„Gebt uns irgendwas, das wir beerdigen können, und wenn es nur eine Haarsträhne ist.“

Die südtunesische Kleinstadt Zarzis sucht nach Schiffbrüchigen, Würde und Wahrheit. Unterdessen verlassen immer mehr Menschen das Land, weil sie dort keine Perspektive mehr sehen.

vom Recherche-Kollektiv Afrika-Reporter:
6 Minuten
Eine Demonstration, bei der die Menschen in der ersten Reihe Plakate mit Slogans und Bilder Vermisster und Verstorbener hochhalten

Sie sehen in Tunesien für sich keine Zukunft mehr: Wirtschaftskrise und Perspektivlosigkeit, politische Dauerkrisen und Arbeit höchstens zu schlechten Bedingungen sorgen dafür, dass immer mehr vor allem junge Leute in den letzten Jahren ihrer Heimat den Rücken gekehrt haben. Dass gut ausgebildete Ingenieurïnnen, Ärztïnnen oder Krankenpflegerïnnen den Weg nach Europa suchen, bereitet vor allem der tunesischen Wirtschaft und Berufsverbänden Sorgen. Dass auch die irreguläre Migration zuletzt sprunghaft angestiegen ist, ruft indes vor allem europäische Politiker auf den Plan. Dabei sind die Motive der beiden Gruppen oft ganz ähnlich: die Suche nach einem Leben in Respekt und Würde, ohne dass ihnen permanent Steine in den Weg gelegt werden.

Er hätte es sich nicht vorstellen können, dass er eines Tages für Mehl, Zucker oder Öl Schlange stehen müsse, erzählt ein elegant gekleideter älterer Herr kurz vor den jüngsten Parlamentswahlen in Sidi Bouzid – dem Ort, in dem im Winter 2010 die tunesische Revolution begann. Sein Sohn hätte ihm kürzlich gesagt, er wolle mit dem Boot rüber. „Habe ich etwa tausende Dinar, um ihm das zu finanzieren?“ Hat er natürlich nicht. „Aber wenn ich sie hätte, dann würde ich es tun.“ Die Harga, wie die irreguläre Überfahrt genannt wird, ist oft ein Projekt der ganzen Familie. Sie legt zusammen, um einem Kind einen Weg in eine vermeintlich bessere Zukunft zu finanzieren.

Einer von fünf Tunesiern wolle das Land verlassen, so das Ergebnis einer Studie des Tunesischen Statistikamtes. In der Altersgruppe der 15 bis 29-Jährigen sind es sogar 40 Prozent, die nach Europa wollen. Erhoben wurden diese Zahlen bereits im Jahr 2020, bevor sich die politische und wirtschaftliche Krise im Land verschärfte. Inzwischen leeren sich teils ganze Ortschaften, in manchen Dörfern oder Stadtvierteln sind junge Leute auf den Straßen schon fast eine Seltenheit.

Die Zahl der irregulären Migrantïnnen sowie der verhinderten Migrationsversuche hat 2022 einen neuen Höchststand erreicht. Gleichzeitig werden die Migrantïnnen immer jünger. Waren es 2018 zum Beispiel nur 6000 Tunesierïnnen, die in Italien ankamen, hat sich die Zahl 2022 verdreifacht. 32 000 Migrantïnnen aus Tunesien seien im letzten Jahr dort angekommen, so die Behörden, davon 18 000 Tunesierïnnen sowie 12 000 Menschen anderer Nationalitäten. Noch mehr wurden laut tunesischer Seite an der irregulären Überfahrt gehindert, mehr als 500 gelten als vermisst. Nur im Revolutionsjahr 2011, als der Staat die Küsten nicht kontrollierte, waren es mehr.

Drei Männer sitzen an einem Tisch, vor dem mittleren stehen viele Mikrofone mit Logos von Radio- und Fernsehsendern
Für den Fischer Chamseddine Bourassine gehört die Rettung Schiffbrüchiger inzwischen fast zum Alltag.
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