Der virtuelle Krieg

Virtuelle Realität hilft bei der Therapie von Posttraumatischer Belastungsstörung. Für Angststörungen könnte sich die Technologie sogar zum Mittel der Wahl entwickeln.

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Simulation einer Kriegsszene im Computer: Man blickt aus der Ich-Perspektive hinaus aus einem Militärfahrzeug auf eine staubige Straße eines afghanischen Dorfes.. Am rechten Fahrbahnrand parken mehrere alte Autos. Eines davon brennt lichterloh. Im Hintergrund ragen mehrere Berge über das triste Landschaftsbild empor.

Der Blick geht hunderte Meter in die Tiefe – dazwischen: nichts. Kein Geländer, kein Fangnetz. Unter den Füßen eine schmale Holzplanke, das rettende Dach des Hochhauses nur wenige Meter entfernt. Aber an Bewegung ist nicht zu denken. Ein falscher Schritt – allein der Gedanke daran lähmt die Bewegung. Von unten weht Verkehrslärm ins Ohr, jeder Lastwagen bringt das schmale Brett unter den Füßen zum Vibrieren. Die Beine zittern, die Planke zittert mit. Es nieselt, der Wind weht feine Tröpfchen ins Gesicht, es riecht nach feuchtem Holz.

So echt und dennoch nicht echt: Die Planke liegt in Wirklichkeit nur zehn Zentimeter über dem Boden eines Labors an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg – dazwischen nur jener kleine Motor, der die Vibrationen verursacht. Davor eine Art Föhn für den Wind und ein Apparat, der den Geruch verströmt. Ein Schritt nach vorne, und man steht auf festem Boden. Doch das Gehirn sagt: Stopp, Gefahr! Der Abgrund, der nur im Virtual-Reality-Headset existiert, ist zu real. Erst mit der Hand von Ernst Kruijff ist es möglich, diesen letzten Schritt zu tun: anstatt des freien Falls folgt der sichere Stand auf dem Laborboden.

Therapie aus dem Computer

Das Ganze ist kein Spiel und auch keine Demonstration, um zu zeigen, wie echt die Virtuelle Realität schon ist – auch wenn das Experiment von Ernst Kruijff, Professor für Computergrafik und Interaktive Umgebungen, das deutlich beweist. Es ist einer der ersten Schritte in Deutschland, um die Virtuelle Realität fit zu machen für die klinische Praxis. „Wir haben viele große Kliniken im Umkreis, und die Ärzte haben enormes Interesse“, sagt der Informatiker. Mit der Höhenangst-Demo überzeugt Kruijff selbst Gesunde vom Potential der neuen Technologie. Aber seine andere virtuelle Umgebung ist für viele Patienten deutlich beklemmender: eine Straßenbahn.

Das Fachwort für diese Beklemmung lautet „Agoraphobie“ – die Angst vor Menschenmengen. Betroffene meiden öffentliche Plätze, Straßenbahnen und vieles mehr: sie sind enorm eingeschränkt in ihrem Alltag. Deutlich mehr Menschen klopfen an die Türen der darauf spezialisierten Ärzte, als diese behandeln können: „Die Ärzte sagen uns, sie können keine Patienten mehr aufnehmen, sie sind überlastet“, so Kruijff. Das liegt auch daran, dass die Behandlung aufwendig ist: Therapeuten gehen dafür mit den Betroffenen in die Situation, die Angst auslöst, sie fahren beispielsweise stundenlang Straßenbahn und üben ein, dass nichts Schlimmes geschieht: Das Gehirn wird gewissermaßen umprogrammiert.

Ähnlich verhält es sich mit verschiedenen Phobien, von der Angst vor Spinnen bis zu der vor Flugreisen: stets braucht es „echtes“ Trainingsmaterial, Dinge oder gar Orte im echten Leben, zu denen man erst mal reisen muss. Dazu kommt das Problem, dass sich viele Betroffene schlicht weigern, in eine überfüllte Bahn zu steigen um zu üben oder eine Spinne in ihrer Nähe zu ertragen – der Schritt erscheint ihnen zu groß.

Die perfekte Illusion

Kruijff und seine Kollegen haben virtuelle Straßenbahnen geschaffen, die sich anpassen können: Betroffene „steigen“ mittels VR-Headset zunächst in eine leere Bahn. Sie lernen mit den ersten Reizen klar zu kommen, die bei ihnen sonst Panik verursachen: das Rütteln der Waggons, das Kreischen der Schienen, das Dunkel und die Enge der Tunnel. Dann steigen nach und nach immer mehr (virtuelle) Passagiere ein. Schließlich drängeln sie sich, die Betroffenen spüren schließlich dank eines Gurtes, der haptische Reize überträgt, wie sie jemand berührt – und sie riechen den Schweiß des Sitznachbarn und den Döner des Mannes an der Tür. So können Arzt und Patient gemeinsam das Erlebnis langsam steigern und bearbeiten. Und sie können das direkt in der Klinik tun, es gibt keine Anreise und keine Suche nach der „richtigen“ Straßenbahn.

Die feinen Wasserspritzer im Gesicht, der Wind, der Geruch des Döners: genau jene Reize, die das Erlebnis in der virtuellen Realität perfekt machen, quälen eine andere Patientengruppe in deren Alltag: Menschen mit Posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) reagieren auf Schlüsselereignisse, die ihr Gehirn untrennbar mit dem Trauma verbunden hat.

Die Erfahrungen des Krieges lassen sie nicht mehr los

In den USA häuften sich nach dem Vietnam-Krieg Fälle von jungen Soldaten, die mit ihrem Alltag nicht mehr klar kamen. Die plötzlich angesichts eines Stücks achtlos weggeworfenen Mülls am Straßenrand zu zittern begannen, die bei Rauchgeruch Schweißausbrüche bekamen und auf einmal nicht mehr in der Lage waren, mit ihren Mitmenschen zu sprechen. Häufig zogen sich die Betroffenen zurück, sie litten im Stillen, unverstanden von ihrem engsten Umfeld, sie konnten nicht erklären, was sie so sehr belastete. Das Trauma ereilte sie hinterrücks in Situationen, in denen sie nicht damit rechneten: der ganz normale Alltag entwickelte sich zum feindlichen Gebiet.

Das Problem nahm zu mit jedem Krieg: Irak, Afghanistan – jeder fünfte Veteran dieser beiden Kriege litt laut einer Studie der Beratungsfirma RAND an PTSD, insgesamt 300.000 Menschen. Das Militär steckte viel Geld in psychologische Forschung, denn immer wieder misslang es Therapeuten, die Betroffenen mit den klassischen Methoden zu erreichen. Doch dann erfuhr Skip Rizzo davon, Psychologe und heutiger Leiter des Institute of Creative Technologies an der University of Southern California, der schon seit Mitte der 1990er Jahre Angststörungen mittels Virtueller Realität behandelte und sich 2005 erstmals Traumata vorknöpfte.

Ein Markt in einem afghanischen Dorf. Die typischen lehmfarbenen Häuser, die grelle Sonne, verschleierte Frauen, Männer mit Turbanen, Gespräche am Straßenrand. Ganz langsam bewegt sich der Militär-Jeep durch die Straßen. Skip Rizzos Patient sitzt darin – und stoppt eines ums andere Mal. „Er zitterte am ganzen Körper“, erinnert sich Rizzo. In langen Gesprächen, und indem sie immer wieder gemeinsam in diese von Rizzo entwickelte Situation in der Virtuellen Realität gehen, lernt der Patient, die Erfahrung zu verstehen und auch zu bearbeiten. Und er versteht endlich, wieso Müll am Straßenrand ihn stets völlig verstörte: Beim Einsatz in Afghanistan war eine Bombe am Straßenrand explodiert, sie war versteckt in einem Mülleimer. Sie zerstörte den Wagen völlig und tötete seinen Kameraden.

Ein Kadett des US Militärs in Tarn-Kleidung steht mit einem VR-Headset vor einem großen Monitor auf dem die virtuelle Szene eines Bombenanschlages zu sehen ist.
Ein Kadett des US Militärs probiert das Programm zur Behandlung von PTSD in der virtuellen Realität aus.

„Krieg ist scheiße, aber er treibt Innovation“

Viele Überlebende solcher Situation plagen irrationale Schuldgefühle den Toten gegenüber und auf den ersten Blick noch irrationalere Ängste vor beispielsweise Müll am Straßenrand. Das beruht auf einer Funktion des Gehirns, die uns wohl vor weiteren Traumata schützen soll: sie sorgt dafür, dass wir vor jenen Reizen fliehen, die damals mit dem schlimmen Ereignis zusammenhingen. Im friedlichen Alltag ist diese Reaktion nicht nur hinderlich, sie beschert den Betroffen quälende Flashbacks und macht ein funktionierendes Sozialleben schier unmöglich. „Das einzige was hilft, ist, sich intensiv mit dieser Situation zu beschäftigen“, sagt Rizzo. Der Fachbegriff dafür lautet Expositionstherapie: Therapeuten bitten ihre Patienten beispielsweise, sich in Gedanken so detailliert wie möglich zu erinnern und das Erlebnis exakt zu beschreiben. Manche arbeiten mit Rollenspielen, andere mit Tagebüchern – das Fach ist kreativ geworden, um jene Menschen zum Sprechen zu bewegen, deren Natur aus guten Gründen genau dagegen anarbeitet und deren Körper um jeden Preis fliehen will und um keinen Preis das alles erneut durchleben.

Nicht alle schaffen es, sich in die Situation zurück zu versetzen. Die Angst ist zu groß. Auch der junge Soldat nach seinem Einsatz in Afghanistan hatte es mit vielen Therapien versucht. Nachdem Rizzo 2005 diese erste virtuelle Welt gebaut hatte, erreichten ihn unzählige Anfragen aus Kliniken. Mehrere hundert arbeiten heute mit Rizzos VR-Welten, und immer erhält er neue Anfragen: „Haben Sie auch ein afrikanisches Dorf?“ „Eine Militärbasis auf einem Berg?“ Mit „viel Geld vom Militär“, wie er sagt, hat er bis heute 14 verschiedene Schauplätze gebaut, die die traumatischen Erlebnisse der meisten Veteranen abdecken. „Krieg ist scheiße, aber er treibt Innovation“, sagt er.

Rizzo zitiert einige Meta-Studien laut derer die Expositions-Therapie mittels Virtueller Realität ebenso gut anschlägt wie der klassische Ansatz, in dem Patienten die Situation selbst imaginieren oder sich gemeinsam mit Therapeuten an bestimmte Orte begeben. Und die Technik werde immer besser: „Wir sind jetzt an dem Punkt, an dem VR die traditionelle Therapie überholt“, sagt er. Dennoch seien die Probandenzahlen noch gering, gibt er zu, und es gebe auch Studien, die keinen Vorteil sehen. Andere Experten kritisieren, dass es noch keine Forschung zu den langfristigen Auswirkungen gibt.

Die große Stärke des Systems ist seine Flexibilität

Doch Rizzo sieht weitere Vorteile, gerade bei jungen Leuten, die dank der Technologie wieder offen seien, sich überhaupt ihrem Trauma zu stellen oder bei den Patienten wie dem Soldaten, der sich aus dem Selbstschutz-Reflex heraus weigert, beim klassischen Ansatz seine Erlebnisse zu imaginieren – aus Angst vor neuem psychischen Leid. „VR ist zudem flexibel, wir können die Welten an den Zustand der Betroffenen anpassen.“ Betroffene können ganz langsam einsteigen, was die Hürde senkt.

Eine Therapie-Szene in der virtuellen Realität: Ein Soldat steht auf einem sandigen Platz in einem kleinen afghanischen Dorf. Um ihn herumparken drei gepanzerte Militärfahrzeuge.
Die verwendeten Szenen können für jeden Patienten individuell angepasst werden.

Rizzo hat in seinem Repertoire an VR-Räumen auch die Konzerthalle Bataclan in Paris, in der im November 2015 Terroristen 89 Menschen erschossen. „Betroffene können erst in die leere Halle gehen, dann kommen andere Menschen hinzu, schließlich können wir die Vor-Band spielen lassen“, erklärt Rizzo sein Vorgehen. Und erst nach und nach, wenn die Betroffenen bereit sind, kommt das Geräusch der Schüsse dazu, das Klirren der Gläser, in Panik fliehende Menschen.

Neben unzähligen Kriegs-Veteranen sind misshandelte und vergewaltigte Frauen eine weitere Zielgruppe Rizzos: er baut dafür virtuelle Räume von dunklen Straßenecken rund um Kasernen, mit Verfolgern in Uniform – denn auch das entwickelt sich mehr und mehr zu einem Militär-Problem. In ersten Studien habe sich gezeigt, dass die Betroffenen nach und nach weniger Stress empfanden, ihr Pulsschlag normalisierte sich, und auch die Aktivierung der Amygdala, einer bei Angst aktiven Gehirnregion, ging zurück.

Auf den richtigen Einsatz kommt es an

Doch kann man mit dieser Methode nicht Menschen re-traumatisieren? In der Tat sei das viel auf Konferenzen diskutiert worden, sagt Andreas Maercker, Professor für Psychopathologie und Klinische Intervention am Uniklinikum Zürich: „Man darf es natürlich nicht zu nassforsch machen. Aber dann hilft Virtuelle Realität in der Expositionstherapie.“ Im Gegensatz zu Rizzo ist er aber der Ansicht, dass es Methoden gibt, die noch besser helfen. „Expositionstherapie war der Klassiker vor 20 Jahren“ – und die könne VR gut erweitern -, doch heute gebe es neue Kombinationen von Therapien zur kognitiv-emotionaler Umstrukturierung. Teils werden sie ergänzt durch klassische Methoden der Verhaltenstherapie, die helfen gegen die begleitenden Schuldgefühle. So habe er beispielsweise in Dresden mit einer Patientin gearbeitet, die bei den 9/11-Anschlägen aus einem der Hochhäuser gerannt sei und sich seither vorwirft, andere zurückgelassen zu haben. „Da haben klassische kognitive Techniken gut geholfen.“

Eine Expositionstherapie in VR wirke dann besonders gut, wenn sie mit anderen Methoden kombiniert werde. In den USA hingegen sei die pure Expositionstherapie nach wie vor groß, auch wegen der dortigen Lobby und dem Militär als Geldgeber im Hintergrund. „Militär ist immer ein wenig unflexibel.“ Mit Unbehagen beobachtete er auch das lang ausgeübte Vorgehen bei der deutschen Bundeswehr, wo nach potentiell traumatischen Einsätzen beim „Debriefing“ alle zusammengerufen wurden und mitten in der Phase der akuten Belastungsstörung teils gar gemeinsam mit Vorgesetzten über ihre Gefühle sprechen sollten. „Das hatte natürlich mindestens Nebenwirkungen“, so Maercker.

Doch auch wenn VR-Therapien wie die von Rizzo gut wirken, seien sie teuer, so Maercker: „Es ist ein umständlicher Weg, der viel kostet. Und es gibt gute Methoden, die weniger kosten.“ Anders sieht er es bei Angststörungen wie Höhenangst oder Platzangst: „Da könnte eine Behandlung in VR Mittel der Wahl werden.“ Denn das ist anerkannt: hier hilft es am besten, die Betroffenen in die Situation zu bringen, in der die Angst auftritt und mit ihnen an dem Gefühl zu arbeiten, dass nichts Schlimmes passiert. „Für diese In-Vivo-Situationen hat die Virtuelle Realität einen großen Vorteil.“ Nicht zuletzt die Chance, das Erlebnis zu justieren, vom Weberknecht aus der Ferne bis zur haarigen Spinne auf der eigenen Hand.

Auch in Rizzos virtuellen afghanischen Dorf geschah lange nichts, so lange bis der junge Soldat durch die Straßen fahren und ruhig bleiben konnte. „Bist du bereit, dass wir die Bombe jetzt explodieren lassen?“, fragte Rizzo. Wer sagt da ja? Nur jene, die wirklich verzweifelt sind: „Es ist eine harte Medizin für harte Probleme“, sagt Rizzo. Viele zig Male hat der Soldat schließlich die explodierende Bombe ertragen, den Geruch von Rauch, das Schreien der Menschen. Es war eine schreckliche Zeit. Aber heute kann er seinen Alltag wieder leben.

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