Habeck und Energiekonzerne über Weiterbetrieb von Kernkraftwerken einig
Mögliche Gewinne sollen in Energiewende fließen, Staat haftet für Verluste. Wirtschaftsminister Robert Habeck und Energiekonzerne einigen sich auf Fahrplan. Warnung vor Anschlägen auf Energieinfrastruktur
Die beiden Kernkraftwerke Isar-2 und Neckarwestheim II werden voraussichtlich bis Mitte April 2023 Strom produzieren, um die Versorgung von Haushalten und Unternehmen in Deutschland sicherzustellen. Es zeichne sich ab, dass die beiden Anlagen „wohl am Netz bleiben werden“, sagte Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Dienstagabend in Berlin. Damit weicht die Bundesregierung von dem bisher für den Atomausstieg geltenden Endtermin am 31.12.2022 ab. Zugleich warnte der Wirtschaftsminister vor möglichen Anschlägen auf die deutsche Energieinfrastruktur, die auch Kernkraftwerke treffen könnten.
Habeck sagte, es sei seine Aufgabe zu gewährleisten, dass auch unter schwierigen Bedingungen ausreichend viel Strom produziert werde. Vor allem durch die Situation in Frankreich, wo zahlreiche Kernkraftwerke auch in den kommenden Monaten nicht in Betrieb sein werden, entsteht dem Minister zufolge im Winter erheblicher Stress für das europäische Stromnetz. „Die Daten aus Frankreich haben sich in den letzten Wochen immer weiter nach unten entwickelt“, erklärte Habeck.
Energieinfrastruktur mögliches Ziel von Angriffen
Deutschland und Frankreich sind durch ein gemeinsames Stromnetz miteinander verbunden, in dem sich für einen stabilen Betrieb der Verbrauch und die Einspeisung immer die Waage halten müssen. Geschieht dies nicht, kann es im Extremfall zu einem Black-out kommen. Dieser lässt sich dadurch verhindern, dass entweder weniger verbraucht oder mehr Strom produziert wird. Der Weiterbetrieb von Atomkraftwerken erhöht die Stromproduktion um bis zu 3, 7 Milliarden Kilowattstunden. Das entspricht dem Jahresverbrauch von 1, 5 Millionen durchschnittlichen Haushalten.
Um die beiden Anlagen Isar-2 und Neckarwestheim II betriebsbereit zu halten, einigte sich Habeck am Dienstag mit den Betreibern, den Energieunternehmen EON und EnBW auf Eckpunkte für die kommenden Monate. Demnach werden die Betreiber ihre Anlagen darauf vorbereiten, dass sie „über den 31.12.2022 hinaus bis längstens zum 15.04.2023 weiter im Markt betrieben werden können“.
Atomkraft „bleibt eine Hochrisikotechnologie“
Habeck und die Betreiber einigten sich auch darauf, wie mit möglichen wirtschaftlichen Verlusten oder Gewinnen bei einem Weiterbetrieb umgegangen wird. Sollten Gewinne entstehen, verpflichteten sich die Betreiber dazu, diese in den weiteren Ausbau von erneuerbaren Energien zu investieren. Sollte es zu Verlusten kommen, etwa wenn aufwändige Vorbereitungen getroffen, aber die Strommengen nicht abgerufen werden, dann zahlt der Staat den Energiefirmen einen Ausgleich.
Georg Stamatelopoulos, EnBW-Vorstand für nachhaltige Erzeugungsinfrastruktur, nannte dies eine „faire Regelung“. Erträge „konsequent der Energiewende zugutekommen zu lassen, ist im besten Interesse von Klimaschutz und Versorgungssicherheit“, erklärte er in einer Stellungnahme. Die Betreiber sollen dem Eckpunktepapier zufolge für ihre Anlagen weiter wie bisher haften, sollte es zum Beispiel zu einem Unfall kommen.
Habeck sagte bei seiner Pressekonferenz auch, dass der Atomausstieg grundsätzlich richtig sei. Atomkraftwerke seien eine „Hochrisikotechnologie“. Sie gehörten zur kritischen Infrastruktur und gehörten damit zu potenziellen Zielen von möglichen Angreifern. Der Minister äußerte sich ausdrücklich nicht zu der Frage, ob auf die beiden Erdgas-Pipelines Nord Stream 1 und 2, die Leckagen aufweisen, Anschläge verübt worden sein könnten. Dies werde geprüft. Er warnte aber mögliche Aggressoren davor, die Energieinfrastruktur ins Visier zu nehmen: „Deutschland ist ein Land, das sich zu verteidigen weiß und das tun alle Behörden unter hoher Anspannung.“
In der Nacht auf Montag war zunächst in der nicht genutzten Pipeline Nord Stream 2 ein plötzlicher Druckabfall registriert worden, später dann auch in der derzeit von Russland gesperrten älteren Pipeline Nord Stream 1, die bis vor kurzem auch Deutschland mit Erdgas versorgt hat. Dänische Sicherheitskreise sprechen inzwischen von möglichen unterseeischen Explosionen südlich der Insel Bornholm als Ursache für Leckagen. Große Mengen austretenden Erdgases gelangten am Dienstag an die Meeresoberfläche.
AKW Emsland wird Ende 2022 stillgelegt
Die deutsche und europäische Energieversorgung ist von großer Unsicherheit und dem Risiko von Versorgungsengpässen geprägt, seit Russland im Februar sein Nachbarland Ukraine angegriffen hat und einmarschiert ist. Steigende Energiepreise und weitere Stressfaktoren haben zu der Debatte geführt, die Kernkraftwerke über den von Union und FDP beschlossenen Atomausstiegstermin Ende 2022 hinaus weiterzubetreiben. Zu den Stressfaktoren gehören niedrige Wasserpegel in Flüssen, die eine Versorgung von Kraftwerken mit Kohle erschweren sowie umfangreiche Wartungsarbeiten in französischen Kernkraftwerken.
Die Bundesregierung behält sich der Einigung zufolge zwar grundsätzlich vor, beide Anlagen Isar-2 und Neckarwestheim II gleich dem dritten derzeit noch aktiven Kernkraftwerk im Emsland zum 31.12. endgültig stillzulegen. Habeck machte bei seinem Auftritt aber deutlich, dass er nicht mit einem solchen Szenario rechne. Es sei „eine Annahme, die ich heute treffen muss, dass die beiden AKWs auch 2023 am Netz sein werden“, sagte der Minister.
Ursprünglich wollte Habeck erst Ende des Jahres eine solche Aussage machen. Warnungen von Experten, dass die Reaktivierung von Reaktoren mit erschöpften Brennelementen ohne langfristige Vorausplanung zu Sicherheitsproblemen führen könnten, haben den Zeitplan verändert. So hatte der Chef der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS), Uwe Stoll, im RiffReporter-Interview gewarnt, dass es mit dem ursprünglich von Habeck geplanten Reservebetrieb in Deutschland „keine Betriebserfahrung“ gebe und es unklar sei, wie ein Reaktor reagiere. Die jetzige Lösung gibt den Betreibern ausreichend Zeit, sich auf einen Weiterbetrieb vorzubereiten. Noch im Oktober soll der Bundestag über die nötigen Gesetzesänderungen entscheiden. Habeck droht dabei eine kontroverse Diskussion in der eigenen Partei, da viele Grüne am Atomausstieg zum 31.12.2022 festhalten wollen.
Mit der Einigung vom Dienstag zeichnet sich ab, wie es mit den drei verbleibenden Kernkraftwerken weitergeht. Das Kernkraftwerk Emsland wird planmäßig zum 31.12. heruntergefahren und dann stillgelegt.
Der Reaktor Isar-2 wird für einen Weiterbetrieb im Oktober kurzzeitig stillgelegt, um notwendige Wartungsarbeiten durchzuführen. Vor allem geht es dabei um die Reparatur an Ventilen, die betriebsbedingt erneuert werden müssen. Danach könnte die Anlage ohne Unterbrechung bis Anfang März weiterlaufen, sofern die Regierung das für erforderlich hält. Sollte Isar-2 bis Mitte April laufen, müsste die Anlage nochmals vier bis sechs Wochen für eine Sicherheitsüberprüfung abgeschaltet werden. Dieses Szenario hält das Bundeswirtschaftsministerium für „nicht sinnvoll“.
Der Reaktor Neckarwestheim II werde auf jeden Fall zum 31.12. für zwei bis drei Wochen zunächst heruntergefahren, teilte der Betreiber EnBW am Dienstag mit. Dies ist notwendig, um den bereits weitgehend erschöpften Reaktorkern mit leistungsstärkeren Brennelementen aus der Reserve zu bestücken. „Aufgrund der sinkenden Reaktivität des Reaktorkerns ist nach einem Abschalten zum Jahresende 2022 ein Wiederanfahren des Reaktors mit demselben Kern (…) nicht möglich“, heißt es im Eckpunktepapier. Dann könnte der Reaktor nämlich nicht sicher wieder gestartet werden.