Was kann Afrika Deutschland über die Nachhaltigen Entwicklungsziele lehren?
Deutschland muss seine Ansätze für Nachhaltige Entwicklungsziele überdenken, fordern afrikanische Expertïnnen. Wir stellen Lösungen aus Afrika vor – und diskutieren sie mit einer afrikanisch-deutschen Community.
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Im April 2017 warb eine Hochglanzbroschüre damit, wie das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) durch seine Grünen Innovationszentren (GIZ) Kleinbauern in einem Dutzend afrikanischer Länder hilft. Die Publikation zeigte einen Mann, der eine Kuh melkt, eine lächelnde Frau, die einen Traktor fährt, eine andere untersuchte derweil eine Kartoffel. Der damalige Minister Gerd Müller erschien im Anzug auf der Titelseite und hielt mit den Bauern Händchen. Seit 2014 waren da schon rund 266, 5 Millionen Euro an Steuergeldern für die GIZ veranschlagt worden.
Anfang 2018 aber tauchte eine andere Geschichte über die GIZ auf, und zwar aus Sambia.
In Mfuwe, einem Gebiet, in dem der rege Chili-Handel zufällig begann, als die Bewohner das Gemüse als Abschreckung gegen Elefanten pflanzten, beschwerten sich die Bauern. Die Gewinne, die sie mit dem GIZ-Projekt erreichten, lagen weit unter einem existenzsichernden Lohn: „Wir werden betrogen, wir werden benachteiligt…Wir können nicht entscheiden, zu welchem Preis wir verkaufen“, berichteten sie der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die dortigen Forscher glaubten auch nicht, dass das deutsche GIZ-Projekt sein Ziel, den Hunger zu bekämpfen, erreichen würde. Warum? Informelle Marktkanäle würden ignoriert und man dränge auf eine kommerzielle landwirtschaftliche Entwicklung, die Massenexporte begünstigt und daher nur einigen wenigen Bauern zugutekommen würde.
Derzeit ist noch unklar, wie viele der 70.000 sambischen Landwirte im Rahmen des GIZ-Projekts ein höheres Einkommen erzielt haben. Gesichert ist hingegen, dass die Mittel weiterhin aus deutschen Taschen fließen werden, da dieses Programm in mehreren Ländern bis 2026 fortgesetzt wird.
Der Blick von außen geht oft in die falsche Richtung
Aishatu Ella-John, Leiterin der Abteilung Umwelt- und Klimamaßnahmen beim Clean Energy Technology Hub in Nigeria, meint, es sei ein grundlegendes Problem, dass die Absichten der Geber oft nicht mit den Bedürfnissen der Begünstigten übereinstimmten. Sie erlebte dies selbst bei der Umsetzung eines Programms für kostenlose HIV- und Tuberkulose-Medikamente.
„Man nahm an, dass arme Menschen, die sich keine Medikamente leisten können, alles tun würden, um so schnell wie möglich an die Medikamente zu gelangen“, sagt sie. „Aber sie hatten ein Problem damit, dass die Medikamente kostenlos waren. Diese Menschen fragten sich, warum jemand einfach so kostenlose Medizin anbieten würde; was steckte dahinter?“ Andere glaubten, Tuberkulose sei etwas Spirituelles, das nur von traditionellen und religiösen Heilern geheilt werden könne. „Wir sprachen mit Kirchen, traditionellen Heilern und Moscheen in den Gemeinden und klärten sie über die Gefahren der Unterbringung von Tuberkulose-Patienten auf“, so Ella-John. „Wir konnten sie überzeugen. Anstatt Patienten aufzunehmen und zu behaupten, sie zu heilen, schickten sie sie nun zu uns. Unser Ansatz der Behandlung ist ein gemeinschaftlicher: Freiwillige und Unterstützer besuchen die Patienten zu Hause, begleiten sie zu den Treffen der Selbsthilfegruppen und gehen alle zwei Wochen mit ihnen ins Krankenhaus.“
Was könnte den Menschen wirklich helfen?
Ella-John ist eine von mehreren Hilfskräften, Betroffenen und Bürgern in Deutschland und verschiedenen Ländern Afrikas, die derzeit ihre Ansichten mit uns teilen – über eine Online-Community, die wir mit einem Tool namens „100 eyes“ eingerichtet haben. Sechs Monate lang werden wir uns mit dieser Community austauschen.
Oft wird über den Entwicklungssektor nur aus der Perspektive von Regierungen berichtet, sei es deren Handeln oder deren Tatenlosigkeit. Wir wollen die Berichterstattung erweitern, indem wir eine Gemeinschaft schaffen, in der Menschen aus Afrika und Deutschland ihre Gedanken darüber austauschen können, was Schlagworte wie „nachhaltige Entwicklung“ bedeuten oder was ihrer Meinung nach den Gemeinden am besten helfen würde – nicht nur in Afrika, sondern auch in Deutschland. Was können wir voneinander lernen? Die Mitglieder dieser Community sind bereits sehr ehrlich zu uns gewesen.
„Die SDGs werden oft als ein UN-Programm angesehen. Es scheint eine völlige Entkopplung zwischen den Zielen und ihrer Relevanz für die Menschen.“ – Stanley Achonu, Nigeria Landesdirektor, ONE Campaign
„Es wird nicht wirklich mehr getan, um die Informationen zu verbreiten, insbesondere an die Basis, also die Armen der Armen. Und auch einige Leute an der Spitze haben, wenn ich ganz offen sein darf, überhaupt keine Ahnung, worum es bei den SDGs geht.“
– Joy Eke, Erzieherin in Ausbildung, Reutlingen, Deutschland
„Mein Vater versteht nicht, was die SDGs bedeuten, obwohl sich meine Arbeit seit acht Jahren um sie dreht.“ – Chibuike Alagboso, NRO Manager, Nigeria
„Die Menschen müssen eine saubere Umwelt und sauberes Wasser sehen und nicht nur von den Zielen hören. Die Umsetzung und die Auswirkungen werden mehr als alles andere für die SDGs sprechen.“ – Aishatu Ella-John, Direktorin (Bereich Klimawandel)
„Es wäre besser, die Menschen einzubeziehen und ihnen wirklich beizubringen, was die SDGs sind, abgesehen von den bunten UN-Logos. Sie müssen als Kultur und Denkweise verstanden werden und nicht als Aufzählungspunkte auf einer Checkliste.“ – Nour Trabelsi, Studentin, Nordafrika
„Die nachhaltigen Ziele geben die Richtung vor, auf die sich die Welt konzentrieren sollte… Die armen Länder kämpfen weiterhin mit der Korruption der Staatsoberhäupter, was die Umsetzung der SDGs unmöglich macht, weil sich keiner dieser Menschen um die Bekämpfung der Armut, die Arbeitslosigkeit oder die Gleichstellung der Geschlechter kümmert, sondern nur darum, ihre Taschen zu füllen.“ – Lindiwe Matlali, Start-up-Gründerin
„Die SDGs sind eine heikle Sache. Sie setzen einen Standard für jedes Land: Das ist oft unrealistisch und ungerecht. Die Maßnahmen sind in gewissem Maße auf den globalen Norden ausgerichtet. Sie vertreten die Ansicht, dass Entwicklung bedeutet, wie der globale Norden zu sein.“ – Wallace Chigona, Professor, Universität von Kapstadt
Nachhaltige Entwicklungsziele (SDGs): Mehr als nur Schlagworte?
Um ein gemeinsames Verständnis von Entwicklung und Entwicklungshilfe zu erreichen, unterzeichnen Regierungen oft Programme oder Verträge. Diese Verpflichtungen können zwischen Ländern oder Kontinenten eingegangen werden, und sie können von einer regionalen Organisation wie der EU oder den Vereinten Nationen koordiniert werden. Weltweit bekannt dürften die UN-Ziele für nachhaltige Entwicklung sein, die zumeist unter ihrem englischen Namen Sustainable Development Goals bzw. ihrer Abkürzung SDGs firmieren.
Dabei handelt es sich um 17 Ziele, die darauf abzielen, Hunger und Armut zu beenden, Frieden, individuelles und wirtschaftliches Wohlergehen zu fördern und die Auswirkungen des Klimawandels zu verringern. Im Jahr 2015 verpflichteten sich alle Länder weltweit, auf diese Ziele hinzuarbeiten, und die Frist für ihre Erreichung ist 2030. Seitdem nutzen mehrere Länder die SDGs als Leitfaden für ihre internationalen Hilfsprogramme. Deutschland beispielsweise führt das Grüne Innovationszentrum wiederholt als Teil seiner internationalen Entwicklungshilfe für Asien und Afrika im Rahmen der SDGs an.
Warum ist das so wichtig?
Weil seit 2015 jedes Jahr etwa 21 Billionen Dollar für SDG-bezogene Bereiche ausgegeben werden. Experten und Expertinnen der US-amerikanischen Brookings Institution gehen zudem davon aus, dass dieser Betrag bis 2030 jährlich 33 Billionen Dollar oder mehr erreichen wird. Sie sind sich aber auch einig, dass höhere Ausgaben keine Garantie für eine bessere Verwirklichung der SDGs sind. Dennoch sagte UN-Generalsekretär António Guterres: „Wir brauchen mehr Geld, um die SDGs umzusetzen.“
Die meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen unserer 100 eyes-Community waren jedoch der Meinung, dass die SDGs nicht für alle Länder geeignet sind. Einige fanden auch, dass es den Menschen im Alltag an Bewusstsein fehlt. So wie Joy Eke, eine in Reutlingen lebende Erzieherin. Sie hat erst vor kurzem während eines Kurses in ihrer Ausbildung von den SDGs gehört. Eke schrieb in unserem Forum: „Es sollte mehr Bewusstsein für die SDGs geschaffen werden. Es würde helfen, wenn die Botschaft stärker über Radio, Fernsehen, Apps und Mundpropaganda verbreitet würde.“
In Deutschland sind umfassende Zahlen zur SDG-Finanzierung schwer zu bekommen (ja, wir haben nachgefragt). Die Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung für 2021 besagt, dass öffentliche Einrichtungen im Jahr 2019 Entwicklungshilfe in Höhe von 21, 6 Milliarden Euro geleistet haben. Das entspricht etwa 0, 61 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) unseres Landes. Außerdem hat Deutschland zwischen 2017 und 2020 im Rahmen des BMZ-Marshallplans für Afrika über 2, 8 Milliarden Euro bereitgestellt, um afrikanische Länder bei der Umsetzung der SDGs zu unterstützen. Zudem unterstützt Deutschland 28 Partnerländer in Asien, Afrika und Lateinamerika bei der Umsetzung der SDGs.
Das Problem ist, dass die Welt trotz dieser beträchtlichen Mittel, die aufgewendet werden, wahrscheinlich fast keines der Ziele bis 2030 erreichen wird. Alle Länder haben Probleme mit den Datenanforderungen für die Berichte über die Auswirkungen und Fortschritte der SDGs. Die Weltbank erklärte sogar, dass möglicherweise gar nicht genügend Daten vorhanden seien, um Erfolge zu feiern oder das Nichterreichen der Ziele analysieren zu können.
Diese Herausforderungen sind in einkommensschwachen Ländern im sogenannten „globalen Süden“ größer und wurden bereits 2017 von Tom Moultrie, Professor für Demografie und Direktor des Zentrums für Versicherungsforschung an der südafrikanischen Universität Kapstadt, vorausgesagt.
Fast fünf Jahre später steht Moultrie weiter zu seinen Worten, dass einige Länder ins Hintertreffen geraten sind. „Wenn überhaupt, dann hat sich die Situation eher verschlechtert als verbessert“, schrieb er in einem E-Mail-Interview.
Für ihn sind die Hauptfaktoren die Entwicklung technologischer Lösungen ohne Verständnis für den soziopolitischen Kontext und „eine fest etablierte Praxis des intellektuellen und datenbezogenen Neokolonialismus“, bei der „Lösungen in den gut finanzierten Denkfabriken des globalen Nordens entworfen und erträumt werden, allerdings mit einer generellen Zurückhaltung, auf Wissen oder Erkenntnisse aus dem Süden zurückzugreifen.“
Gerhard Karpiniec, Mitglied der 100 eyes-Community, ist ebenfalls „nicht sehr zuversichtlich“, dass die SDGs erreicht werden. Karpiniec, der sich seit mehr als 50 Jahren in der Entwicklungszusammenarbeit engagiert, sagt: „Bei den SDG-Veranstaltungen, die ich besucht habe, gibt es nur Absichtserklärungen. Leider habe ich weder Einzelne noch Gruppen gefunden, die das nachhaltig umsetzen wollen. Es wird mehr in PR als in produktive Arbeit investiert.“
James Otto, Koordinator beim gemeinnützigen Sustainable Development Institute in Liberia, sagt, damit Entwicklungshilfe schneller positiv auf die SDGs wirken könne, müssten sich die Geberorganisationen mit den Erfahrungen der Menschen in Afrika vertraut machen. Auf diese Weise könnten sie ihre Arbeit lokal fokussieren und die tatsächliche Realität in den einzelnen Ländern wäre widergespiegelt.
„Die Menschen in Europa müssen mit (afrikanischen) Regierungen zusammenarbeiten, um sie bei der Umsetzung der SDGs stärker in die Pflicht zu nehmen“, so Otto. „Denn in diesen Regierungen passiert einiges: Korruption, schwache politische Maßnahmen, interessengetriebene Ansätze, fehlerhafte Prozesse – all das kann die Umsetzung der SDGs untergraben. Die Europäerinnen und Europäer müssen (auch) an sich selbst arbeiten, damit Organisationen aus Europa verantwortungsvoller agieren und die Lebensweise der einfachen Menschen in unserem Land akzeptieren. Auf diese Weise können sie lernen, wie sie die Umsetzung der SDGs unterstützen können.“
Das Projekt „Lehren aus Afrika“
Wie Deutschland die SDGs im eigenen Land und in anderen Kontinenten finanziert und umsetzt, ist für jeden deutschen Steuerzahler wichtig. Deshalb werden wir in den nächsten Wochen und Monaten vor Ort recherchieren, wie Afrikanerinnen und Afrikaner mit Hilfe von technologiebasierten Maßnahmen die UN-Nachhaltigkeitsziele zu erreichen versuchen. Unser Ziel ist es, Lehren zu ziehen von den Projekten vor Ort. Lehren, die mehr Bewusstsein bei Bürgerïnnen, NGO-Mitarbeitenden und Beamtïnnen schaffen – und so Lösungen aufzuzeigen, von denen auch Deutschland lernen kann.
Aber warum Afrika? Afrika ist der Kontinent mit der höchsten Rate an Unternehmerïnnen weltweit. Technologie spielt hier eine immer größere Rolle, auch bei der Entwicklungshilfe. Unsere Serie wird im Laufe des Jahres einige interessante und lehrreiche Beispiele vorstellen. Sie werden zum Beispiel über ländliche Genossenschaften lesen, die auf einem Kontinent mit den höchsten Datenkosten Internet anbieten. Sie werden sehen, wie Shortcodes Menschen helfen, in landwirtschaftliche Betriebe zu investieren, die von Frauen geführt werden. Sie werden von Traktoren erfahren, die die Nahrungsmittelversorgung verbessern, und über verschiedene Internet-Lernplattformen lesen, die geschlechtsspezifische Missverhältnisse und finanzielle Hürden beseitigen, die sonst den Zugang zu Bildung verhindern. Während des Projektes werden wir mit Hilfe des Tools 100 eyes mit unserer Online-Community in Kontakt bleiben und sie nach ihren Eindrücken zu den veröffentlichten Artikeln befragen – was funktioniert gut oder was wäre besser gewesen? Was sind ihre Eindrücke? In zwei weiteren Artikeln werden wir uns auf die Meinung der Community-Mitglieder konzentrieren und einen Überblick über ihre Erfahrungen geben.
„Ich glaube, dass einige Menschen den afrikanischen Kontinent immer noch als Empfänger von Hilfe und nicht als Anbieter von Lösungen betrachten.“ „, sagt Chibuike Alagboso, Mitglied der Online-Community. “Ich hoffe, dass diese Serie unter anderem dazu beitragen wird, diese Sichtweise zu ändern.„
Alagabso, Programmmanager bei der NGO Nigeria Health Watch, ist überzeugt, dass unsere Artikel-Serie “Lessons from Africa„ auch für Probleme in Deutschland Lösungen bereithält: “Sie hat das Potenzial, Kooperationen und Partnerschaften zwischen deutschen und afrikanischen Innovatoren ins Leben zu rufen, um einige der Maßnahmen, die hier vorgestellt werden, zu verbreiten."
Das Projekt wurde gefördert von dem European Journalism Center, durch das Programm Solutions Journalism Accelerator. Dieser Fonds wird unterstützt von der Bill und Melinda Gates Foundation.