Mastodon statt Twitter? Was Musk-Flüchtige in dem alternativen Sozialen Medium erwartet

Multi-Milliardär Elon Musk wird zum Alleinherrscher von Twitter. Viele Menschen suchen nun nach Alternativen und probieren Mastodon aus. Was erwartet einen im „Fediverse“?

8 Minuten
Bildschirmoberfläche eines Smartphones mit der Mastodon-App und Wappentier der Firma vor blauem Hintergrund

Huch, was stimmt nicht mit dieser Timeline? Woher soll ich hier wissen, was wichtig ist?

So geht es derzeit vielen Menschen, die bisher Twitter genutzt haben, aber nun auf der Suche nach einer Alternative sind, weil sie die Vorstellung schreckt, dass der selbsternannte „technoking“ Elon Musk nun nach erfolgreicher Übernahmeschlacht uneingeschränkter Herrscher der Social-Media-Plattform wird. Musk inszeniert sich als Vorkämpfer für „Meinungsfreiheit“ – doch das könnte nicht den zivilen Diskurs stärken, sondern all jene, die Twitter zum Trollen, Polemisieren, für offene oder verdeckte Drohungen und Desinformation nutzen.

Auf Twitter trendete deshalb in den vergangenen Tagen ein ungewohnter Hashtag: #Mastodon. Und auf der Plattform wiederum trendete der Hashtag #neuhier.

Laut Mastodon-Gründer Eugen Rochko hat das Netzwerk seit dem Einstieg Musks bei Twitter bis zum 29. April knapp 94.000 neue Nutzerinnen und Nutzer hinzugewonnen und die Zahl der aktiven Nutzer*innen hat sich um knapp 107.000 erhöht. Rochko spricht von einem Zuwachs der aktiven Nutzerinnen und Nutzer auf Mastodon um 42 Prozent, was auch zeigt, wie groß der Abstand zu den rund 220 Millionen Menschen auf Twitter noch ist.

Klar ist in jedem Fall, dass die Neulinge auf Mastodon nicht einfach eine Kopie von Twitter erwartet.

Wir sind bequem geworden – und fremdbestimmt

Der Wechsel von den gewohnten sozialen Netzwerken wie Facebook und Twitter ins sogenannte „Fediverse“, zu dem Mastodon gehört, kann durchaus Verunsicherung auslösen.

Das Fediverse – so etwas wie das exakte Gegenteil von Mark Zuckerbergs „Metaverse“ – erklären wir später genauer, hier nur kurz: Mastodon ist wohl die bekannteste App im Fediverse und ist auf den ersten Blick Twitter sehr ähnlich. Es gibt eine Timeline, man kann Beiträge liken, teilen und kommentieren. Aber schnell werden die Unterschiede klar: Die Timeline ist nicht algorithmisch gesteuert, wie bei anderen sozialen Medien. Beiträge der Menschen, denen eine Nutzerin folgt, erscheinen einfach chronologisch.

Wer hier neu ist, ist erstmal ein bisschen ratlos. Die eigene Timeline ist leer – wem soll ich folgen?

Normalerweise ist es ja so: Man beginnt, einigen zu folgen und schon hält der Algorithmus mehr oder weniger passende Vorschläge bereit für das, was einen auch noch interessieren könnte. Das klappt hier nicht, denn es gibt keinen Algorithmus. Ja muss ich denn hier alles selbst machen? Und wie geht das eigentlich?

Die ersten Schritte im Fediverse, in dem Vieles gleich und Entscheidendes anders ist, lassen mich spüren: Soziale Medien lassen uns verlernen, selbst zu bestimmen, was uns interessiert. Das kann sehr bequem sein, aber es ist massiv fremdbestimmt. Und: Es ist gefährlich.

Deshalb war der Ausgangspunkt dieser Recherche die Frage: Wie könnte ein besseres Facebook und Twitter aussehen? Schließlich zeigt sich immer deutlicher, dass die Mechanismen hinter den großen sozialen Netzwerken dazu führen, dass Hassrede und Falschmeldungen verstärkt werden. Und im Nachgang der Enthüllungen, wie besonders Russland und Rechtspopulisten Daten und Mechanismen von Facebook missbrauchen, wurde auch klar, dass sich der Konzern darum eigentlich nicht schert, trotz anderslautender Beteuerungen. Im Gegenteil: Facebooks Fokus auf Wachstum führt dazu, dass Facebook nicht gut sein kann.

Viele Versuche, dem Algorithmus zu entkommen

Wie geht es also anders? Immer wieder gab es Initiativen, „gute“ soziale Netzwerke im gesellschaftlichen Sinne zu schaffen, die nicht polarisieren, Hassrede nicht groß werden lassen und stattdessen eine gesunde Diskussionskultur ermöglichen.

Der US-Künstler Ben Grosser hat beispielsweise das Netzwerk „Minus“ entwickelt, dessen Nutzerinnen und Nutzer nur insgesamt 100 Posts zur Verfügung haben. Das soll dazu führen, dass Nutzerinnen und Nutzer sehr genau überlegen, was sie posten – denn mit jedem Post haben sie einen weniger zur Verfügung – für das ganze Leben, wie Grosser betont. Lediglich antworten auf andere Beiträge darf man unbegrenzt. Zudem gibt es keine Likes oder Zahlen über Follower und ähnliches.

Was gepostet wird, hängt also nicht von einer Vorstellung ab, wie andere darauf reagieren könnten. Minus belohnt also im Idealfall wohldurchdachte Posts, die eine Unterhaltung fördern. So habe menschliche Interaktion funktioniert, bevor es soziale Medien gab, erklärt Grosser: Wir seien nicht auf Parties gegangen und haben sie am Ende wieder verlassen mit einer Liste von Zahlen, die aussagen, wie andere uns gesehen haben. „Wir mussten anderen zuhören, darüber nachdenken, was sie sagten und darauf reagieren, wenn uns danach war.“

Immer wieder gab es Selbstversuche Einzelner, wie jener der Schriftstellerin Elan Morgan 2014, sich Likes zu verweigern und zu sehen, wie Facebook dann aussieht. „Wenn wir das Like weglassen, dann könnten wir uns vielleicht tatsächlich mögen“, schreibt sie (das Englische Wortspiel mit like und like funktioniert nicht auf Deutsch) – „wir könnten tatsächlich miteinander verbunden sein.“

Musk, ein Mann mit markanten Gesichtszügen, steht mit verschränkten Armen und einem entschlossenen Gesichtsausdruck vor einer schwarz-weißen Kulisse
Elon Musk bei der Eröffnung der Tesla-Fabrik in Grünheide bei Berlin Ende März 2022

Wer das konsequent ausprobieren möchte, könne die Browser-Erweiterung von Ben Grosser nutzen, den Facebook Demetricator, der alle Metriken auf Facebook entfernt, also Informationen darüber, wie viele Likes ein Beitrag hat, wie oft er geteilt wurde, wie viele darauf geantwortet haben. „Der Fokus liegt damit nicht mehr darauf, wie viele Freunde du hast oder wie sehr sie deinen Status mögen, sondern wer sie sind und was sie sagen“, schreibt Grosser.

Mastodon besteht aus vielen kleinen Heimatplaneten

Wer alle Ansätze, die soziale Medien besser und gesünder machen sollen, auf einmal ausprobieren will, kann es aber auch leichter haben und ins „Fediverse“ umsteigen. Dort verdient nicht nur kein Konzern an unserer Kommunikation, dort laufen auch die entscheidenden Dinge anders. Wer wissen will, wie ein gesellschaftlich gesünderes Facebook und Twitter aussehen könnte, kann hier beobachten, was sich verändert, wenn Algorithmen nicht in die Kommunikation eingreifen.

Was also ist das Fediverse? Es ist ein Universum alternativer sozialer Netzwerke, könnte man vielleicht sagen. Es ist eine eigene digitale Welt, bestehend aus vielen verschiedenen Angeboten, von denen das bekannteste sicherlich Mastodon ist, ein dezentrales soziales Netzwerk, das aus „Instanzen“ besteht. Die könnte man, um im Bild zu bleiben, als viele verschiedene kleine Heimatplaneten beschreiben, auf denen sich Menschen ansammeln, die irgendetwas gemeinsam haben, gemeinsame Themengebiete oder Interessen zum Beispiel.

Für sie gibt es eine eigene, sogenannte „lokale Timeline“ . Dort erscheinen alle Posts der eigenen Instanz. Dann gibt es die „föderierte Timeline“ – dort erscheinen alle Posts aller Instanzen, mit denen die eigene Instanz föderiert. Das sind in der Regel sehr viele, meist werden sie eher nach dem Ausschlussprinzip ausgesucht: keine Nazis etwa. Und es gibt die persönliche Timeline – also alle Posts derer, denen man selbst folgt.

Wer im Fediverse herumfragt, was denn dort besser ist, bekommt unisono zu hören: Keine Daten an Facebook, nette Kommunikation, es geht um Inhalt und: Wozu um Himmels willen möchte man eine algorithmische Timeline haben? Sie ist der Hauptunterschied zu anderen sozialen Medien – und das vermeidet gleichzeitig deren Hauptprobleme.

Wie Schlaglöcher auf einem ungefederten Fahrrad

Und in der Tat, schon nach wenigen Tagen auf der Mastodon-Instanz chaos.social erinnere ich mich an die früheren Zeiten auf Twitter, als die Timeline dort noch rein chronologisch war – und dass es damals eigentlich besser war. In der ersten Zeit nach der Umstellung auf Twitter habe ich mir damit geholfen, viele Twitterlisten anzulegen, denn die werden weiterhin chronologisch serviert.

Dann habe ich gemerkt, dass ich mein Verhalten verändere, um den Algorithmus zu beeinflussen, auf Twitter ebenso wie auf Facebook. Ich habe manche Beiträge nicht mehr geliked, obwohl ich es gerne getan hätte – weil ich die Person mag oder ihr zeigen wollte: ich denke an dich. Aber gleichzeitig interessierten mich deren Posts ansonsten weniger, und ich spürte ziemlich schnell die Gier des Algorithmus, etwas über mich zu lernen: ein Like, und ich bekam mehr von deren Posts zu sehen, ob ich wollte oder nicht.

Inzwischen nutze ich Twitter viel über Listen und interagiere weniger mit Beiträgen in der Timeline. Ähnlich auf Facebook. Doch das führt dazu, dass man den Algorithmus noch unmittelbarer „spürt“, wie Schlaglöcher auf der Straße auf einem ungefederten Fahrrad: Er wird aufdringlich. Sobald ich mit einem Beitrag interagiere, bekomme ich „mehr vom gleichen“. Der Algorithmus klammert sich an jedes Like wie an einen Strohhalm.

Von daher ist es im Fediverse erfrischend vielfältiger als auf Twitter. Meine anfängliche Befürchtung, dass es unübersichtlich wird oder dass ich „Wichtiges“ verpasse, stellt sich als unnötig heraus. Und ich merke, wie ich als Neue davon profitiere: Ohne Follower ist man auf Twitter in der Regel verloren, und ich spüre regelmäßig, wie Tweets mit wenig Likes vom Algorithmus abgewertet werden – sie verschwinden in der Versenkung. Hier auf Mastodon reagieren die Menschen auf meine ersten Beiträge. Ihnen ist egal, wie viele Follower ich habe und ob andere meine Beiträge wichtig finden. Es scheint tatsächlich rein um Inhalte zu gehen. Und alle sind unglaublich offen und freundlich.

Kein Starren auf Likes, zumindest am Desktop

Mit der Zeit stelle ich fest, wie befreiend es ist, zumindest in der Desktop-Version nicht zu sehen, wie viele „Likes“ ein Beitrag hat, sondern einfach auf der Grundlage des Inhaltes selbst zu entscheiden, ob ich ihn lesen und darauf antworten will. Wie viel Unsinn habe ich schon auf Twitter gelesen, nur weil ein Tweet „viral“ ging und ich dachte, dann muss ja was dran sein, dann muss es ja interessant sein. Facebook, Twitter & Co verstärken die „Lauten“: die, die ohnehin viele Follower haben, die die richtigen Hashtags verwenden und deren Formulierungen darauf hoffen lassen, dass sie polarisieren und damit andere Menschen zu Interaktionen anregen.

Christian Pietsch, einer der Administratoren der Mastodon-Instanz digitalcourage.social sagt, er habe später als andere verstanden, wie schwerwiegend Twitters Abkehr von der chronologischen Timeline war. „Heute sehe ich darin eine inakzeptable Bevormundung der User durch Twitter. Ich möchte selbst entscheiden, was ich für relevant halte.“

Ein digitales Wohnzimmer

Neben der Bevormundung einer algorithmischen Timeline fällt aber noch etwas Zweites weg: Der teils recht raue Tonfall. Und auch der lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass algorithmisch gesteuerte Kommunikation in den sozialen Medien Konflikte „belohnt“, weil sie für mehr Traffic sorgen. „Der Umgang scheint mir hier häufig freundlicher, besonders wenn es mal Meinungsverschiedenheiten gibt“, erklärt Leah Oswald, Administratorin von chaos.social. Das liegt auch an der Moderation und daran, dass die einzelnen Instanzen selbst entscheiden, mit wem sie föderieren – oder vor allem auch, mit wem nicht.

Neben der chronologischen Timeline und dem Ziel, die eigenen Daten nicht an einen Konzern zu verkaufen, ist ihr der bessere Umgang untereinander am wichtigsten und dass „Leute/Instanzen, die sich nicht zu benehmen wissen, relativ schnell rausgeworfen werden.“ Oswald beschreibt die Instanz chaos.social als „unser Wohnzimmer: Wir laden dich ein hier eine gute Zeit und nette Gespräche zu haben.“ Gleichzeitig wird aber, wer sich nicht gut verhält, recht konsequent auch wieder verabschiedet.

Die News finden mich nicht

Das Wohnzimmer ist freilich auch eine Filterblase. Ganz Mastodon ist eine Filterblase, so fühlt es sich für mich zumindest an: Schließlich sind die meisten hier, weil sie die algorithmische Steuerung von Kommunikation ablehnen, weil sie ihre Daten nicht an Facebook und Twitter abgeben wollen, weil sie den dortigen Troll-Armeen entkommen wollen und weil ihnen dezentrale Projekte am Herzen liegen. Würde das Konzept auch funktionieren, wenn „die Welt“ hier eintreten würde? Wenn sich auf einmal ein Großteil der Menschen für Mastodon entscheidet? „Das funktioniert solange gut, wie sie sich dezentral verteilen und die Moderation noch gut möglich ist“, vermutet Leah Oswald.

Der Vorteil: auch das ist hier möglich. Jede und jeder kann eine eigene Instanz eröffnen und pflegen. Dadurch bilden sich möglicherweise viele kleine Filterblasen. Da sie aber offen sind und da ich von meinem Account bei chaos.social aus Nutzerinnen und Nutzern anderer Instanzen ebenso wie ganz anderer Apps folgen kann, öffnet das die Welt mehr, als es auf Facebook oder Twitter möglich ist.

Ohne algorithmische Steuerung müssen wir wieder selbst denken. Die News finden nicht mich – ich finde sie selbst. Das kann anstrengend sein, aber es tut einem selbst und der Gesellschaft gut.

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