Russische Umzingelung von Kiew stockt seit zwei Wochen
Aufgrund des Widerstands kommt Putins Armee nur langsam voran. Dennoch bleibt vielen Ukrainern nur die Flucht nach Süden. Ein ziviler Verteidiger berichtet.
Seit Tagen rücken russische Truppen auf beiden Seiten des Flusses Dnipro von Nordosten und Nordwesten nach Kiew vor. Die ukrainische Hauptstadt ist damit einem Zangenangriff ausgesetzt. Nur die Flucht nach Süden ist für Zivilisten noch möglich und einigermaßen sicher. Doch die russische Schlinge um Kiew zieht sich viel langsamer zu als vom Kreml geplant.
«Den ganzen Tag über fliegen Hubschrauber und Raketen über mein Dorf, aber sie greifen uns nicht an», berichtet Gennady, der sich in der ersten Märzwoche aus der Hauptstadt in den Süden zurückgezogen hat. Von hier aus will der ehemalige Polizeigeneral einen der letzten offenen Zufahrtswege nach Kiew verteidigen. Gennady will am Telefon weder seinen vollen Namen noch jenen seines Dorfes nennen. «Sie verstehen, das sind Militärgeheimnisse, es ist sicherer so», entschuldigt er sich.
«Wir haben Granaten, Gewehre und auch Molotowcocktails. Das ist nicht viel, aber damit müssen wir sie aufhalten und Zeit gewinnen»
Ende der Neunzigerjahre hat er in Warschau als Verbindungsoffizier der noch jungen unabhängigen Ukraine gearbeitet und mit seinen polnischen Kollegen zusammen die Mafia gejagt. Damals hatte er auch gute Kontakte zur russischen Polizei. «Diese Freundschaften sind zum Glück schon früher erkaltet, das macht es heute einfacher», sagt Gennady, der an der Straßensperre gleich seinen Nachtdienst antreten muss. «Wir haben Granaten, Gewehre und auch Molotowcocktails. Das ist nicht viel, aber damit müssen wir sie aufhalten und Zeit gewinnen», erzählt Gennady.
Die ukrainische Armee sichert alle Einfahrtstraßen Kiews mit mobilen Einheiten ab
Zwanzig Familienmitglieder und Freunde hat Gennady aus Kiew in sein Haus auf dem Dorf evakuiert. Sie versorgen sich dank guter Kontakte im Umland, denn vor den Geschäften gibt es lange Schlangen. Gerade hätten sie von einem Bauern im rund 50 Kilometer entfernten Fastiw ein Schwein erworben, freut sich Gennady. «Wir haben Fleisch und Benzin, es geht uns nicht schlecht», sagt er.
Der ehemalige Polizist will sich nicht auf Spekulationen darüber einlassen, was Putins Armeen mit Kiew genau vorhaben. «Ich bin Optimist und rechne damit, dass die Russen beim Vormarsch auf Kiew ermüden», sagt der Zivilverteidiger. Die ukrainische Armee hat derweil ihrerseits alle Einfahrtstraßen in die Hauptstadt mit kleinen mobilen Einheiten abgesichert. Viele Verteidiger sind mit panzerbrechenden Javellin-Raketen aus dem USA bewaffnet. Kleinere Seitenstraßen und selbst Waldwege werden laut Angaben eines polnischen Freiwilligen auf dem Nachrichtenportal onet.pl von internationalen Verbänden abgesichert.
«Ich bin Optimist und rechne damit, dass die Russen beim Vormarsch auf Kiew ermüden»
Die Taktik der Ukrainer ist offenbar, die Spitze jedes russischen Militärkonvois zu treffen, um Panik auszulösen. Sodann werden die Zisternenwagen beschossen, und dann zieht sich die Einheit zurück. Dies hat den russischen Vormarsch auf Kiew schon erheblich verlangsamt. Immer wieder werden Putins Truppen von den Versorgungslinien abgeschnitten. Bei der östlichen Vorstadt Browary, rund 20 Kilometer vom Kiewer Stadtzentrum entfernt, haben die Ukrainer gleich mehrere russische Tanks vernichtet. Mitgehörten Funksprüchen zufolge ist die russische Führung geschockt, was die Kampfmoral der Angreifer massiv drückt.
Putins Rechnung ohne den ukrainischen Wirt
Immer wieder werden auch russische Angriffe auf Wyschhorod, 18 Kilometer nördlich von Kiew, abgewehrt. Die Kiewer Vorstadt liegt direkt am Staudamm des sogenannten «Kiewer Meeres». Würde er erfolgreich bombardiert, drohten den Kiewer Stadtteilen Obolon und Trajeschtschina die Überflutung. Nun allerdings spricht auch der angesehene US-Thinktank «Institut for the Study of War» (ISW) von der Möglichkeit, dass es die russische Armee wegen des massiven ukrainischen Widerstands und der nach wie vor funktionierenden Luftabwehr nicht schaffen könnte, Kiew gänzlich zu umzingeln.
«Putin dachte, der Krieg dauere zwei Tage, er hat seine Rechnung ohne den ukrainischen Wirt gemacht», freut sich derweil Gennady. Polen liegt ihm nah, er hat viele alte Freunde dort, doch zu den 2,2 Millionen Kriegsflüchtlingen will er nicht stoßen. Vielleicht würde er seine Tochter mit den Enkeln nach Polen schicken, aber noch sei es zu früh dafür. «Ich bleibe hier, ich verteidige mein Dorf und Kiew, ich gehe nirgendwo anders hin», verspricht er.