Krieg gegen die Ukraine: Begeht Russland bei seinem Angriff auch „Ökozid“?

Die frühere EU-Kommissarin und schwedische Außenministerin Margot Wallström klärt für die Regierung der Ukraine auf, ob Umweltschäden durch den russischen Angriff einen „Ökozid“ darstellen. Sie will dazu beitragen, dass die UN dies zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit erklärt

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Gewaltige schwarze Rauchwolke durch Explosion.

Seit Russland im Februar 2022 in die Ukraine einmarschiert ist, sterben dort beinahe täglich Menschen oder werden bei Raketenangriffen verletzt. Städte sind zerstört und Infrastruktur beschädigt. Doch nicht nur das. Auch die Natur leidet. Der Krieg vertreibt Tiere, verseucht fruchtbare Böden und vermint Wälder und landwirtschaftliche Flächen.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat deshalb im Juni 2023 eine „High Level Working Group on Environmental Damage of War in Ukraine“ ins Leben gerufen. An der Spitze der Arbeitsgruppe steht gemeinsam mit Andrij Jermak, Chef des ukrainischen Präsidialamts, die schwedische Politikerin und ehemalige EU-Umweltkommissarin Margot Wallström. Am 27. November fand in Brüssel zu den Umweltschäden eine internationale Anhörung statt.

Im Interview spricht Margot Wallström über die stillen Opfer des Kriegs und die Frage, ab wann Umweltschäden als Ökozid bezeichnet werden können.

Frau Wallström, Sie sollen untersuchen, welche Umweltschäden der russische Angriffskrieg in der Ukraine verursacht. Doch gleichzeitig sterben Menschen im Kampf und durch Raketenangriffe. Warum ist es dennoch wichtig, auch die Natur nicht aus den Augen zu verlieren?

Portraitfoto der blonden Frau vor weißem Vorhang.
Margot Wallström

Margot Wallström: Die ukrainische Regierung hat mich darum gebeten, diese Aufgabe zu übernehmen, weil sie sehr genau weiß, wie wichtig eine gesunde Umwelt für das Überleben und das wirtschaftliche Wohlergehen ihres Landes ist. Umweltschäden in diesem Ausmaß bedeuten auch Schäden für Menschen. Sie sind vielleicht nicht so sichtbar wie andere Verluste in einem Krieg, aber sie sind genauso real. Wir sprechen deshalb von den „stillen Opfern des Kriegs“.

Was sind Ihrer Ansicht nach die größten Umweltschäden, die durch den Angriffskrieg in der Ukraine entstanden sind?

Ohne ihre reichhaltige Natur und die fruchtbaren Böden wäre die Ukraine nicht in der Lage, einer der größten Getreideexporteure der Welt zu sein. Wenn aber Bomben auf Äcker fallen oder Minen dort ausgelegt werden, wird Landwirtschaft unmöglich. Wälder, die voller Landminen sind, können nicht bewirtschaftet und genutzt werden. Und wenn russische Raketen eine Chemiefabrik treffen, gefährdet das Trinkwasser vieler Menschen.

Welche genaue Aufgabe hat die High Level Working Group?

Ich betrachte die Arbeit der Gruppe als Teil des Zehn-Punkte-Friedensplans, den der ukrainische Präsident im November 2022 den G20-Ländern vorgelegt hat. Punkt Nummer acht betraf die Umwelt. Das hat einige Leute überrascht, die der Meinung sind, dass die Umwelt kein wichtiges Sicherheitsthema ist, doch ich stimme der Regierung zu, dass hier eine Priorität liegen sollte. Die Arbeitsgruppe hat drei Ziele: die Schäden intensiv zu untersuchen und zu bewerten, nach Möglichkeiten zu suchen, Russland zur Rechenschaft zu ziehen, und drittens darzustellen, wie der Wiederaufbau der Ukraine nachhaltig und klimafreundlich gestaltet werden kann.

Wie wird die Gruppe die erforderlichen Beweise für das sammeln, was die ukrainische Regierung als „Ökozid“ bezeichnet?

Trockengefallener See, dahinter 6 Kraftwerksblöcke.
Die Atomanlage Saporischschja am trockengefallenen Kachowka-Stausee.

Die ukrainischen Behörden sind in diesen Fragen sehr aktiv und haben eine Gruppe von internationalen Staatsanwälten als Berater gewonnen, die den ukrainischen Generalstaatsanwalt dabei unterstützen, eine Anklage gegen Russland vorzubereiten. Sie planen, relevante Schauplätze der Umweltzerstörung zu besuchen, Umweltexperten und Nichtregierungsorganisationen zu konsultieren sowie Satellitenbilder und Drohnen zur Beweissammlung auszuwerten. Ziel ist es, eine Datengrundlage zu schaffen und die Schäden zu dokumentieren.

Das Beispiel, das die meisten Menschen kennen, ist die Zerstörung des Kachowka-Damms am Dnepr im Juni 2023. Ist das ein Schwerpunkt Ihrer Arbeit?

Die Zerstörung des Damms durch die russischen Streitkräfte ist eins der schlimmsten Beispiele für die Auswirkungen des Kriegs auf die Umwelt. Dörfer wurden überflutet, Schweröl und Chemikalien sind ausgelaufen. Ganze Landschaften wurden mit Landminen verseucht, die mit dem Wasser angespült wurden. Darunter leiden noch immer viele Menschen, aber auch die Tierwelt.

Die ukrainische Regierung behauptet, dass der Krieg bereits 120 Millionen Tonnen zusätzliche CO₂-Emissionen verursacht hat, was dem Vierfachen der jährlichen Emissionen Ihres Heimatlands Schwedens entspricht. Wie können Sie solche Zahlen überprüfen?

Ich habe den Eindruck, dass die ukrainische Regierung hart daran arbeitet, der Gruppe zuverlässige Zahlen zu liefern. Wir werden sicherlich auch Berichte aus anderen Quellen – zum Beispiel von der Weltbank, von lokalen Organisationen, von der Europäischen Union – analysieren und vergleichen. Was wir bereits sagen können, ist, dass die Auswirkungen enorm sind. So hat die ukrainische Regierung allein Waldbrände auf einer Gesamtfläche von 500 000 Hektar registriert.

Wir versuchen auf jeden Fall, mit unserer Arbeit zu zeigen, wie Ökozide vom UN-System anerkannt und in Zukunft international verfolgt werden könnten.

Was lässt sich bereits über Auswirkungen auf die Artenvielfalt sagen?

Es ist wichtig zu wissen, dass ein Großteil der Kämpfe in Wäldern stattfindet, was mit Explosionen und Schüssen mitten in der Natur einhergeht. Es bleiben unbenutzte Munition und Minen zurück. Das belastet die Tiere und das Ökosystem. Zudem werden dadurch die zuständigen Förster und Ranger in Gefahr gebracht oder daran gehindert, Gebiete zu betreten und ihre Arbeit zu machen. Die Kämpfe bringen zahllose Naturschutzmaßnahmen zum Erliegen – mit gravierenden Folgen. Der WWF hat diese in einem Bericht ausführlich beschrieben.

Wie schätzen Sie die Risiken ein, die vom Kernkraftwerk Saporischschja ausgehen, das seit März 2022 unter russischer Kontrolle steht?Deutsche Experten sagen, dass ein katastrophaler Unfall unwahrscheinlich geworden ist, seit die Reaktoren im September 2022 abgeschaltet wurden.

Das ist wahrscheinlich richtig, aber Unfälle oder vorsätzliche Aktionen, die größeren Schaden anrichten, sind immer noch möglich. Es gibt weiter erhebliche Risiken, die wir ohne den russischen Angriff und das russische Missmanagement der Anlage nicht hätten. Wir in der Arbeitsgruppe verlassen uns da auf die Einschätzungen der Internationalen Atomenergiebehörde, und die sagt ganz klar, dass dringend etliche zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden müssen.

Verschmutzte Flusslandschaften, Waldbrände, chemische Verunreinigung ganzer Landstriche, verminte Wälder – wann werden solche Umweltschäden in Summe zu dem, was die ukrainische Regierung und die High-Level-Gruppe als „Ökozid“ bezeichnen?

Die wichtigsten Kriterien für einen Ökozid sind, dass der Schaden absichtlich und in großem Umfang angerichtet wird und dass es lange Zeit in Anspruch nimmt, ihn wieder zu beseitigen. Der Begriff wurde jedoch bislang noch nicht in das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs aufgenommen – anders als Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen der Aggression. Ich denke aber, dass wir uns in diese Richtung bewegen, und hoffe, dass unsere Arbeit dazu beitragen wird, auch im internationalen Recht eine formale Definition des Begriffs Ökozid zu etablieren.

Was ist dafür notwendig?

Erstens brauchen wir internationale Standards dafür, wie zu messen ist, wann die Schwelle von geringfügiger Umweltschädigung zu Ökozid überschritten ist. Wir brauchen eine Blaupause, wie das Rechtssystem solche Umweltverbrechen bearbeiten kann. Und dann brauchen wir Lösungen für die gesamte Frage der Verantwortlichkeit und der Wiedergutmachung. Solange ein Ökozid als ein geringfügigeres Vergehen als andere Kriegsverbrechen angesehen wird, wird es viele der genannten stillen Opfer des Kriegs geben.

Sollte die Verwendung des Begriffs Ökozid auf Kriegsverbrechen beschränkt sein? Der Vorstandsvorsitzende eines großen Unternehmens etwa, das fossile Brennstoffe in Umlauf bringt, verursacht doch auch vorsätzlich Umweltschäden in großem Umfang.

Es ist genau andersherum: Die bestehenden Rechtsvorschriften zur Umweltzerstörung wurden bisher nicht in Kriegszeiten angewandt. Es wird sicher nicht einfach sein, das zu ändern. Viele Staaten werden sich dagegen wehren, darunter auch die USA. Aber die Ukraine ist jetzt Vorreiter bei dem Versuch, das zu erreichen. Hochrangige Politiker in aller Welt sollten wissen: Wenn sie das Wasser vergiften, wenn sie Menschen daran hindern, Nahrungsmittel anzubauen oder zu ernten, wenn ihre Truppen Landschaften mit Minen verseuchen, dann werden sie einen hohen Preis bezahlen.

Welche Konsequenzen hat Russland zu befürchten?

Die Ukraine und weite Teile der Weltöffentlichkeit wollen, dass Russland für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wird, auch für die Verbrechen an der Umwelt. Den meisten Menschen in der Ukraine ist allerdings klar, dass sie Putin in naher Zukunft nicht wegen Ökozids im Gefängnis sehen werden. Es ist sehr schwierig, in diesem Fall tatsächlich an die Täter und die verantwortlichen Politiker heranzukommen. Doch den Schuldigen sollte auf jeden Fall klar sein, dass sie für Umweltschäden strafrechtlich verfolgt werden.

Was meinen Sie, wenn Sie sagen, Russland soll für die Umweltschäden bezahlen?

Die ukrainische Regierung versucht, die Rechtsgrundlage dafür zu schaffen, dass ein Teil des 300 Milliarden US-Dollar umfassenden internationalen russischen Vermögens, das derzeit eingefroren ist, frei gegeben und langfristig dafür eingesetzt werden kann, die Umweltschäden zu beheben. Ich befürworte das – es wäre bei dieser Art von Verbrechen eine Form ausgleichender Gerechtigkeit.

Gibt es einen Präzedenzfall für derartige Zahlungen?

Ja, 2001 erklärte sich der Irak bereit, 247 Millionen US-Dollar für die Schäden zu zahlen, die den Nachbarländern nach dem Angriff auf Kuwait 1990 entstanden waren, als ganze Ölfelder in Brand gesetzt wurden. Die Einigung wurde damals mit Hilfe einer UN-Kommission erzielt.

Sollte die UN bei der Verfolgung von Umweltverbrechen eine größere Rolle spielen?

Wir versuchen auf jeden Fall, mit unserer Arbeit zu zeigen, wie Ökozide vom UN-System anerkannt und in Zukunft international verfolgt werden könnten. Unsere Arbeit in der High-Level-Gruppe könnte also einen historischen Wandel im Verständnis von Umweltverbrechen vorbereiten und damit auch anderen Ländern helfen.

Wie sieht Ihre Vision für den Wiederaufbau der Ukraine aus?

Alle Bemühungen, die Ukraine nach einem hoffentlich baldigen Ende des Kriegs wieder aufzubauen, sollten eng mit Umweltzielen und Klimaschutzstrategien verbunden sein. Das ist kein Luxus, sondern eine Voraussetzung für einen nachhaltigen Wiederaufbau. Es freut mich zu sehen, dass die ukrainische Regierung und viele Ukrainerinnen und Ukrainer, mit denen ich gesprochen habe, dies sehr ernst nehmen. Sie verstehen und akzeptieren die Herausforderung. Das erfordert einigen politischen Mut.

Wie sollte das konkret aussehen?

Der Wiederaufbau muss das Land zu erneuerbaren Energien, zur Regeneration der für ihre Fruchtbarkeit berühmten Böden, zum wirksamen Schutz der biologischen Vielfalt führen. Eine wichtige Aufgabe ist, die Gebäude aus Sowjetzeiten zu renovieren, die sehr viel Energie verbrauchen und verschwenden. Die Ukraine kann für den Rest der Welt ein Beispiel dafür sein, wie man unter sehr schwierigen Bedingungen auf erneuerbare Energien und umweltfreundliches Wirtschaften umstellen kann.

Ist das mit 50 Milliarden Euro ausgestattete Ukraine-Wiederaufbauprogramm der EU ausreichend auf das Ziel der Nachhaltigkeit ausgerichtet?

Ich führe derzeit Gespräche mit Brüssel über dieses Thema. Wir müssen auf jeden Fall dafür sorgen, dass die von der EU bereitgestellten Mittel für eine nachhaltige Entwicklung ausgegeben werden. Das ist manchmal schwierig, wenn es dringende kurzfristige Bedürfnisse gibt. Deshalb ist es umso wichtiger, die richtigen strategischen Ziele zu setzen und anzuwenden.

Die Staats- und Regierungschefs der Welt müssen jetzt zeigen, dass sie in der Lage sind, mehrere große Herausforderungen gleichzeitig im Kopf, im Herzen und auf der Agenda zu behalten.

Sollte der Kachowka-Damm wieder aufgebaut werden, wenn die EU doch gleichzeitig darüber debattiert, die 25 000 Staudämme zu beseitigen, um Flüssen ihren natürlichen Lauf zurückzugeben?

Das ist keine Entscheidung der Arbeitsgruppe, sondern der ukrainischen Regierung. Wir beraten auf der Grundlage des Konzepts der so genannten planetaren Grenzen und der Strategien der Europäischen Union. Die ukrainische Regierung will sicherlich nicht alte sowjetische Praktiken, zu denen diese Dämme gehören, einfach eins zu eins fortsetzen. Sie werden vor einer Entscheidung die lokale Bevölkerung konsultieren und alle Argumente abwägen.

Befürchten Sie, dass das Massaker, das die Hamas in Israel verübt hat, und die explosive Lage dort die internationale Aufmerksamkeit von der Ukraine ablenkt?

Die Ukraine läuft sicherlich Gefahr, jetzt auf der Tagesordnung der internationalen Politik weiter nach unten zu rücken. Das würde Russland mehr Macht geben – und das sollte niemand wollen. Es würde auf uns alle zurückfallen und uns selbst schaden. Die Staats- und Regierungschefs der Welt müssen jetzt also zeigen, dass sie in der Lage sind, mehrere große Herausforderungen gleichzeitig im Kopf, im Herzen und auf der Agenda zu behalten.

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