„Wenn ich eine neue Technologie kennen lerne, frage ich mich: Wie kann ich mit ihr Sex haben?“
Ela Darling bietet als erste Pornodarstellerin Webcam-Shows in der Virtuellen Realität an. Die studierte Bibliothekarin will nicht zurück in ihren alten Beruf. Mit der virtuellen Realität will sie ihre Branche revolutionieren.
27. November 2016
Der fremde Mann in Elas Schlafzimmer schaut sich ganz genau um. Da kniet sie auf dem Bett, bekleidet nur mit einem schwarzen Spitzen-BH und einem knappen Höschen, zwirbelt sich scheinbar verlegen mit Daumen und Zeigefinger in den langen blonden Haaren und schaut den Mann mit großen fragenden Augen direkt an. Der Besucher schaut zurück, betrachtet diese grüngrauen Augen, den gekonnt überschminkten, kaum sichtbaren Pickel neben ihrer Nase, die leicht geöffneten Lippen mit dem knallroten Lippenstift, und schließlich, nach einer kleinen Phantasiereise über ihren Oberkörper, die feinen Härchen auf ihrem Bauch.
Dann schaut er den Rest des Schlafzimmers an: unter sich sieht er die hellrosa Bettwäsche. Rechts das blaue Tuch, mit dem das Fenster verdeckt ist, links an der Wand das Poster eines Tauchers, über dem Bett Fotos und Postkarten, im Hintergrund neben der Zimmertür den Schreibtisch mit dem Computer darauf, der Bildschirmschoner leuchtet fahlblau. Der Mann wendet sich schließlich wieder Ela Darling zu und fragt, ob sie sich weiter ausziehen möchte. Natürlich möchte sie. Er bezahlt sie für jede Minute.
„Manche fragen auch, ob sie meine Füße sehen können. Füße stehen auf Platz fünf aller Fetische.“ Andere haben andere Wünsche. Dabei sind sie nicht wirklich da. Und irgendwie doch. Sie besuchen Ela Darling in der Virtuellen Realität.
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So listet Ela Darling ihre beruflichen Fähigkeiten auf. Die Liste auf ihrer Facebook-Seite geht noch ein ganzes Stück weiter. Sie endet mit einem Bachelor in Psychologie und einem Master in Bibliothekswissenschaften. Die Bibliothek ist allerdings in den Hintergrund getreten, seit sich die 30-jährige Querdenkerin für eine Laufbahn als Pornostar entschieden hat. Heute bietet sie als erste Porno-Live-Videos in der Virtuellen Realität an. Noch ist die technische Ausstattung in ihrem Schlafzimmer improvisiert, aber sie funktioniert: Sie flirtet mit einem riesigen Apparat, bestehend aus zwölf teils mit Klebeband verbundenen Gopro-Kameras, deren Bilder eine Software zu einem perfekten 360-Grad-Rundumblick zusammen näht wie eine Nähmaschine eine Patchwork-Decke.
Der Besucher fühlt sich, als sei er im Schlafzimmer
Für ihren Besucher fühlt sich das an, als sei er wirklich in ihrem Schlafzimmer, auch wenn er an einem ganz anderen Ort auf der Welt ist. Er verwandelt sein eigenes Schlafzimmer mit einem Virtual Reality Headset in eine Art Holodeck und beamt sich an Darlings Seite. Dafür bekommt er im Headset zwei Bilder angezeigt, für jedes Auge eines, die das Gehirn zu einem täuschend echten dreidimensionalen Raumeindruck kombiniert. Er fühlt sich, als wäre er körperlich vor Ort. Noch kann er nicht frei im Raum umherlaufen, und wenn er an sich herunter schaut sieht er – nichts.
Aus Darlings Sicht ist das besser als etwas zu sehen, das entweder nicht dem realen Körper oder nicht der realen Emotion entspricht. Schließlich ist das Zauberwort der Virtuellen Realität „Immersion“, das totale Eintauchen in eine andere Welt als wäre man wirklich dort. Schaut aber ein Schwarzer an sich selbst herunter und hat auf einmal einen weißen Penis, oder schaut eine Transsexuelle an sich herunter und sieht die falschen Geschlechtsteile, stirbt die Immersion sofort. Und nicht nur das. „Diese Personen werden dann denken: Das ist etwas, das nicht für mich gedacht ist“, sagt Darling. Sie kennt diese Perspektive, sie selbst hat lange Zeit ausschließlich lesbische Pornos gedreht – für Männer ebenso wie für Frauen. „Frauen mögen Hardcore-Porno, kein softes Zeug, aber sie kennen ihren Körper und wollen Szenen sehen, die realistisch sind.“ Nur zu oft aber spiele allein die männliche Phantasie eine Rolle.
"Wenn Frauen dann Minutenlang mit ansehen müssen, wie eine Frau an Stellen stimuliert wird, an der wir nichts fühlen, ist doch klar, dass die Ekstase nur vorgetäuscht ist. Das turnt nicht an." Ela Darling
Virtual-Reality-Konferenz in Potsdam. Die Halle ist knallvoll, die Stimmen der Besucher schwirren in der Luft. Alle wollen wissen, wie die Zukunft mit Virtual Reality aussieht. Und jeder hat hierzu seine eigenen Ideen. Ela Darling rennt die Stufen zur Bühne hinauf. Sie trägt schwarze Cowboystiefel in Vintageoptik, ein ebenso schwarzes Unterkleid mit vielen Spitzen und einen schwarzen Kapuzenpullover. Es ist auf einmal ganz still. Hunderte von Menschen hängen an ihren roten Lippen, noch bevor sie das erste Wort gesagt hat. „Immer wenn ich eine neue Technologie kennen lerne, stelle ich mir zwei Fragen“, sagt sie. „Erstens: Wie kann ich mit ihr ficken?“ Sie macht eine Pause, grinst. Die Kette um ihren Hals, sie besteht aus den Wirbelknochen einer Viper, hebt und senkt sich. Die Zuhörer halten den Atem an. „Und zweitens: Wie können andere mich beim Ficken beobachten?“
Die virtuelle Realität soll den Porno demokratisieren
Diese Fragen haben aus der Pornodarstellerin die Porno-Unternehmerin Ela Darling gemacht. Und das soll aus ihrer Sicht auch möglichst vielen ihrer Kolleginnen widerfahren. Sie nutzt die Aufmerksamkeit, die sie als erstes VR-Webcam-Girl bekommt, um für Toleranz zu werben. Auf der Bühne berichtet sie, wie sie die Porno-Industrie demokratisieren will, indem sie mit ihrem Unternehmen VRTube.xxx den Darstellerinnen die Produktionsmittel selbst in die Hand gibt. ‚Empowerment‘ ist das englische Modewort dafür, es meint, den Ausgebeuteten Macht zurückzugeben. „Sexarbeiterinnen sind marginalisierte Menschen, Porno verschließt viele Türen“, sagt sie: Wer einmal hier arbeitet, kann viele andere Jobs nicht mehr machen. „Ich könnte beispielsweise nie in einem Kindergarten arbeiten.“ Aber das berge eine Gefahr: Die Bezahlung sei über die Jahre schlechter geworden, weil Porno mit dem Internet in die Hände von Laien geraten ist. Heute kann jede Hausfrau und jede Studentin nebenbei als Hobby Pornos drehen. „Die Leute sind nicht mehr bereit dafür zu bezahlen“, so Darling. Wie sich das gerade ändert, spürt sie täglich bei der großen Nachfrage nach ihren VR-Shows.
Irgendwann, hofft sie, kommt zu der visuellen Immersion auch eine Haptische:
„Wenn es möglich ist, in der Virtuellen Realität die Haut zu fühlen oder Feuchtigkeit, dann wird das die gesamte Porno-Industrie umkrempeln.“ Ela Darling
Schon heute gebe es Sexspielzeug, das die Bewegungen des einen über Entfernungen an einen anderen überträgt. Auch bei dieser Revolution will Ela Darling ganz vorne mit dabei sein. Sie hat bereits Kontakt zu einem Hersteller von Dildos, die Druck über räumliche Distanzen weiterleiten. Zum Abschluss ruft sie ins Publikum: „Es ist eine tolle Technologie, wir müssen unsere Arbeit gerade jetzt besonders gut machen!“
Vom Bibliothekstresen zum lesbischen Analsex
Ela Darling macht ihre Arbeit gut, seit sie denken kann. In der Schule hat sie eine Klasse übersprungen, das Studium durchgezogen, und bereits mit 21 war sie Chefin der örtlichen Bibliothek. „Ich hätte das mein restliches Leben machen können“, sagt sie heute. Aber was für manch einen beruhigend klingt, klang für Ela Darling wie eine Drohung. „Warum nicht ein bisschen mehr Risiko?“, fragt sie, als sei es der normalste Schritt der Welt vom Tresen einer Bibliothek zum lesbischen Analsex. Sie habe schon als Studentin gemodelt, normale Fotos, das habe Spaß gemacht. Schließlich habe ein Freund sie gefragt, ob sie für Nacktfotos Modell stehen wollte – auch das fand sie eine gute Idee. Dieser Freund wurde später ihr Ehemann, aber auch das ist schon wieder passé.
Heute hat sie eine Freundin, sie sei schrecklich verliebt, sehr connected, und außerdem einen Mann, den sie zwar „primary partner“ nennt, der aber nicht wichtiger sei als die Freundin. Ihre dritte Beziehung sei ihr Pornounternehmen. „Ich bin sehr fokussiert, mir ist meine Arbeit wichtig.“ Schon mit den ersten Pornos verdiente sie viel Geld, sagt sie, an einem Tag so viel wie in einer Woche in der Bibliothek. Und es mache ihr viel mehr Spaß. „Die Menschen in der Szene sind einfach unglaublich nett!“ Stört es sie nicht, dass Männer sie sexualisieren? Sie für ihre Phantasien instrumentalisieren? „Das tun sie sowieso. Aber jetzt zahlen sie wenigstens dafür.“ Früher, in ihrem alten Leben, habe einmal ein Bekannter Nacktfotos von ihr ins Netz gestellt. „Jetzt mache ich das selbst und sage: Ätsch.“ Der Weg von der Bibliothekarin zur Porno-Unternehmerin ist für sie auch eine Art Empowerment.
Und die andere Welt? Die des Bücherwurms, der sich schon als Kind in Phantasiewelten verlor? Die der Psychologiestudentin? Ihre Eltern seien nur kurz besorgt gewesen und heute stolz auf ihre Unternehmertochter. Dumme Kommentare, klar, die gibt’s ohne Ende. „Ich kriege dumme Kommentare über jeden Aspekt meines Lebens, es gibt keine Grenze der menschlichen Dummheit.“ Aber warum sollte sie sich darum scheren?
Der erste Sex vor der Kamera war wie der erste Schultag
Das erste Mal nackt vor der Kamera, der erste Sex mit einer Frau – nein seltsam sei das nicht gewesen. „Es war vielleicht so aufregend wie mein erster Schultag.“ Während ihrer Ehe habe sie sich beruflich auf lesbischen Sex beschränkt. Ihr Gatte sei sonst eifersüchtig gewesen. „Jetzt mache ich auch Männer.“ Und dann kam die neue Technologie und ihre alte Frage. Wie kann ich sie nutzen um zu ficken? Ela Darling googelte und fand schließlich einen reddit-Post von ihrem späteren Geschäftspartner: Dieser junge Mann fragte sich das gleiche, aber hatte die andere Seite, die Technik.
Als sie ihn zum ersten Mal an einer Bahnstation in Washington DC traf, habe sie überlegt, ihn nach seinem Ausweis zu fragen. „Er sah so jung aus.“ Die beiden gingen zu ihm nach Hause um ihr erstes Projekt zu drehen, wo die nächste Überraschung wartete: einige überaus erschrockene Mitbewohner der Studi-WG. Ihr neuer Projektpartner, der sich schließlich als Student der Quantenphysik entpuppte, ließ sie schließlich allein in seinem Zimmer, ohne weitere Anweisungen. „Mach einfach einen guten Porno“, sagte er. Bei einer Kamera, die den gesamten Raum filmt, kann schließlich niemand sonst im Raum – der Betrachter würde ihn sehen.
Vom Ergebnis sei der Student ganz beeindruckt gewesen.
„‘Es war das erste Mal so, als hätte ich einen echten Menschen beobachtet‘, hat er gesagt, und ich fragte mich: Was hat er denn sonst gesehen, wenn er Pornos geschaut hat?“ Ela Darling
Ela Darling ist überzeugt davon, dass die Technik nicht nur den Porno revolutionieren wird, sondern auch das Verhältnis der Männer zu den Sexarbeiterinnen: „Die Menschen fühlen sich mit dir verbunden. Es gibt weniger Arschlöcher.“ Auch sie selbst fühle sich ihren Besuchern näher. Das stimmt auf den ersten Blick skeptisch, schließlich erlebt sie die Gegenseite der Immersion: Anstatt eines echten Menschen ist ihr Gegenüber in den Liveshows eine Kamera. „Daran habe ich mich schnell gewöhnt“, sagt sie. „Ich rede mit der Kamera wie mit jemandem, der mich pro Minute bezahlt.“
Und der sitzt ja auch dahinter, weit weg und doch ganz nah. Darling schwärmt davon, wie schnell man sich in der Virtuellen Realität nahekommt. „Es hat ein bisschen was von Therapie, die Menschen suchen oft etwas, was sie gar nicht realisieren.“ Einer habe kürzlich einfach nur reden wollen, er sei frisch verlassen worden, „er brauchte jemanden, der ihn versteht, er hat sich in meinem Schlafzimmer mehr Zuhause gefühlt als irgendwo auf der Welt.“
Illustration: Isa Lange nach einem Foto von Ela Darling
Isa Lange zeichnet mit ihrem Bleistift Nachrichten. Ansonsten arbeitet sie an der Universität Hildesheim. @stadtmaulwurf