnisse der Situation angepasst werden. „Und das ist nur der praktische Teil“, sagt Amadeu. „Viel schwieriger ist die emotionale Komponente. Schließlich ist es deine Mutter, der du die Windeln wechseln musst.“
Der Spanier Amadeu hat sich selbst zum Heimpfleger fortbilden müssen.
So wie Neus und Amadeu geht es in Spanien vielen Familien. Nicht alle haben das Glück, über einen kleinen Hof zu verfügen. In Deutschland würde man es einen Biohof nennen, die beiden sind Selbstversorger. Das spart Geld, macht aber zusätzlich viel Arbeit. Und sie haben noch aus einem anderen Grund Glück gehabt, wenn man so will. Die Krankheit ist bei Emérita zu einem Zeitpunkt diagnostiziert worden, als die Krise in Spanien ganz am Anfang stand. Damals bekam man von der autonomen Region Katalonien noch ein Betreuungsgeld, genau 450 € im Monat. Dann kamen die Kürzungen. Emérita bekam nur noch einen Zuschuß von 345 € im Monat.
Etwa ab dem Jahr 2012 änderte sich in Spanien dann alles. Die Regierung in Madrid setzte drastische Sparmaßnahmen um. Die Folgen berschreibt ein Bericht der „Staatlichen Beobachtungsstelle des Pflegewesens“. Danach sind im vergangenen Jahr 38.000 pflegebedürftige Personen mit einem amtlich bestätigten Anrecht auf Pflegegeld verstorben, ohne jemals die ihnen zustehende Unterstützung erhalten zu haben. In Spanien sind zurzeit über 300.000 Menschen pflegebedürftig ohne, dass der Staat irgendetwas für sie täte. Am härtesten trifft es die Region Katalonien und die Kanaren.
José Manuel Ramírez, Präsident der Vereinigung, die den Bericht erstellt hat, verurteilt die hohe Zahl der Pflegebedürftigen ohne diese finanzielle Unterstützung. Das den Regionen entstandene Loch in den Pflegekassen habe sich durch Nichterfüllung der Leistungspflicht des Staates seit 2012 auf 2,7 Milliarden Euro vergrößert.
„Das ist äußerst schwerwiegend: Die Regierung Rajoy hat die Pflege mit unbarmherzigen Kürzungen erstickt, “ klagt Ramírez. Aus dem Etat des vergangenen Jahres seien 44 Millionen Euro unbegreiflicherweise übrig geblieben. Wie auch schon in den Vorjahren zeigt der Bericht erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen autonomen Regionen in Spanien. Demnach wird eine pflegebedürftige Person am meisten und besten in Kastilien und León unterstützt, am wenigsten und schlechtesten auf den Kanarischen Inseln. In Katalonien ist der Anteil der auf das Pflegegeld wartenden Personen mit 37 Prozent am größten, dicht gefolgt von den Kanaren mit knapp unter 37 Prozent.
Die Bevorzugung lässt sich erklären durch die Nähe verantwortlicher Regierungspolitiker in Madrid zu eben diesen Regionen.
Diese Daten waren in der Öffentlichkeit bis jetzt wenig bekannt, auch wenn die daraus resultierenden Ungerechtigkeiten durch die Bevorzugung bestimmter in Zentralspanien gelegener Regionen schon seit Jahren zu viel Verdruss führt. Die Bevorzugung lässt sich indes leicht erklären durch die Nähe der verantwortlichen Regierungspolitiker in Madrid zu eben diesen Regionen. Das macht nun auch für Außenstehende die Unabhängigkeits-Bestrebungen der Katalanen leichter verständlich.
Amadeu, der seine kranke Mutter zuhause pflegt, engagiert sich seit Jahren gemeinsam mit den Aktivisten der Bürgerinitiative PAH (Plataforma de Afectados por la Hipoteca) für Menschen, die von Zwangsräumungen bedroht sind. „Für die Rettung von Banken ist genügend Geld da, “ sagt er, „Einen Flugzeugträger kann sich Spanien kaufen. Seit Bekanntwerden der Korruptionsskandale wissen wir, wer sich hier in diesem Land am meisten bereichert. Das spanische Königshaus hat sich erst kürzlich das Taschengeld erhöht. Aber für Pflegebedürftige ist kein Geld da. Das ist die Demokratie in Spanien!“
„Der Konflikt mit Katalonien ist nichts weiter als eine Ablenkung von den wahren Problemen, die das Spanien der Partido Popular (Anm. d. Autors: Die Partido Popular -PP- ist die Regierungspartei) hat. Denk mal darüber nach!“ gibt er mir zur Antwort. Zum Schluss möchte er noch wissen, ob es in Deutschland Betreuungsgeld gibt. Ich bin unsicher, weil ich mich in diesem Bereich nicht genau auskenne: „Das ist gestaffelt je nach Pflegestufe, “ laviere ich mich um eine präzise Antwort herum – und verspreche ihm, es im Internet zu recherchieren.
Wem es so geht wie mir und sich interessiert, hier ist der Link.