Konsequenz aus Hochwasser: „Auen kann man nicht mehr als Ackerland nutzen“

Flüsse begradigen und in enge Deiche zwängen – dies Art von Hochwasserschutz ist fehlgeschlagen. Bundesweit läuft daher die Renaturierung von Flüssen an. Doch flächendeckend geht das nur, wenn die Landwirte und Landbesitzer mitmachen

9 Minuten
Große überschwemmte Wiesenfläche mit Deich am Horizont.

Noch vor wenigen Wochen hätte man in diesem Wald zwischen mächtigen Eichen tauchen gehen und von oben herab in Vogelnester aus dem letzten Jahr schauen können. Rund um Neujahr standen die Bäume viele Meter tief im Wasser der Elbe, von manchen ragten nur die Kronen heraus. Heute sind davon kaum Spuren übrig, außer ein paar ungewöhnlich abgebrochene Äste, die dem Druck von herabsinkenden Eisschollen nachgegeben haben. Geblieben sind im Auwald der Elbe zahlreiche Tümpel. Längst gibt es erste Frühjahrsboten: Überwinternde Rotmilane vollziehen über den Wipfeln des Lödderitzer Forsts, der zwischen Dessau und Magdeburg liegt, beeindruckende Flugmanöver. Ihre Balzzeit hat begonnen.

Das ausgedehnte, 600 Hektar große Waldgebiet hat seine Bewährungsprobe bestanden. Denn die weiträumige Überschwemmung war gewollt, geplant und von langer Hand vorbereitet worden. Im Lödderitzer Forst haben Bund, das Land Sachsen-Anhalt und die Umweltorganisation WWF eine der größten Renaturierungsmaßnahmen Deutschlands umgesetzt. Erste Planungen gab es – zusammen mit weiteren ähnlichen Projekten entlang des Flusses – schon in den 1990er Jahren. 2001 wurden sie konkretisiert, ab 2010 folgte der Spatenstich. Im Zentrum stand der Deich der Elbe, der im 19. Jahrhundert nahe an den Fluss gebaut worden war, ihn einengte und bei Hochwasser zu hohen Pegeln führte. Bauarbeiter machten den alten Deich durchlässig und ersetzten ihn ein neues, sieben Kilometer langes Bauwerk, das viel weiter entfernt vom Fluss und weitgehend außerhalb des Waldgebiets verläuft.

Bewährungsprobe bestanden

2017 war das Projekt fertig. Zwei Ziele sollen erreicht werden: Dass auf deutlich größerer Fläche ein von Pirol, Biber, Mittelspecht und Schillerfalter bewohnter feuchter Auwald gedeihen kann, wie er für das Elbetal typisch war, als es vor der landwirtschaftlichen Kultivierung noch den Charakter eines mitteleuropäischen Amazonasgebiets hatte. Und dass im Fall des Falles deutlich mehr Raum für Elbwasser zur Verfügung steht, das dann nicht mehr auf einen Schlag Richtung Magdeburg fließt wie bisher.

Erstmals seit dem Jahrhunderthochwasser im Sommer 2013 trat dieser Fall nun ein.

Große Eiche in wildwüchsigem Wald, der unter Wasser steht.
Auwald an der Mittleren Elbe nach dem Winterhochwasser 2023/24.
Große überfrorene Fläche in der Flusslandschaft, im Vordergrund ein Schild „Landschaftsschutzgebiet“
Erfolgreiche Renaturierung: An der Mittleren Elbe haben Landschafts- und Naturschutzgebiete beim Winterhochwasser große Wassermassen aufgenommen und von Ortschaften ferngehalten.

Am 31.12.2023 stieg der Pegel der Elbe bei Aken auf 6, 10 Meter, deutlich über dem langjährigen mittleren Wasserstand von 1, 73 Meter. Viele Millionen Kubikmeter Wasser flossen in den Lödderitzer Auwald statt die Elbe hinab. Schon ein Meter Waldüberflutung kann den Pegel der Elbe um 30 Zentimeter senken, haben die Planer errechnet. Wie genau der Effekt der Renaturierung ausfiel, wollen Wissenschaftler erst noch ermitteln. Vorläufig zieht Mathias Scholz, Leiter der Arbeitsgruppe Auenökologie am Helmholtz-Umweltforschungszentrum Leipzig (UFZ), eine positive Bilanz der Renaturierung nicht nur für die Biodiversität: „Sämtliche umgesetzte Deichrückverlegungen an der Elbe haben einen deutlichen Beitrag für den Schutz der Siedlungen geleistet.“

Ein Fahrzeug vom THW sowie der Feuerwehr fahren auf einer teilweise überfluteten Straße unweit der Aller (Aufnahme mit einer Drohne). Die Hochwasserlage bleibt in vielen Regionen Niedersachsens angespannt.
Hochwasser an der Aller in Niedersachsen im Dezember 2023.
Die drei Personen schauen ernst in Richtung Journalisten, hinter ihnen weiße Sandsäcke zum Schutz des Deichs.
Ernste Minen: Stephan Weil, Ministerpräsident von Niedersachsen, Olaf Scholz (Bundeskanzler) und Daniela Behrens (niedersächsische Innenministerin) beim Besuch des Hochwassergebiets an der Aller am 31. Dezember 2023.
Zwei Jugendliche tragen ein Kanu an einer überfluteten Straße in Borgfeld bei Bremen. Hier ist die Wümme über die Ufer getreten. Die Anwohnerinnen und Anwohner können ihre Häuser nur noch mit Booten erreichen.
In Borgfeld bei Bremen konnten Anwohner Ende 2023 ihre Häuser teilweise nur mit Booten erreichen.

Andere Regionen in Deutschland hatten diesen Schutz bei den regional „historisch“ genannten Hochwassern rund um Neujahr nicht. Vor allem den Nordwesten erwischte es hart. Flüsse wie Hunte, Hase, Weser und Aller traten so über die Ufer, dass vielerorts in Städten und Dörfern Keller unter Wasser standen. In Berlin überlegten Politiker kurzzeitig sogar, die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse zu lockern, um die Schäden ausgleichen zu können. Vorangegangen waren außergewöhnlich heftige Regenfälle. „Mit Niederschlagsmengen von im Mittel 155 Litern pro Quadratmeter zählt der Dezember 2023 zu einem der nassesten Dezember seit Beginn der Wetteraufzeichnung“, erklärte die Chefin des Niedersächsischen Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küsten- und Naturschutz, Anne Rickmeyer. Feuchtes Wetter und fast vollständig gesättigte Böden verursachten ein „flächendeckendes Hochwasser“.

Potenziale zur Renaturierung erst zu einem kleinen Teil ausgenutzt

Eine wichtige längerfristige Ursache für die Überschwemmungen blieb aber auch in den meisten TV-Sondersendungen unerwähnt: Fast alle betroffenen Flüsse sind in der Vergangenheit konsequent begradigt und teils auch eingedeicht worden. Altarme wurden abgetrennt und mit Bauschutt verfüllt, Auwälder und Feuchtwiesen in Ackerland umgewandelt, das mit großem Aufwand vor Überschwemmungen geschützt wird. Der technische Umbau der Flussauen führt dazu, dass sich bei extremem Regenfällen das Wasser nicht mehr wie früher in der Breite der Talaue verteilen kann, sondern die Pegel schnell steigen. Wenn dann flussabwärts Deiche nicht hoch genug sind oder brechen, ist der Katastrophenfall da.

Deichbau und Entwässerung, die lokal sinnvoll waren, haben durch ihre flächenhafte Umsetzung dazu geführt, dass heute ganze Landstriche anfälliger für Hochwasserereignisse sind.

Der Limnologe Martin Pusch

Noch während im Nordwesten die Keller ausgepumpt wurden, traten in Berlin zwei Wissenschaftler des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) mit einer dringlichen Botschaft vor die Presse, was in deutschen Flusstälern falsch läuft: „Deichbau und Entwässerung, die lokal sinnvoll waren, haben durch ihre flächenhafte Umsetzung dazu geführt, dass heute ganze Landstriche anfälliger für Hochwasserereignisse sind“, warnte der Limnologe Martin Pusch und betonte: „Ein Umdenken ist nötig.“

Nur noch ein Drittel der natürlichen Auen übrig

Der Klimawandel werde zu „stärkerer Trockenheit und stärkeren Hochwassern“, also zu mehr Extremen führen. Davor müsse das Land nun konsequent geschützt werden. Die Gewässerforscherin Sonja Jähnig forderte, dazu müssten endlich flächendeckend „natur-basierte Lösungen“ umgesetzt, also Auenlandschaften wiederhergestellt werden (siehe Interview). IGB-Forscher Pusch und Jähnig führten Zahlen der Bundesregierung an, denen zufolge insgesamt nur knapp ein Drittel der natürlichen Auen übrig sind: „Die restlichen 68 Prozent wurden durch Deichbau von den Flüssen abgetrennt, entwässert und zur Landwirtschaft oder für Siedlungen genutzt.“ Sie sagten auch deutlich, was das ihrer Ansicht nach für die Landwirtschaft heißt: „Auen kann man nicht mehr als Ackerland nutzen.“

Die Erkenntnis, dass die von technischem Kontrolldrang geprägte Wasserwirtschaft des 20. Jahrhunderts im von Klimawandel und drohendem Artensterben geprägten 21. Jahrhundert nicht mehr funktionieren wird, ist nicht ganz neu – doch sie wird noch immer weiträumig ignoriert. Auenforscher Mathias Scholz vom UFZ kann nur zögerliche Fortschritte erkennen: Zwischen 1983 und 2020 seien an 79 untersuchten Flüssen durch Rückbau, Rückverlegung und Schlitzung von Deichen insgesamt 7100 Hektar überflutbare Auenflächen zurückgewonnen worden. „Das entspricht einer Vergrößerung um rund 1, 5 Prozent – nicht sehr viel“, urteilt er. Trotz punktueller Erfolge seien „die deutschlandweiten Potenziale für die Wiederanbindung von Auenflächen von einigen zehntausend Hektar bislang erst zu einem kleinen Teil ausgeschöpft.“

„Ohne Kies kein Fischnachwuchs“

An einem grauen, regnerischen Tag Ende Januar führt die Umweltingenieurin Friderike Proksch am Nordrand von Göttingen vor, wie es besser gehen kann – und wie mühsam das ist. Seit fünf Jahren arbeitet sie für den von niedersächsischen Kommunen getragenen Leineverband. Dessen Aufgabe ist es, sich um die Fließgewässer im Einzugsgebiet des Flusses zu kümmern, der in Thüringen entspringt und nördlich von Hannover in die Aller mündet. „Früher hieß das hauptsächlich, Hochwasser abzufangen und den Ackerbau auszuweiten“, sagt Proksch. Entsprechend ist das Ufer der Leine auf weiten Strecken wie mit dem Lineal gezogen und mit Steinen künstlich befestigt. Vielerorts reichen Äcker bis knapp an die Wasserkante. „Noch immer fragen uns manche Landwirte, ob sie nicht einen Baum am Ufer fällen können, weil der dem großen Schlepper im Weg ist“, sagt Proksch. Die Antwort lautet inzwischen in der Regel „Nein“, denn in der Satzung des Leineverbands steht als Aufgabe nun ein „naturnaher Rückbau von Gewässern und von Anlagen in und an Gewässern“ sowie der Schutz des Naturhaushalts.

Die junge Frau schaut lächelnd in die Kamera. Sie steht vor einer überschwemmten Landschaft.
Friderike Proksch vom Leineverband renaturiert hauptberuflich Flüsse.
Riesige braune Ackerfläche.
Flüsse wurden, wie hier an der Leine, hauptsächlich dazu begradigt, um Ackerland zu gewinnen.
Eine Infotafel mit dem Titel „Feuchte Auwiesen“ steht in einer überschwemmten Fläche.
Renaturierungsprojekt bei Göttungen.

Was das konkret heißt, ist im Gebiet des Dragoneranger zu besichtigen. Während oben auf der Brücke der B3 der Verkehr rauscht, zeigt Proksch unten stolz, was sich unter ihrer Leitung über vier Jahre hinweg auf rund zwei Kilometer Länge am Fluss verändert hat. Das westliche Ufer wurde von insgesamt 19.000 Tonnen Wasserbausteinen befreit und wieder abgeflacht, ein zweiter Flussarm und mehrere Inseln aus Kies geschaffen, der bisher mit dem Wasser davongetragen wurde. „Ohne Kies kein Fischnachwuchs“, sagt Proksch. Mit der Renaturierung entstehen Brut- und Lebensräume für zahlreiche der 16 regionalen Flussfischarten wie Groppe, Bachneunauge und Äsche, von denen neun auf der Roten Liste gefährdeter Arten oder der sogenannten Vorwarnliste stehen. Totholz bietet seltenen Arten wie dem Eisvogel einen Ansitz und verlangsamt die Fließgeschwindigkeit des Flusses. Flussaufwärts vom Dragoneranger ist die Leine hoch noch schnurgerade. Der Boden direkt neben dem Ufer ist steinhart und trocken. Am renaturierten Abschnitt nimmt der Boden dagegen Wasser auf, man kann froh sein, Gummistiefel anzuhaben. „Das versickerte Wasser steht der Landschaft dann im Sommer in Hitzezeiten zur Verfügung“, sagt Proksch.

Gegen Hochwasser hilft nur großflächige Renaturierung

Doch das rund 770.000 Euro teure Projekt stieß auch an harte Grenzen: Eigentlich wollte die Planerin das östliche Ufer der Leine ebenfalls abflachen und eine sogenannte Hartholzaue entstehen lassen, die überschwemmt werden kann. Doch das lehnte der Flächeneigentümer, dem auch der angrenzende riesige Acker gehört, ab. „Insgesamt ist es leider sehr schwer, an Flächen zu kommen“, sagt Proksch. Nördlich von Göttingen gelang es hingegen bei einem weiteren Projekt, bei dem die Stadt und die Heinz Sielmann Stiftung zusammenarbeiteten, neue Überschwemmungsflächen zu schaffen. Wo sich früher Acker direkt bis zum Fluss erstreckte, nahmen im Dezember nach den starken Regenfällen neu geschaffene Flachwassertümpel und ein zusätzlicher Flussarm Wassermengen auf, die sonst Richtung Göttingen geschossen wären.

Zwei Pirole sitzen in einem Baumwipfel nebeneinander.
Mit ihren farbenfrohen Federn und dem melodischen Gesang sind Pirole für jeden Vogelbeobachter eine besonders Freude.
Aufnahme eines Kiebitz. Er steht auf mit Moos bewachsenem Boden.
Kiebitz – früher ein Allerweltvogel, heute mangels geeigneter Habitate gefährdet.
Ein männliches Braunkehlchen singt auf einem grünen Zweig
Symbolart für den Schwund einstmals sehr häufiger Vogelarten in der Agrarlandschaft: Braunkehlchen haben in den letzten 25 Jahren mehr als die Hälfte ihrer Brutpaare in Deutschland verloren.

Deutschlandweit gibt es bereits eine Vielzahl ähnlicher Projekte. Doch mit Ausnahme wirklich großer Vorhaben wie an der Elbe oder an der Unteren Havel, die unter Regie des Umweltverbands NABU auf weiten Strecken renaturiert wurde, bleiben die Verbesserungen punktuell. Echte Verbesserungen auch für den Hochwasserschutz gibt es aber erst, wenn Flüsse auf langen Strecken renaturiert werden. „Von den 150 Kilometern Leine, die wir unterhalten, sind rund zehn Kilometer renaturiert, weitere zehn Kilometer sind in Planung“, sagt der Vorsitzende des Leineverbands, Jens Schatz. Damit die Flussaue wieder weiträumig Wasser aufnehmen und Siedlungen vor Überschwemmungen schützen kann, müsse aber „mindestens die Hälfte“ des Flusslaufs wieder mit der Talaue verbunden und renaturiert werden.

Einigung mit Landwirten und Landbesitzern nötig

Eigentlich schreibt die sogenannte Wasserrahmenrichtlinie der EU schon seit mehr als zwanzig Jahren solche Veränderungen vor, ebenso wie das Programm, das Bund und Länder 2013 nach dem epochalen Sommerhochwasser auflegten. Doch bisher reichen weder Druck noch Fördergelder, um wirklich etwas in der Fläche zu bewegen. Neuen Schwung soll nun ein Gesetz bringen, das Ende Februar vom EU-Parlament und anschließend vom Rat der Mitgliedsstaaten verabschiedet werden soll. Das „Nature Restoration Law“ sieht vor, 25.000 Flusskilometer in der EU wieder frei fließen zu lassen und beschädigte Ökosysteme, zu denen Flussauen eindeutig gehören, zu revitalisieren.

Das Gesetz kommt allerdings in einer Zeit, in der sich Landwirte und der Deutsche Bauernverband gegen neue Eingriffe und Auflagen zur Wehr setzen. Während der Debatten um das „Nature Restoration Law“ warnten Kritiker davor, aufwändig trockengelegtes Ackerland wiederzuvernässen. Sogar eine Gefahr für die Ernährungssicherheit wurde an die Wand gemalt, obwohl es dafür keinerlei Anhaltspunkte gibt. Zusätzlich zu den Flussauen wird allerdings auch um Zehntausende Hektar trockengelegte Moorgebiete gerungen. Landwirte sorgen sich, dass zusätzlich zum Flächenfraß für Wohn- und Gewerbegebiete und Straßen nun die Wiedervernässung ihre Wirtschaftsbasis verkleinert.

Auenforscher Mathias Scholz vom UFZ hält einen Interessenausgleich für dringend geboten. „Die großflächigen Potenziale zur Auenwiederherstellung zu nutzen, geht nur, wenn auch einvernehmliche Lösungen mit den Landwirten gefunden werden“, sagt er. Man könne zum Beispiel Flächen tauschen, an Auen angepasste Nutzungsformen fördern und Landwirte bei Überschwemmungen entschädigen. „Meine Beobachtung mit der Landwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten war, dass bei attraktiven Angeboten auf Augenhöhe die Maßnahmen auch mitgetragen werden“, sagt Scholz. Davon, ob das gelingt, hängt ab, wie gut die Menschen in Deutschland im Jahrhundert des Klimawandels gegen Überschwemmungen geschützt sind.

Den Bildereinkauf für diesen Artikel hat die Andrea von Braun Stiftung im Rahmen des Projekts„Zukunft Erde: Feuchtgebiete“gefördert.

Sie haben Feedback? Schreiben Sie uns an info@riffreporter.de!
VGWort Pixel