Der Traum vom Flieger

Zwei Brüder haben in Nablus ein unmögliches Restaurant möglich gemacht

vom Recherche-Kollektiv Weltreporter:
6 Minuten
So sah die Boeing 707 bei Nablus im Westjordanland lange Zeit aus.

Der Himmel über dem Westjordanland ist leer, wenn nicht gerade ein israelischer Jet durch die Wolken donnert – einen Flughafen haben die Palästinenser nicht. Ausgerechnet eine israelische Militärmaschine bedient jetzt den Traum vom Fliegen. Abgehoben wird zwar nicht, dafür gibt es Bordverpflegung – und natürlich Wasserpfeifen.

„Asafir bila ajniha“ – Vogel ohne Flügel, nannte der palästinensische Nationaldichter Mahmoud Darwisch seinen ersten Gedichtband. Er hatte den Band in jungen Jahren geschrieben, aufgewühlt vom Schicksal seines Volkes nach der Nakba, der Flucht und Vertreibung der Palästinenser im israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948. Der Traum der palästinensischen Unabhängigkeit liegt seitdem am Boden, wie ein Vogel mit gestutzten Flügeln.

Gut zwanzig Jahre lag da tatsächlich mitten im Westjordanland vor der Stadt Nablus – wie ein Symbol für den gescheiterten Traum – ein Flugzeug ohne Tragflächen. Genauer gesagt, eine Boeing 707. Ein gewaltiger Rumpf, aufgebahrt auf rostzerfressenen Pfosten, die Fenster schwarze Löcher, spitzte seine Nase über einen Unkrauthügel. Die Tragflächen verrotteten dahinter im Gras. Drumherum jede Menge Schrott.

Es war ein Flugzeug, für das es große Pläne gab. Auf einem der zwei Hügel über Nablus sollte es stehen. Ein Wahrzeichen für die Stadt sein, eine Touristenattraktion, und ja: ein Symbol für die ersehnte Freiheit. Doch dazu später.

Fliegende Objekte verheißen hier selten etwas Gutes

Verwunschene Flugzeugwracks gibt es einige auf der Welt, aber für die Palästinenser war die Boeing am Straßenrand ein besonders kurioser Anblick. Fliegende Objekte verheißen hier selten etwas Gutes. Der Himmel ist leer, oder er zittert. Hier gibt es keine Segler, Paraglider, oder Heißluftballons, geschweige denn Passagierflugzeuge – sondern nur die Jets, Helikopter und Überwachungs-Drohnen der israelischen Armee.

Selbst die 300 Millionäre, die angeblich in Nablus leben, müssen ins jordanische Amman reisen, um ein Flugzeug von innen zu sehen, oder nach Tel Aviv – vorausgesetzt sie haben einen Passierschein. Zwar gehörte der Bau eines eigenen palästinensischen Flughafens zu den Vereinbarungen des Friedensprozesses von Oslo 1993. Allerdings wurde die Landebahn in Gaza schon kurz nach der Fertigstellung von Israel wieder aufgerissen. Die Zweite Intifada war ausgebrochen.

Die Al-Seirafi-Brüder vor ein paar Jahren im Flugzeuggerippe.
Die Al-Seirafi-Brüder vor ein paar Jahren im Flugzeuggerippe.

Wer in den letzten 20 Jahren nun zufällig auf die Boeing 707 vor Nablus stieß, und ein bisschen näher heran trat, dem bot sich wahrscheinlich gleich noch ein weiteres Spektakel: Die Begegnung mit den Al-Seirafi-Brüdern.

Ata und Khamis, heute 61 Jahre alt, eineiige Zwillinge, Schrotthändler – und Flugzeugbesitzer. Die Brüder sind im nahen Flüchtlingslager zu Hause, ziehen sich jeden Tag genau gleich an – angeblich zufällig – bewegen sich grundsätzlich hüpfend, ein Eindruck, der durch ihre stattlichen Bäuche noch verstärkt wird, und erzählen ihre Geschichte nicht nur simultan, sondern auch sehr laut. Kein Wunder, dass beide ständig heiser sind. Damals ließen sie Besucher gern über eine wacklige Leiter in den ausgeweideten Flugzeugbach steigen. Durch die Fensterhöhlen sah man dann das grün gesprenkelte Hügelland, fühlte sich wie in einem Baumhaus, und ließ sich anstecken von der Begeisterung der Al-Seirafis.

„Hier Tische!“, brüllte einer. „Da Stühle!“, der andere. „Shishas. Fisch. Hummus.“ Die Stimmen überschlugen sich. „Coca-Cola“, flüsterten Ata oder Khamis verheißungsvoll. Und dort draußen, wo man eigentlich die Tragflächen sehen sollte: „Eine Musik-Kapelle!“

Wo gäbe es das schon, ein Flugzeug-Restaurant?

Nur etwas Geld bräuchten sie noch, um das Flugzeug wieder in Form zu bringen. Dann würden sie es auf einen der Berge vor Nablus stellen. Von Weitem würde man es sehen. Touristen aus aller Welt würden an den Tischen sitzen und speisen. Wo gäbe es das schon, ein Flugzeug-Restaurant? „In ein paar Jahren“, würde Ata sagen. „Schwai, schwai – Schritt für Schritt“, sein Bruder Khamis.

Immerhin hatten sie schon einiges durchgemacht für ihren Traum – genau wie ihr Flugzeug.

ein Flugzeug auf einem Ständer [AI]

Gebaut wurde die Boeing Anfang der 60er für die französische Fluggesellschaft Air France, im Cockpit sind noch die französischen Beschriftungen zu erkennen. In den späten Siebzigern wurde sie dann an die israelische Luftwaffe verkauft, und brachte während des Jom Kippur-Kriegs als Transportflugzeug Soldaten in das Gebiet des umkämpften Sinai.

Die Al-Seirafi-Brüder erzählen jedoch lieber eine andere Geschichte: Nämlich, dass Israels Premier Menachem Begin 1979 mit ihrem Flugzeug in die USA geflogen sein soll, um den Friedensvertrag mit Ägypten zu unterzeichnen. Und auch Golda Meir, Shimon Peres und Jitzchak Rabin seien irgendwann einmal in der Kabine gesessen.

„So verrückt, dass er einfach funktionieren muss“

Als die Maschine schließlich ausgedient hatte, kauften sie israelische Geschäftsmänner, um sie als Attraktion nahe eines Luftwaffenstützpunkts in Galiläa aufzustellen. Allerdings gab es dort Probleme mit der Naturschutzbehörde, und so bekamen die Zwillinge schließlich von der Boeing 707 Wind – und fassten einen Plan . „So verrückt, dass er einfach funktionieren muss“, wie Khamis sagt: „Ein Flugzeug-Restaurant in Palästina!“

Ihr Schrotthandel lief gut, und so riskierten sie die Investition von 100.000 Dollar für den Kauf des Flugzeugs und weitere 50.000 Dollar für den komplizierten Transport aus Israel in das Westjordanland. 13 Stunden verlangte das Unterfangen, abmontierte Flügel, und gesperrte Hauptstraßen. Damals sprach man noch vom Frieden, und so gab es immerhin keine Militär-Checkpoints zu umrunden.

„Ich sehe einen Vogel, der mich trägt und dich trägt, wir sind seine Flügel, jenseits des Traumes, auf einer Reise, die keine Ende hat und keinen Anfang, keinen Zweck und kein Ziel. (…) “ Mahmoud Darwish

Doch nicht nur der palästinensische Flughafen in Gaza fiel dem Konflikt zum Opfer, auch das so unverhofft bei Nablus gestrandete Flugzeug-Restaurant blieb erstmal ein ferner Traum.

Nur ein Jahr nach dem Kauf begann die Zweite Intifada, Nablus galt als Hochburg der Selbstmordattentäter und wurde von israelischen Soldaten belagert. Der Sperrwall wurde hochgezogen und das Westjordanland fiel in eine schwere Wirtschaftskrise. Neben dem Schrottplatz wurden israelische Soldaten stationiert, eine Weile zelteten sie sogar unter dem allmählich rostenden Rumpf der Boeing.

Die Al-Seirafi-Brüder auf ihrer Boeing 707 vor der Renovierung.
Die Al-Seirafi-Brüder auf ihrer Boeing 707 vor der Renovierung.

Ausgerechnet 2020, in dem Jahr, in dem die ganze Welt stillstand und nicht nur die Palästinenser auf Flugreisen verzichten mussten, war es endlich so weit: Die Al-Seirafis hatten genug Geld beisammen, um die Renovierung anzugehen.

Seit diesem Sommer trägt das Flugzeug wieder seine Schwingen. Frisch lackiert ist die Boeing nun, leuchtend weiß, nur ihre Schnauze ist in den palästinensischen Farben gestrichen. Am Heckruder strahlt die jordanische Flagge – ein kleiner Wink an den Flughafen in Amman, der zwar nur 70 Kilometer Luftlinie entfernt ist, aber mit dem Auto über Checkpoints und Grenzübergang viele Stunden. Auf den Rumpf haben die Brüder in arabischen Lettern geschrieben: „Das palästinensisch-jordanische Airline Restaurant und Café Al-Seirafi Nablus“.

Dem Vogel sind Flügel gewachsen

Die wacklige Leiter haben sie mit einer originalen Einstiegstreppe ersetzt, die sie dem Ben Gurion-Flughafen bei Tel Aviv abgekauft haben. Auf den Berg hat es das Flugzeug zwar nicht geschafft. Aber wer nun hinaufklettert und sich in das renovierte Cockpit setzt, blickt nicht auf den Schrottplatz, sondern in das hinabfallende Tal – und meint tatsächlich, sich im Landeanflug zu befinden.

Das Restaurant konnten sie wegen der Pandemie noch nicht so opulent eröffnen wie geplant, und auch der geplante Vergnügungspark muss wohl noch auf einen Investor warten. Aber unter den Tragflächen kann man bereits sitzen und Sandwiches essen, oder eine Wasserpfeife rauchen, und für 1,50 Dollar gibt es ein Foto im Cockpit. Besonders bei Hochzeitspaaren ist das erste palästinensische Flugzeug beliebt als Kulisse.

Seit der Pandemie sind die Palästinenser doppelt so isoliert von der Welt. Nicht nur die Besatzung schnürt ihre Bewegung ein. Während Israel als Impfweltmeister von sich reden machte und großzügig Vakzine einkaufte, mussten die Palästinensischen Autonomiegebiete auf Spenden warten. Die Krankenhäuser sind überlastet und die Arbeitslosigkeit stieg enorm, als Israel ungeimpfte Palästinenser nicht mehr zum Arbeiten ins Land ließ. Als einzige Lösung blieben der Autonomiebehörde endlose Lockdowns.

Wer es in diesen Tagen nach Nablus schafft, mag zwar nicht über den Wolken schweben, aber doch für einen Moment ins Träumen geraten. In einem Vogel, dem Flügel gewachsen sind.

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