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Ein Jahr nach Abschaltung: Risiko von katastrophalem Unfall im AKW Saporischschja deutlich gesunken
Ein Jahr nach Abschaltung: Risiko von katastrophalem Unfall im AKW Saporischschja deutlich gesunken
Die Atomexperten der Vereinten Nationen fordern, alle Kampfhandlungen um das größte Atomkraftwerk Europas einzustellen. Deutsche Experten halten eine Kernschmelze weiter für möglich, das Risiko ist ihnen zufolge seit der Abschaltung aber inzwischen niedriger
Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 steht das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja immer wieder im Zentrum von Kampfhandlungen. Deshalb beschäftigen sich Fachleute seit geraumer Zeit damit, wie groß die Gefahr ist, die von der Anlage ausgeht, und unter welchen Umständen es zu einer erheblichen Freisetzung von radioaktivem Material oder gar einer Kernschmelze kommen könnte. Welche Folgen hätte ein akuter Atomunfall zudem für die unmittelbare Umgebung und insbesondere auch für die Nachbarländer?
Das Kernkraftwerk wurde bereits Anfang März 2022, kurz nach dem Einmarsch der russischen Truppen, angegriffen und dann besetzt, wird aber weiter vom ukrainischen Stammpersonal betreut – gewissermaßen stehen russische Soldaten mit vorgehaltener Waffe hinter ihnen. Mehrfach geriet die Anlage unter Artilleriebeschuss, wofür sich die Kriegsparteien gegenseitig die Schuld gaben. Inspekteure der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) berichteten zuletzt Ende Juli 2023 über eine Verminung von mehreren Teilen der Anlage durch das russische Militär. Zudem wurde die Anlage bereits siebenmal vom ukrainischen Stromnetz getrennt, als zum Beispiel Stromleitungen oder Umspannwerke nach Beschuss ausfielen. Das erzeugt jeweils zusätzliche Unsicherheiten. Russland verstößt mit der Einbeziehung des Kernkraftwerks in kriegerische Handlungen gegen die Regeln der IAEA, die dies explizit verbieten. Auch die Genfer Konvention verbietet unter den meisten Umständen Angriffe auf kerntechnische Anlagen.
Appelle der UN fruchten bisher nicht
Am 11. September 2022 wurden die letzten Reaktorblöcke von Saporischschja vom Netz genommen. Seither kühlen sie ab. Laut Florian Gering, Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz am BfS, ist mit dem Abschalten eine grundlegend neue Situation entstanden. „Dadurch hat die Gefährdung der Menschen in der Ukraine, aber auch das Gefährdungspotenzial für Deutschland deutlich abgenommen“, sagt er. Im aktiven Betrieb blieben „vielleicht nur zwei Stunden, um eine Kernschmelze abzuwenden“, jetzt stünde dagegen im Ernstfall mehr als eine Woche zur Verfügung, um angemessen zu reagieren.
Im Mai verlangte IAEA-Chef Rafael Mariano Grossi vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, dass es „keine Angriffe von oder auf die Anlage geben darf und dass sie nicht als Lager oder Basis für schwere Waffen, etwa Mehrfachraketenwerfer, Artilleriesysteme und -munition sowie Panzer, genutzt werden dürfen“. Ende Juli 2023 sprach er von einem „erhöhten Risiko militärischer Aktivitäten in der Nähe des Kernkraftwerks Saporischschja“ und appellierte erneut an alle Seiten, „sich jeglicher Aktionen zu enthalten, die zu einem nuklearen Unfall mit möglichen Folgen für die öffentliche Gesundheit und die Umwelt führen könnten“. Bisher haben die Appelle aber nicht gefruchtet.
Der österreichische Atomexperte Nikolaus Müllner vom Institut für Sicherheits- und Risikowissenschaften der Wiener Universität für Bodenkultur hat jüngst in einer Kurzstudie dargelegt, was bei einem schweren Unfall im laufenden Betrieb passieren könnte. In den Berechnungen, die Müllner im Auftrag der ärztlichen Friedensorganisation IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War) anstellte, kommt er zu dem Ergebnis, dass bei einem Unfall im laufenden Betrieb in einem Umkreis von 20 bis 30 Kilometern eine Sperrzone geschaffen und die Bevölkerung evakuiert werden müsste. Während somit die schwersten Auswirkungen ausschließlich die Ukraine beträfen, könnten landwirtschaftliche Nutzflächen auch in Teilen von Ost-, Südost- und Mitteleuropa kontaminiert sein. Für seine Modellierung nahm Müllner an, dass bei einer Kernschmelze 20 Prozent des radioaktiven Isotops Cäsium-137 aus dem Reaktorkern entweichen würden. Deren Ausbreitung glichen er und sein Team mit langjährigen Wetterdaten ab. Die Studie ist bisher noch nicht von anderen Experten begutachtet oder in einem Fachmagazin publiziert worden.
Ärztevereinigung warnt vor Folgen eines Unfalls
Angelika Claußen, europäische Vizepräsidentin der IPPNW, warnte bei der Vorstellung von Müllners Studie: „Jede Kernschmelze, ob durch militärische Aktivitäten verursacht oder in Friedenszeiten durch technische Sicherheitsdefizite bedingt, führt zu schweren dauerhaften Schäden für die Umwelt und die menschliche Gesundheit, in einigen Fällen mit tödlichen Folgen.“ Sie forderte die Staatengemeinschaft auf, Angriffe auf Atomanlagen noch deutlicher zu verurteilen als bisher und deren Schutz vor Attacken zu verbessern.
Ähnlich wie Müllner hatte bereits im vergangenen Jahr das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) mögliche Auswirkungen einer Kernschmelze im aktiven Betrieb untersucht. Während Müllner zu dem Schluss kommt, dass Deutschland unbeschadet daraus hervorginge, hatte das BfS damals Kontaminationen landwirtschaftlicher Flächen im Bundesgebiet als möglich eingestuft. Massive Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung, wie Evakuierungen oder die Verabreichung von Jodtabletten, wären sowohl laut Müllners als auch den BfS-Berechnungen zufolge ausschließlich in der Ukraine nötig, aufgrund der großen Entfernung jedoch nicht in Deutschland oder Österreich. Doch auch der österreichische Experte sieht durch die Abschaltung das Risiko deutlich reduziert. „Da das Kernkraftwerk bereits seit einem Jahr abgeschaltet ist, hat sich die Zerfallswärme drastisch reduziert und man hätte im Fall einer beginnenden Kernschmelze länger Zeit, um zu reagieren“, sagt Müllner. Das heiße aber nicht, „dass große Freisetzungen unbedingt verhindert werden können“.
Bedarf an Kühlwasser durch Abschalten gesunken
Inzwischen ist die so genannte Zerfallswärme von anfänglich 3000 Megawatt pro Block auf nun weniger als 2 Megawatt gesunken, da die Kernspaltung schon länger zum Erliegen gekommen ist. Dadurch sinkt der Bedarf an Kühlwasser um mindestens den Faktor 100. Florian Gering zufolge verfolgt das BfS täglich, wie sich der Wasserstand im Kühlwasserbecken der Anlage entwickelt. Nach der Sprengung des Kachowka-Staudamms flussabwärts vom Kernkraftwerk hatte es zunächst die Sorge gegeben, das Kühlwasser könnte knapp werden. Dies ist aber bisher nicht der Fall. „Glücklicherweise ist da nur eine sehr geringe Veränderung zu sehen, die Wasserstände sinken lediglich im Zentimeterbereich“, sagt Gering. Im schlimmsten Fall könne man noch mit anderen Methoden kühlen, zum Beispiel mit Wasser aus Tanklastwagen oder über lange Schläuche aus dem Fluss, der ja immer noch durch das leer gelaufene Staubecken fließt. „Es ist mit simplen Maßnahmen möglich, eine Wasserversorgung sicherzustellen“, sagt Gering.
Zur Entspannung der Lage trägt nach Einschätzung des BfS-Experten zudem bei, dass seit dem Abschalten die für die menschliche Gesundheit besonders kritischen radioaktiven Isotope – vor allem Jod-131, das sich in die Schilddrüse einlagern kann – zerfallen seien. Nach Ansicht des BfS ist es derzeit unwahrscheinlich, dass bei einem Reaktorunfall so viel Cäsium-137 freigesetzt wird, wie Müllner in seinen Berechnungen angenommen hat. Selbst in Fukushima sei der Anteil geringer gewesen, sagt Gering. Wenn es dann noch einige Tage dauere, bis der Sicherheitsbehälter undicht werde, kondensiere ein Großteil der radioaktiven Stoffe an den Wänden und es würde nur noch ein viel kleinerer Anteil an radioaktiven Stoffen entweichen. „Bei derartigen Studien zu möglichen radiologischen Auswirkungen wird international ein deutlich geringerer Freisetzungsanteil für angemessen erachtet“ als in Müllners Modellierung, betont er.
Wie Müllner hält aber auch der BfS-Experte eine Kernschmelze weiterhin für möglich: „Dieses Risiko wird auch noch über Jahre bestehen bleiben.“ Erst dann seien die Reaktorkerne ausreichend abgekühlt, um sich nicht von selbst stark zu erhitzen. Für eine Schmelze müssten die Reaktorkerne aber für längere Zeit völlig sich selbst überlassen sein und mehrere Komponenten der Sicherungssysteme müssten gleichzeitig ausfallen.
Bundesamt für Strahlenschutz verfolgt die Lage rund um die Uhr
Das wäre zum Beispiel bei einer extremen militärischen Eskalation denkbar, bei der die Anlage für mehrere Wochen nicht betreten werden kann. In einem solchen Fall, sagt Gering, würde es im Umfeld der Anlage Gebiete geben, aus denen die Bevölkerung evakuiert werden müsste und die auch langfristig nicht mehr besiedelt werden könnten. Weht der Wind in einem solchen Szenario nach Westen, was im Durchschnitt an 60 Tagen im Jahr der Fall ist, könnten demzufolge auch in Deutschland Maßnahmen erforderlich werden, bestimmte landwirtschaftliche Produkte vom Markt zu nehmen, vor allem frische Milchprodukte und Blattgemüse.
Florian Gering geht davon aus, dass davon größere Gebiete betroffen wären, als Müllner in seiner Modellierung errechnet hat: „Nach BfS-Untersuchungen können auch in Gebieten, die deutlich niedriger kontaminiert sind, Maßnahmen im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion erforderlich werden, insbesondere wenn sich der Notfall im Frühsommer oder Sommer ereignet.“
Stabile Stromversorgung ist enorm wichtig
Das Kernkraftwerk Saporischschja liegt im Osten der Ukraine in der Nähe des Flusses Dnepr. Es besteht aus sechs Blöcken der von der früheren Sowjetunion seit 1975 entwickelten Baureihe WWER-1000. Die Blöcke mit einer Bruttoleistung von je 1000 Megawatt gingen zwischen 1984 und 1995 in Betrieb und bilden zusammen die größte kerntechnische Anlage zur Stromproduktion in Europa. Zu ihr gehört auch ein Kühlbecken für verbrauchte Brennstäbe und ein Trockenlager für mit Beton ummantelte Stahlbehälter mit alten Brennelementen. Insgesamt verfügt die Ukraine über vier Atomkraftwerke mit 15 Blöcken, die 2022 zusammen 60 Prozent der Stromversorgung deckten und damit etwa zehn Prozentpunkte mehr als vor Beginn des Kriegs. Die Atomkraftwerke Riwne, Süd-Ukraine und Chmelnyzkyj sind weiterhin in Betrieb.
Zusätzlich zur Abkühlung der Reaktorkerne, ausreichendem Kühlwasser und dem Zerfall von Jod-131 trägt nach Ansicht von Uwe Stoll, wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen und Reaktorsicherheit (GRS), „zur Entspannung der Lage bei, dass seit Anfang Juli wieder eine Reserveleitung zur Verfügung steht und es für die externe Stromversorgung jetzt zwei Wege gibt“.
Eine stabile Stromversorgung ist wichtig, um die Kühlung der Anlage zu sichern. Fällt sie aus, wie zuletzt mehrfach geschehen, müssen stationäre oder mobile Dieselaggregate zum Einsatz kommen. Stoll kritisiert an Müllners „Kurzstudie“ im Auftrag der IPPNW, dass darin von einem Ausfall aller Dieselaggregate ausgegangen würde, was unter aktuellen Bedingungen nicht realistisch sei. Er hält wie Gering die Annahme in der Modellierung, dass bei einem schweren Störfall 20 Prozent des Cäsium-137 freigesetzt würden, für überzogen. Seines Wissens seien in fünf der sechs Blöcke in Saporischschja kurz vor dem Krieg zusätzliche Ventile installiert worden, die bei Überdruck im Sicherheitsbehälter eine gefilterte Entlüftung bewirken. Wenn es zur Kernschmelze käme, werde der größte Teil des Cäsiums dadurch zurückgehalten. „Die Annahmen Müllners scheinen meines Erachtens insgesamt über ein aktuell mögliches Worst-Case-Szenario hinauszugehen – richtig beurteilen lässt sich das aber natürlich erst, wenn die ganze Studie veröffentlicht ist“, sagt Stoll. Die GRS gehört zu 46 Prozent der Bundesrepublik Deutschland und zu 46 Prozent den Technischen Überwachungsvereinen (TÜV). Weitere Anteile halten die Länder Nordrhein-Westfalen und Bayern.
Ein schwerer Unfall bleibt möglich
Dennoch hält auch Stoll die Situation in Saporischschja für „nach wie vor instabil und deshalb Besorgnis erregend“. Die Gefahr einer weiteren Eskalation des Kriegs sei immer gegeben. Wenn dabei zum Beispiel das Kühlwasserbecken zerstört werde, über mehr als vier Wochen kein Diesel für die Notstromaggregate geliefert werden könnte oder die Betriebsmannschaften ausfielen, entstünden erhebliche Risiken. Das ukrainische Personal stehe unter massivem Druck, was Fehler wahrscheinlicher mache. Es sei für das ukrainische Personal ungemein schwer, das Kraftwerk in einem sicheren Zustand zu halten. „Ringsum tobt Krieg und dort, wo die Familien wohnen, sind vielleicht Kampfhandlungen – da einen klaren Kopf zu behalten, stelle ich mir psychologisch sehr schwierig vor“, sagt Stoll.
Auch deshalb hält der GRS-Chef in Saporischschja durchaus „Ereignisse für möglich, die es nötig machen könnten, in der unmittelbaren Umgebung eine Sperrzone einzurichten, allerdings nicht in der Größenordnung von Tschernobyl oder Fukushima“. Dass im Extremfall zeitweise manche landwirtschaftlichen Erzeugnisse in Deutschland nicht konsumiert werden können, sei unter den jetzigen Umständen hingegen extrem unwahrscheinlich.