Tausende ukrainische Gastarbeiter kehren als Kämpfer in die Heimat zurück
Seit der ukrainische Staatspräsident Selenski 300000 Reservisten einberufen hat, ist der Druck auf die Exilukrainer gestiegen, sich zu melden. Täglich reisen junge Männer ein
Am polnischen Grenzübergang von Medyka bei Przemysl ist es dunkel geworden. Tausende irren übers Parkplatzareal zwischen Auto- und Fussgängerübergang. Frauen sind in der Überzahl; die meisten wollen weiter ins Landesinnere. Doch auf dem Fußweg zur Passkontrolle gibt es auch eine gegenläufige Bewegung. Es sind meist junge Männer, viele in feldgrüner Freizeitkleidung und mit großen schwarzen Rucksäcken oder Taschen. Sie wollen zurück in die Ukraine und sie haben wenig Zeit. Denn bald beginnt dort die Polizeistunde, und sie wollen es vorher zumindest noch ins 85 Kilometer Lwiw (Lemberg) schaffen.
«Ich will den Russen schlagen», flucht Ihor fürchterlich. Sein wütender, unflätiger Wortschwall lässt sich nicht übersetzen. «Der ‘Kacap’ hat uns angegriffen, jetzt muss ich zurück», sagt der Gastarbeiter bestimmt. Ihor will nach Kiew, um sich dort seiner alten Kameraden aus dem Donbas-Krieg von 2014 anzuschließen. «Ich bin ein erfahrener, alter Kämpfer», sagt der Mittvierziger.
Der Druck auf junge Exilukrainer steigt
Seit der ukrainische Staatspräsident Wolodymyr Selenski am Tag der russischen Invasion 300.000 Reservisten einberufen hat, ist der Druck auf die Exilukrainer gestiegen, sich freiwillig zu melden. Der Stellungsbefehl betrifft alle ehemaligen Soldaten, die seit 2014 in der ukrainischen Armee gedient haben. Wer sich nicht stellt, dem drohen bis zu zwölf Jahre Haft wegen Desertion. Viele dieser Reservisten dürften sich in Polen befinden, wo sich bereits heute ein bis zwei Millionen ukrainische Gastarbeiter aufhalten. Laut dem polnischen Grenzschutz sind alleine in den ersten vier Kriegstagen 22.000 Ukrainer in ihr Land zurückgekehrt, die Mehrheit von ihnen sind Männer. Laut dem ukrainischen Grenzschutz sind schon über 80.000 Ukrainer zurückgekehrt. Gut über 60.000 Rückkehrer hätten sich bei den Rekrutierungsstellen gemeldet, vermeldete am Samstag die Regierung in Kiew.
«In einer Woche sind wir in Moskau»
«Jeder normale Mann sollte jetzt zurückkehren», sagt Bohdan aus Ternopil. Vor dem polnischen Passkontrollhäuschen auf der Ausreiseseite hat sich inzwischen eine kleine Schlange gebildet. Ein knappes Dutzend Männer mit schweren Taschen warten auf die Ausreise. Die Stimmung ist aufgeladen. Kampfwille und Angst mischen sich. «In einer Woche sind wir in Moskau», prahlt Bohdan – fügt dann aber korrigierend hinzu: «Wenn alle am selben Strang ziehen, und wenn alle Gastarbeiter zurückreisen». Bohdan, der in Polen als Dachdecker gearbeitet hat, würde am liebsten nach Donbas fahren, wo er bereits 2014 gekämpft hat. «Doch ich kenne die Verhältnisse in der Ukraine nicht, vielleicht ist das nicht möglich», gibt der dürre Mann in der Schirmmütze zu.
Pavlo ist jünger als die meisten seiner Kameraden. Erst vor einem halben Jahr ist er nach Magdeburg zur Arbeit gefahren. Er spricht bereits schon etwas Deutsch, Russisch will er nicht sprechen. «Meine Kameraden sollten mich abholen, ich will so schnell wie möglich nach Kiew», erklärt er. «Ich will kämpfen; hoch lebe die Ukraine!», sagt Pavlo und drängt ungestüm weiter.
20 Stunden Wartezeit an der polnisch-ukrainischen Grenze
Wenig Chancen haben da ein paar polnische und ukrainische Freiwillige, die den Rückkehrern direkt an der Grenze Säcke voller warmer Decken für jene mitgeben wollen, die in der Ukraine steckengeblieben sind. Auf Minus drei Grad sinkt das Thermometer in der Nacht, und die Wartezeiten bei der Ausreise vor der ukrainischen Passkontrolle betragen bis zu 20 Stunden.
Doch die teils angeheiterten Reservisten sind schon selbst vollgepackt. Auch stört manche, dass die freiwilligen Helfer, wenngleich sie aufgrund ihres jungen Alters keine Reservisten sind, offenbar lieber in Polen bleiben, als in der Ukraine zu kämpfen. «Was steht ihr hier rum, während die Russen unsere Häuser bombardieren», faucht einer der ausreisenden Männer im Tarnanzug.
Noch ist unklar, ob Warschau mit Kiew zusammenarbeiten wird, sollten sich drückende Reservisten tatsächlich als Deserteure angeklagt werden. Denkbar wären Abschiebungen. Allerdings hat die Ukraine offenbar bereits Mühe, die heimischen Reservisten an den Aushebungsstellen sinnvoll in die Truppen einzuteilen. Auch müssen diese sowie auch Rückkehrer aus dem Ausland erst einmal geschult werden, denn 2014 liegt lange zurück. Für solche Kurse fehlen im Moment schlichtweg die Kräfte in der ukrainischen Armee, die an einem guten Dutzend Fronten den russischen Vormarsch aufhalten muss.
«Was steht ihr hier rum, während die Russen unsere Häuser bombardieren»
Auf der anderen Seite klagt die Bauwirtschaft in Polen schon heute über Personalmangel, seit keine Ukrainer von 18 bis 60 Jahren mehr in die EU ausreisen können. Von der polnischen Polizei aber werden die mehr oder minder freiwilligen ukrainischen Kämpfer unterstützt. Wer an der Ortsausfahrt von Premysl am Kontrollpunkt im Stau ins 14 Kilometer entfernte Medyka steckengeblieben ist, wird durchgewunken, wenn er an die Front will. «Wer sich der ukrainischen Armee anschließt, kann fahren, dasselbe gilt übrigens auch für Journalisten», sagt der Polizist.