Flucht aus der Ukraine: Tränen an der Grenze
Unser Reporter hat Menschen begleitet, die mit dem Zug aus der ukrainischen Stadt Lwiw ins Nato-Land Polen geflohen sind
Seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine sind laut Angaben der Vereinten Nationen bereits knapp 300.000 Menschen vertrieben worden. 160.000 Menschen seien innerhalb ihrer Heimat auf der Flucht, berichtete das UN-Nothilfebüro Ocha unter Berufung auf das Flüchtlingshilfswerk UNHCR. 116.000 Menschen seien in Nachbarländer geflohen, vor allem nach Polen. Laut der Regierung in Warschau wurden bereits 100.000 Flüchtlinge aufgenommen. Die ersten Kriegsflüchtlinge hat Weltreporter Paul Flückiger am Donnerstag von Lwiw (Ukraine) nach Przemysl (Polen) begleitet. Sein Bericht vom 24.2. erschien zunächst in der NZZ am Sonntag.
Veronika sitzt im Bademantel im Frühstückssaal des Hotels. Sie hat die Sirenen gehört, doch wie schon gestern (Stand 24.2.) behauptet sie: „Das ist eine Verschwörung; das ist alles Fake". Ihr Kollege hat die neuste Karte der russischen Raketenangriffe aus dem Internet gezogen. Die Angriffe sind mit roten Sternen markiert – und zwei davon befinden sich in der Nähe der westukrainischen Metropole. „Keine Sorge, es wird alles wieder gut", sagt Veronika. Morgen sei der ganze Zauber vorbei, erklärt die junge IT-Spezialistin aus Kiew.
Panikkäufe in der Innenstadt
Begonnen hatte es kurz nach 5 Uhr morgens mit einem ungewöhnlich grossen Verkehrsaufkommen vor dem fast 230-jährigen Hotel „Georges". Die nach der Freiheit benannte Prachtmeile von Lwiw (Lemberg) füllte sich mit innenstädtischen Panikkäufern, die in die 24-Stunden-Supermärkte am Stadtrand türmten, kaum hatte Russland die Ukraine angegriffen. Im ganzen Land wurden die letzten Billete für die beiden Züge aus der Hauptstadt Kiew in die polnische Grenzstadt Przemysl gekauft. Um 5.40 Uhr gab es noch 188 Plätze in der zweiten Klasse für den späteren Zug; gegen 6 Uhr waren alle Plätze in beiden Zügen weg.
Wegen eines Raketenangriffs bei Schitmir würden keine Züge mehr fahren, hiess es am Morgen. Die Stadt schien wieder in ihren üblichen Gang versunken. Erste Spaziergänger flanierten in der Morgensonne.
Der Schwarz-Devisenhändler vom Dienst, der 63-jährige Oleh, seit Sowjetzeiten im Geschäft, kippt im „George" seinen dritten Wodka und klagt über die schlechten Geschäfte. Die ukrainische Landeswährung Hrywna hat bereits massiv abgegeben. „Wenn sie mir eine Kalaschnikow geben, schiesse ich noch ein paar Russen ab, bevor sie mich umbringen", sagt Oleh. Seit heute besteht er auf dem Ukrainischen, gestern noch hat er munter auch Russisch gesprochen.
Hoffnung, in Polen online weiterarbeiten zu können
„In fünf Tagen könnt ihr wieder zurückfahren", sagt ein lokaler Firmenvertreter vor dem Hotel. Er rät den für die nächste Nacht erwarteten Raketenbeschuss des hiesigen Zivilflughafens und der Armeebasen in sichereren Gegenden abzuwarten. Gäste haben sich das „Opti"-Taxi zum Bahnhof bestellt, eine Art ukrainischer Uber. Wer dort apokalyptische Szenen erwartet hat, wird des Besseren belehrt. Von Panik keine Spur.
Stoisch nehmen die meisten hin, dass sämtliche Züge in den Westen oder die Karpaten restlos ausverkauft sind. Auch kann man auf dem ganzen Bahnhofsgelände am frühen Nachmittag nichts mehr zu Essen kaufen. Einzig das Mineralwasser der nahen Heilquelle in Truskawets ist noch erhältlich.
Wider Erwarten verkehren die Züge aus der Hauptstadt Kiew ins polnische Przemysl noch, doch beide hochmodernen Kompositionen haben laut Auskunft mindestens zweieinhalb Stunden Verspätung. Auf dem Bahnsteig warten gut gekleidete Reisende mit eher wenig Gepäck, auffallend viele junge Eltern mit Kindern. Maria ist mit ihrem Sohn zuerst von Kiew ins westukrainische Lwiw gezogen; am Mittwoch hat sie entschieden ein Billet nach Przemysl zu kaufen.
„Ich folgte einfach meinem Gefühl", sagt die junge Versicherungsmanagerin. Sie will weiter nach Krakau, wo Bekannte auf sie warten. Ihren Job kann sie von dort aus online erledigen. Der zehnjährige Lutschesar soll von Polen aus weiterhin die Corona-bedingte Online-Schule in Kiew besuchen.
Liebesschwüre zum Abschied
Zug Nummer 715 trifft schliesslich nach 3 Stunden 36 Minuten bangem Warten in Lwiw ein. Vor dem Bahnhof sind in der Zeit ein paar Sonderpolizisten mit langen Gewehren aufmarschiert. Sie patrouillieren unauffällig. Auf Peron 1 sind derweil die einzigen Uniformierten die ukrainischen Grenzwächter. Auf die aufwendige Billet- und Covidpass-Kontrolle beim Einstieg wird verzichtet, bald gleitet der Zug fast schwerelos durch Dörfer und über Felder 70 Kilometer nach Richtung Polen.
Bleischwer sind einzig die Gespräche der Reisenden, untereinander – und mit ihren Liebsten, die in der Ukraine zurückgeblieben sind. Wasili darf nur ins Ausland ausreisen, weil seine Tochter unter drei ist. „Andernfalls könnte ich schon morgen in die Armee eingezogen werden“, sagt der junge Vater. Ins Telefon haucht er Liebesschwüre nach Winnitsa, wo auch ein 5-jähriger Sohn mit seiner Frau zurückgeblieben ist. Er wird bei Lodz (Lodsch) in einer Hühnerfarm arbeiten. Die Ausreise sei etwas früher als geplant wegen Putins „Spinnereien“, aber er hätte eh in den nächsten Tagen nach Polen fahren sollen.
Grenzkontrolle auf dem Gleis
Am Grenzbahnhof Schehyni ist es draussen bereits stockdunkel. Ein Kilometer sind es noch nach Polen – und damit in die Sicherheit – doch der Zug bleibt ungemein lange stehen. Wasili zeigt auf dem Smartphones Fotos seiner Kinder auf dem Schlitten im Schnee, der zehnjährige Lutschesar brabbelt munter vor sich hin; Maria dagegen ist ganz weit anderswo, dicke Tränen kullern über ihre Wangen, sie verschmieren das schwarze Make-Up, es ist ihr egal.
Dann endlich geht es weiter. Die polnische Grenzkontrolle soll doch nicht im Zug stattfinden, sondern auf dem Peron, wird informiert. Alle stehen ruhig Schlange, bis sie an der Reihe sind. An ein paar bewaffneten aber auffallend freundlichen Grenzschützern vorbei geht es zu Passkontrolle und Zoll.
Doch davor ist das Gitter, und dahinter Polen: Dort lauern sie mit ihren Kameras, nationale und internationale TV-Teams, und filmen die ukrainischen Kriegsflüchtlinge und Gastarbeiter – wie wilde Tiere auf einer Safari.