Tunesiens nationaler Frauentag: aber ist er heute noch Anlass zum Feiern?

Tunesien gilt in der Region als Vorreiter der Frauenrechte. Doch viele tunesische Feministinnen sehen das heute ganz anders und kritisieren, das sei vor allem eine Fassade fürs Ausland.

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
9 Minuten
Zwei Frauen, die in Tunis, Tunesien, auf einer Demonstration auf das Dach einer Bushaltestelle geklettert sind. Eine Frau hält eine Kamera in der Hand und macht mit der anderen das Victory-Zeichen, die andere halt einen Stoffbeutel mit dem Logo des Weltsozialforums hoch.

Der 13. August ist in Tunesien ein Feiertag. Er erinnert an das damals außergewöhnliche Personenstandsgesetz von 1956: Die Polygamie wurde verboten, Frauen bekamen das Wahlrecht, sie durften selbst die Scheidung einreichen und Abtreibungen wurden erlaubt. In der Region gilt Tunesien deshalb als Vorreiter der Frauenrechte. Doch viele tunesische Feministinnen sehen das heute ganz anders. Bei dem urbanen, bürgerlich geprägten Feminismus würden viele Frauen auf der Strecke bleiben.

„Wenn du deine Geschichte nicht erzählst, dann wird das jemand anderes für dich tun. Das ist tunesischen Frauen passiert“, schrieben Ikram Ben Said und Samah Krichah in einem Artikel über die „Frauenkarte“, die alle Kandidatïnnen irgendwann im Verlauf des Wahlkampfs im letzten Jahr zuverlässig ausspielten, indem sie sich als Hüter der Frauenrechte präsentierten.

If you don’t tell your story, someone else will tell it for you. This is what has happened to Tunisian women. Bourguiba told the story, and ever since we have followed that narrative. Stuck between the state feminism narrative and the mainstream bourgeois feminism narrative, many voices and nuances have not yet been heard. Meanwhile, we feminists have been busy categorizing who is a legitimate feminist and who is not.

In Tunesien hat sich das Narrativ des Vorreiterstaates in Sachen Frauenrechte, das von beiden Machthabern seit der Unabhängigkeit 1956 – vom ersten Präsidenten Habib Bourguiba, aber vor allem später von seinem Nachfolger Zine El Abidine Ben Ali – genutzt wurde, um vom repressiven Charakter des Regimes abzulenken, längst etabliert und wurde lange Jahre selten in Frage gestellt – insbesondere nicht bei ausländischen Institutionen, Gebern oder Regierungen, aber auch nicht in bürgerlichen tunesischen Kreisen, die den vermeintlich progressiven Status quo nutzen, um weitere Reformen auf die lange Bank zu schieben. Dabei ist die Gesellschaft vielschichtiger, als dieses Narrativ vermuten lässt. „Wir tunesische Frauen haben uns daran gewöhnt, das Narrativ zu akzeptieren, dass uns als eine homogene Gruppe behandelt, als ‚die tunesische Frau‘. In Wahrheit sind wir verschieden, divers, gespalten und alles andere als homogen“, schreiben Ben Said und Krichah.

Der Gesetzeskorpus, auf den sich Tunesiens Ruf als „Leuchtturm“ in Sachen Frauenrechte gründet, stammt im Wesentlichen aus dem Jahr 1956, als Tunesien seine Unabhängigkeit von Frankreich erlangte und der bis heute am 13. August gefeiert wird. Damals war das Personenstandsgesetz (Code du statut personnel, CSP) in der Tat in vielen Dingen wegweisend: Abschaffung der Vielehe, Scheidungsrecht auch für Frauen, ebenso Wahlrecht und die Möglichkeit, straffrei einen Schwangerschaftsabbruch durchzuführen, wurden darin festgehalten. Über die Jahre wurden die Gesetze in einigen Punkten angepasst. So dürfen unter anderem auch Tunesierinnen seit 2010 die Staatsbürgerschaft weitergeben – ein Privileg, das vorher den Männern vorbehalten war.

Einst beinahe revolutionär, heute längst überholt

Heute ist das CSP unter den meisten tunesischen Frauen Konsens, gewissermaßen das Minimalmaß, auf das sich alle einigen können. Auch die konservativen Strömungen in der muslimisch-konservativen Ennahdha-Partei, stärkste Kraft im Parlament und Fraktion mit dem höchsten Frauenanteil, wollen nicht daran rühren, sondern beziehen sich ebenso stolz in der Öffentlichkeit auf die Errungenschaften in Sachen Frauenrechte.

Doch Monia Ben Jemia, Juristin und ehemalige Vorsitzende des Vereins Demokratischer Frauen (ATFD), der historische und unter der Diktatur der einzige offen kritische Frauenverband, vertritt die Auffassung, es handele sich beim CSP um den Text „der Frauen heute am stärksten diskriminiert.“ Dank des Gesetzes seien die Tunesierinnen zwar das, was sie heute sind, doch der Text habe seinen Dienst getan, findet auch Sana Ben Achour, ebenfalls Juristin und ATFD-Mitglied der ersten Stunde. Heute sei es nicht mehr zeitgemäß, denn viele Vorschriften seien von der tunesischen Lebensrealität längst überholt worden.

Besser ausgebildet, wirtschaftlich schlechter gestellt

Wahlkampfmeeting der muslimisch-konservativen Ennahdha-Partei in einem Park in Gabes, Tunesien, im September 2019. Eine Gruppe von Personen schwenkt Fähnchen, im Hintergrund hängt ein großes Transparent von Abdelfattah Mourou, Präsidentschaftskandidat der Partei
Das Personenstandsgesetz als Minimalkonsens: auch bei Ennahdha will kaum noch jemand an den bestehenden Frauenrechten rütteln.
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