Von Kriegspanik ist in Kiew nichts zu spüren.
Die Hauptstadt der Ukraine lebt seit acht Jahren mit der russischen Bedrohung
Kürzlich machte in Kiew ein Video Furore, das auf den ersten Blick wie gerufen für die aktuelle Situation erscheint. Eine junge Frau in schwarzer Lederjacke und weißem Handtäschchen zielt mit einem Gewehr in die Luft, schießt und flucht fürchterlich. Die Kiewer seien der Anspannung kurz vor der angeblich demnächst bevorstehenden russischen Invasion nicht gewachsen, könnte man sagen. Doch das über einen Telegram-Kanal verbreitete Videofilmchen führt vor allem vor, wie sich die Sprache junger Ukrainerinnen in den letzten Jahren verändert hat.
Tatsache ist vielmehr, dass der Alltag in Kiew für die meisten weitergeht, als sei nichts geschehen. In den Lebensmittelgeschäften sind die Regale prall gefüllt, Hamsterkäufe sieht man keine, vor den Banken haben sich keine Schlagen gebildet, um sich für den Kriegsfall noch schnell mit Bargeld einzudecken.
Die mögliche russische Invasion ist nicht die einzige Sorge
In der Lokalpresse ist zwar Erste Hilfe ein viel diskutiertes Thema, doch wie überall auf der Welt sorgt man sich vor allem um die hohen Corona-Infektionszahlen, einen neuen Lockdown und den erneuten Online-Unterricht. Dazu kommt die bald erwartete Transportpreiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr um 15–30 Prozent, entgegen den Beteuerungen von Oberbürgermeister Witali Klitschko, der zum Jahresende versicherte, die Preise würden stabil bleiben.
Klitschko ist inzwischen zu einem erfahrenen Troubleshooter geworden. Seit Ende Mai 2014 regiert der ehemalige Boxweltmeister die ukrainische Hauptstadt. Nur ein paar Wochen länger dauert der Krieg gegen pro-russische Separatisten und ihre russischen Helfer im Donbas rund 650 Kilometer im Osten. Seit 7 ½ Jahren kämpft Klitschko gegen russische Desinformations-, Panik- und Cyberattacken, dazu immer wieder Bombendrohungen gegen Metrostationen und andere Einrichtungen des öffentlichen Lebens.
Nun fordert der Stadtvater seine Bürger zur Ruhe und Besinnung auf, angesichts der erneuten russischen Truppenkonzentration nun auch rund 200 Kilometer nördlich rund um Brjansk und auch auf grenznahem belarusischem Gebiet. Die Spitäler seien trotz der Corona-Krise auf Notfälle vorbereitet, versichert Klitschko.
Gut 2,8 Mio. Einwohner zählt Kiew offiziell, dazu kommen laut Schätzungen mehrere Hunderttausend Unangemeldete. Für jeden der 2,8 Mio. Steuerzahlenden steht laut dem Rathaus eine Notunterkunft zur Verfügung. Bei 500 Objekten handelt es sich um Bunker vor allem aus der Sowjetzeit. 4500 weitere Massenunterkünfte haben heute eine andere Funktion, von Banken über Parkgaragen bis zu Unterführungen, doch im Notfall werden Feldbetten eingebaut. Bis zu einem Monat soll dort die Stadtbevölkerung im Kriegsfall ausharren können.
Auf dem Papier ist die Lage rosiger als in der Realität
Das Kiewer Rathaus hat gerade online einen Notunterkunft-Stadtplan veröffentlicht. Rund 40 Aufrufe pro Minute verzeichnete die Webseite am ersten Tag. Online und auf Papier sieht alles gut aus; doch die Realität ist nicht so rosig. «Niemand weiß, wer überhaupt den Schlüssel zur Notunterkunft um die Ecke meines Wohnblocks hat», erzählt eine junge Kiewer Journalistin. Fotoreportagen lokaler Internetportale über die geplante städtische Notunterbringung zeigen, dass es manchen schnell zu eng werden könnte eingepfercht in Kellern und unterirdischen Garagen, zwischen tropfenden Leitungsrohren und oft über Jahrzehnte angesammeltem altem Hausrat.
Auch verfügen viele Notunterkünfte über keinerlei sanitäre Anlagen, und das Trinkwasser steht in 5-Literflaschen aus dem Supermarkt bereit. Dazu soll jede fünfte Notunterkunft eh unzugänglich sein, weil die Eigentumsverhältnisse unklar seien oder dort schlichtweg zu viel Müll gelagert wird. «Da analysiere ich lieber täglich die Situation», sagt die Kiewer Journalistin. Dazu habe sie ihre Camping-Ausrüstung geprüft, eine Notapotheke zusammengestellt und Bargeldvorräte in Hrywna, Euro und Dollar angelegt. «Auch will ich bald einen Erst-Hilfe-Kurs belegen», erzählt sie.
Jeder Kiewer soll laut Klitschkos Rathaus für den Fall einer russischen Invasion einen Notkoffer bereithalten. Dort sollen sich Dokumente, dringend benötigte Medikamente und «der Jahreszeit entsprechende Kleider» sowie Essensrationen für 1–2 Tage befinden. Zumindest in Gedanken gehen viele Kiewer auch schon mal durch, welche Verwandte oder Freunde sie in der Westukraine, Polen oder Westeuropa haben. «Meine Familie hat ein Haus ohne Wasseranschluss weit außerhalb von Kiew, vielleicht wäre das ein möglicher Unterschlupf», überlegt die junge Kiewer Journalistin, die nicht an eine russische Invasion glauben will.
Welche Rolle spielt die Zivilverteidigung?
Viel geschrieben wurde in der Lokal- und ausländischen Presse über das neue Gesetz zur Zivilverteidigung und deren Trainings. Doch nur gerade 600 Kiewer sollen sich laut lokalen Medien in ihrer Freizeit auf eigene Kosten zu künftigen Partisanen im Falle einer russischen Besetzung der Ukraine ausgebildet haben. Weitere 400 Freiwillige werden gerade händeringend von Rathaus gesucht. Rund 100.000 ausgebildete Zivilverteidiger gibt es bereits in der Ukraine. Jeder zehnte Ukrainer lebt laut Schätzungen in der Hauptstadt Kiew, doch nur einer von 100 Territorialverteidigern.
Sorgen bereitet den ukrainischen Militärstrategen auch der große Stausee im Norden der Stadt, das 110 Kilometer lange so genannte Kiewer Meer. Dessen 41 Kilometer lange Damm wird inzwischen von der regulären Armee bewacht, doch gelänge den Russen oder Belarusen ein Anschlag auf die Staumauer, könnten weite Teile Kiews überschwemmt werden.