Corona in Tunesien: Alle Indikatoren auf Rot

Das Land verzeichnet die meisten Covid-Toten pro Einwohner in ganz Afrika und dem arabischen Raum

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
7 Minuten
Erkrankte liegen an Sauerstoffflaschen unter einem improvisierten Zelt. Im Hintergrund diskutiert eine Gruppe von Ärztïnnen und Pflegekräften.

Die vierte Welle hat Tunesien mit voller Wucht erwischt: Es mangelt an Sauerstoff, Impfungen, Ärzten, Intensivbetten – und vor allem einer politischen Strategie. Warum ist die Lage in dem nordafrikanischen Land so dramatisch? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Wie ist die Situation in Tunesien?

Nachdem das Land letztes Jahr mit strikten Maßnahmen mehr als glimpflich durch die Pandemie navigiert ist, folgt seit vergangenem Herbst eine Welle der nächsten, jede tödlicher als die zuvor. Heute verzeichnet das Land offiziell fast 560 000 registrierte Infektionen und fast 18 000 Todesfälle bei knapp zwölf Millionen Einwohnern. Rund ein Fünftel der Infektionen seit Beginn der Pandemie fällt in die ersten beiden Juli-Wochen – und illustriert, wie stark sich vor allem wegen der Delta-Variante Corona derzeit im Land ausbreitet. Die Karte, die die Inzidenzen pro Verwaltungsbezirk angibt, ist überall tiefrot gefärbt. In der derzeit am stärksten betroffenen Region Tataouine, im Süden des Landes, liegt die 14-Tage Inzidenz bei 1742 Fällen pro 100 000 Einwohner.

Die Dunkelziffer liegt, nicht nur wegen der Verzögerungen bei den Meldungen während des Opferfests, wahrscheinlich deutlich höher, denn es werden pro Tag selten mehr als 30 000 Personen getestet. In einem privaten Labor kostet ein PCR-Test 170 Dinar (rund 50 Euro), fast die Hälfte des monatlichen Mindestlohns. Viele Fälle werden also gar nicht registriert. Außerdem werden Kinder nur in Ausnahmefällen getestet, selbst wenn sie Symptome aufweisen.

Ein älterer Mann, der mit Sauerstoff versorgt wird, sitzt in einem Krankenhausbett. Im Hintergrund sind weitere Personen zu erahnen.
Die tunesischen Krankenhäuser sind der Zahl der Patienten kaum gewachsen.

Ärzte und Pflegepersonal stehen der Situation zunehmend hilflos gegenüber, das über Jahrzehnte runtergewirtschaftete staatliche Gesundheitssystem steht kurz vor dem Kollaps. Auf ein Intensivbett kommen oft drei bis vier Patienten, die sich auch einen Sauerstoffzugang teilen müssen. Erkrankte sitzen in den Gängen der Covid-Stationen auf Stühlen oder auf dem Boden oder warten in glühender Hitze vor den Krankenhäusern auf einen Platz. Trotz Notfalllieferungen aus Algerien und Frankreich ging zuletzt mehrfach in verschiedenen Krankenhäusern der Sauerstoff aus, so dass Patienten verlegt werden müssen. Immer wieder bitten verzweifelte Krankenhausdirektoren auf sozialen Netzwerken um Hilfe. Wer einen Sauerstoffkonzentrator übrig habe, solle ihn doch bitte zur Verfügung stellen. „Steht der Staat uns bei oder sind wir uns selbst überlassen?“. Diese Frage stellte Anfang Juli der Leiter der Covid-Station in einem Krankenhaus der Küstenstadt Sousse in diesem Video dem Transport- und Logistikminister bei dessen Besuch. Beschämt schaut dieser zu Boden, eine Antwort auf die Frage gibt er nicht.

Auch die Anzahl der Toten hat in diesem Sommer einen traurigen Rekord erreicht. Viele Kranke versterben, bevor sie überhaupt einen Platz im Krankenhaus bekommen haben. Und viele Todesfälle wären wohl vermeidbar gewesen, wären die Patienten adäquat versorgt gewesen.

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Wer am Impftag eine Chance haben wollte, musste sich in Geduld üben.
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