Atomkraft: Risse lähmen die französische Stromproduktion

Im Jahr 2022 produzieren französische Atomkraftwerke so wenig Strom wie seit 30 Jahren nicht. Ein Grund dafür sind Risse in sicherheitsrelevanten Leitungen. Doch die Krise sei viel „weitgreifender“ meint Atom-Analyst Mycle Schneider.

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Kühltürme des französischen Atomkraftwerks Cattenom im Abendlicht. Auch hier müssen Risse in einem sicherheitsrelevanten Rohrsystem repariert werden.

Frankreichs Atomkraftwerke schwächeln: Schon das ganze Jahr 2022 über liefern sie deutlich weniger Strom als üblich. Die Strom-Exportnation Frankreich importiert phasenweise elektrische Energie aus Deutschland.

Damit nicht genug: „Absolut kritisch“ könne die Situation werden, falls es einen kalten Winter gibt, meint Mycle Schneider, internationaler Atompolitik-Analyst, der in Frankreich lebt. Mehr als ein Drittel der französischen Wohnungen und Häuser werden elektrisch beheizt.

Schlagzeilen machte der Stromengpass in Frankreich vor allem im Sommer, da die Meiler auch wegen der Hitze gedrosselt wurden. Doch die Misere dauert an: Während des Oktobers leisteten französische Reaktoren durchschnittlich unter 30 Gigawatt statt der in diesem Monat üblichen gut 40 Gigawatt, wie das Marktanalyseunternehmen Kpler mitteilt. Besserung ist nicht in Sicht: Anfang November korrigierte der Energiekonzern EDF seine bisherige Prognose für die Stromerzeugung in 2022 nach unten.

„Abstriche bei der Sicherheit“

Eine wichtige Ursache für die anhaltende Stromknappheit: Risse in sicherheitsrelevanten Rohrleitungen mehrerer Reaktoren, die zu Abschaltungen, Inspektionen und aufwendigen Reparaturen führen. Die ersten Risse wurden im Dezember letzten Jahres in einem Reaktor des Kraftwerks Civaux entdeckt. Daraufhin wurden drei baugleiche Reaktoren abgeschaltet. „Vorsorglich“, lobt Mycle Schneider. An zwei davon zeigten sich später ebenfalls Risse. Bald entdeckten Inspektoren weitere Risse an einigen Reaktoren eines anderen Typs, von dem in Frankreich zwölf installiert sind. Diese seien nicht alle vorsorglich heruntergefahren worden, stellt Schneider fest. Für ihn ein Zeichen, dass der Betreiber EDF zugunsten der Versorgungssicherheit zunehmend Abstriche bei der Sicherheit mache.

Um Schneiders These einzuordnen, lohnt ein näherer Blick auf das Phänomen. Der Reaktorbehälter ist mit Wasser gefüllt. Dieses erhitzt sich durch die Energie, die bei der Kernreaktion frei wird. Das heiße Wasser strömt durch einen Rohrkreislauf zu einem Wärmetauscher. Nachdem es seine Hitze dort abgegeben hat, fließt es zurück in den Reaktorbehälter. Weil es die Wärme zur weiteren Nutzung abtransportiert, nennt man es Kühlwasser.

Ein Leck im Reaktorbehälter kann zu einem so genannten Kühlwasserverluststörfall führen. Der Reaktor würde abgeschaltet. Dennoch entstünde durch den Zerfall radioaktiver Spaltprodukte weiterhin Hitze. Wenn zu viel Kühlwasser aus dem Leck entwichen ist, kann die Hitze nicht mehr abtransportiert werden und es kann schlimmstenfalls zur Kernschmelze kommen.

Reaktortypen unterschiedlich anfällig für Risse

Um das zu verhindern, dockt ein weiteres Rohrsystem an den Kühlwasserkreislauf an, durch das im Fall eines Lecks neues Kühlwasser nachfließt. An diesem „Sicherheits-Einspeisesystem“ sind nun die Risse aufgetreten. Das sei sicherheitsrelevant, schreibt die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Garching auf ihrer Website. Würden die Risse im Betrieb eine gewisse Größe überschreiten, könnte die Leitung brechen, ein Kühlwasserverluststörfall würde eintreten. Gewissermaßen erweist sich die Sicherung als Achillesferse.

EDF hat betroffene Rohrstücke herausgenommen, um die Risse im Labor zu untersuchen. Sie entstehen demnach durch mechanische Spannungen, wie sie durch Temperaturunterschiede auftreten, vor allem nahe Schweißnähten. Das Design der Rohrsysteme, das bei verschiedenen Reaktortypen unterschiedlich ist, spielt auch eine Rolle. Die Risse waren weniger als einen bis sechs Millimeter tief, etwa ein Fünftel der Gesamtdicke von 30 Millimetern.

Über die vier bestätigten Fälle von Rissen hinaus wurden bislang Hinweise auf vier weitere Fälle gefunden, nur bei einem der bisher untersuchten Reaktoren gibt es Entwarnung. EDF will bis 2025 alle Reaktoren mit einem eigens entwickelten Ultraschallverfahren auf Risse hin prüfen.

Läuft die französische Flotte bis dahin unter erhöhtem Risiko? Nein, meint die französische Behörde für nukleare Sicherheit. EDFs Prüfstrategie sei „angemessen“, schrieb sie im Juli. Nur zwei Reaktortypen seien für die Risse anfällig, vor allem wegen des Designs ihres Sicherheits-Einspeisesystems. Diese würden nun priorisiert untersucht. Die anderen Typen, die die Mehrzahl der Meiler ausmachen, seien „wenig bis sehr wenig“ anfällig für diese Art Risse.

„Betreiber hat Kontrolle über Produktionsmittel verloren“

Mycle Schneider glaubt indessen nicht, dass die Krise damit ausgestanden ist. Sie sei „viel weitgreifender“. Das Grundproblem sei ein „degradierter“ Kraftwerkspark. „Die Risse sind nur obendrauf gekommen“, sagt der Atomkraftexperte. „Schon seit mehreren Jahren sinkt die Stromproduktion der französischen Atomkraftwerke stetig“, betont Schneider, der jährlich Statistiken zur weltweiten Nuklearindustrie veröffentlicht. Die historisch höchste Jahresproduktion Frankreichs lag bei 430 Terawattstunden im Jahr 2005. Im Jahr 2020 produzierten die französischen Atomkraftwerke fast hundert Terawattstunden weniger. Allein dieses Minus ist deutlich größer als die jährliche Atomstromproduktion Deutschlands. Dieses Jahr wird dieser Minusrekord laut Prognosen von EDF noch deutlich unterschritten.

Als einen Grund für die jahrelange Misere nennt Schneider Wartungen, die länger dauern als geplant. Das habe zu vielen ungeplanten Totalausfällen in der Stromproduktion geführt. „Der Betreiber hat die Kontrolle über die Produktionsmittel verloren“, urteilt Schneider. Ein strikter Sparkurs seit 20 Jahren – es fehlten oft Ersatzteile – und eine zu knappe Personaldecke hätten zu dieser Lage beigetragen, erklärt der Experte.

„Abenteuer“ Atomkraft

Der Betrieb der französischen Atomkraftwerke gehe zunehmend auf Kosten der Sicherheit, kritisiert er. Als Beispiel nennt Schneider einen Meiler in Cattenom. EDF wollte ihn trotz identifizierter Risse schnell wieder anfahren und die Schäden erst bei einer geplanten Abschaltung im nächsten Jahr reparieren. Allerdings drang der Konzern damit bei der Aufsichtsbehörde nicht durch, die die sofortige Reparatur verlangt, was den Stillstand bis mindestens Ende Februar 2023 verlängert.

Das derzeitige Schwächeln der französischen Atomkraftwerke könnte sich also in Zukunft wiederholen. Im Februar 2022 nannte der französische Präsident die Nutzung der Atomkraft in Frankreich ein „großes Abenteuer“. Eigentlich wollte Emmanuel Macron damit Lust auf eine „Renaissance“ dieser Energieform machen. Neun Monate später bietet sich eine andere Interpretation an.

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