Bahn gegen Adler: Eine neue Zugverbindung bedroht eines der letzten Wildnisgebiete Deutschlands
Eine zweite Bahnstrecke soll Berlin und die Ferieninsel Usedom verbinden. Doch die Trasse würde eine der wertvollsten Naturlandschaften Deutschlands zerschneiden. Dabei gibt es Alternativen.
Für viele Berliner dürften die Pläne von Deutscher Bahn und Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern nach einer guten Idee klingen.
Die Schweriner Koalition will die im Zweiten Weltkrieg zerstörte direkte Bahnverbindung zwischen der Hauptstadt und dem Süden der Ostseeinsel Usedom wieder aufbauen. In zwei Stunden soll die zweitgrößte deutsche Insel dann von Berlin aus zu erreichen sein. Was nach einer umweltfreundlichen Alternative zum Straßenverkehr bei der Reise auf die beliebte Urlaubsinsel aussieht, wäre nach Einschätzung von Naturschützern und Wissenschaftlern ein ökologisches Debakel.
Denn der geplante Verlauf der Neubaustrecke würde eine der wertvollsten Naturlandschaften Deutschlands zerschneiden, obwohl es eine schonende Alternative gäbe.
Die Bahn hat für das Projekt verschiedene Trassenverläufe untersucht, und das Land favorisiert eine Variante, die einen Neubau auf rund 40 Kilometern nötig macht. Die Strecke soll den bestehenden Bahnanschluss im vorpommerschen Ducherow auf dem Festland mit Zirchow auf Usedom verbinden und von dort aus bis in das Seebad Heringsdorf verlaufen. Bis Zirchow soll eine frühere Trasse genutzt werden, auf der vor dem Zweiten Weltkrieg Züge zwischen Berlin und Usedom verkehrten.
Was nach wenig mehr als einer nostalgieträchtigen Rekonstruktion der historischen Verbindung zwischen der Hauptstadt und den bekannten Usedomer Kaiserbädern klingt, stellt sich bei näherem Hinsehen als Großeingriff in die Natur dar.
Polen hat kein Interesse an dem Projekt – dort stehen jetzt Häuser, wo einst Gleise verliefen
Denn in den mehr als 80 Jahren seit der Einstellung des Zugverkehrs durch die Nationalsozialisten 1941 und der Sprengung der Karniner Hubbrücke über den Peenestrom aus Furcht vor der heranrückenden Roten Armee hat sich die Lage entlang der einstigen Bahnstrecke nicht nur politisch grundlegend verändert: Die Stadt Swinemünde, früher Zielbahnhof der Verbindung, ging mit dem Potsdamer Abkommen an Polen und heißt heute Świnoujście. Dort, wo früher Züge fuhren, hat Polen Häuser gebaut. Für das neue Projekt hat die Regierung in Warschau schon abgewinkt. Das Nachbarland sieht keinen Sinn in einer Anbindung der Strecke nach Swinoujscie.
Auch auf vorpommerscher Festlandseite hat sich die Situation grundlegend gewandelt. Maßgeblichen Anteil daran hat eine Sturmflut. 1995 brach dabei nahe der Stadt Anklam der Deich zum Stettiner Haff und flutete ein großflächiges trockengelegtes Moorgebiet – den Anklamer Stadtbruch.
Die Naturgewalten besorgten das, was heute im Namen des Klimaschutzes mit millionenschweren Subventionen an vielen Stellen auf den Weg gebracht wird: die großflächige Wiedervernässung einer trockengelegten Moorregion. Auch, weil das Land darauf verzichtete, den Deich zu rekonstruieren und die Entwässerungspumpen erneut anzuwerfen, verwandelte sich der Anklamer Stadtbruch innerhalb weniger Jahre in eines der bedeutendsten Wildnisgebiete Deutschlands - geprägt von großflächigen Flachwasserzonen, Mooren, unzugänglichen Bruchwäldern und mystisch-bizarren Formationen aus absterbenden Bäumen der einst im trockengelegten Moor angepflanzten Wälder.
Auch die Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern unterstützte das Entstehen einer großflächigen Naturlandschaft durch die gezielte Wiedervernässung weiterer entwässerter Polder im Zuge ihres Moorschutzprogramms. Doch ausgerechnet durch einige der wertvollsten Teile dieses neuen ökologischen Refugiums soll nun die Bahnstrecke gebaut werden.
Mehr Natur geht kaum in Deutschland
Zeit für einen Besuch vor Ort. Der historische – und mögliche künftige – Streckenverlauf am Anklamer Stadtbruch ist heute nur noch ein aufgeschotterter Weg durch die wiedervernässten Polder und eine der wenigen Möglichkeiten, das Gebiet zu erkunden. „Mehr Natur geht kaum in einem Land wie Deutschland“, sagt Günther Hoffmann, während er vom Damm aus mit dem Fernglas die Umgebung nach Vögeln absucht. Der ehrenamtliche Gebietsbetreuer der Naturschutzstiftung des Umweltverbands NABU kennt das Gebiet so gut wie wenige andere und führt als Tourguide auch Besucher zu den schönsten Stellen des Stadtbruchs.
Bei einer dieser Wanderungen kann man sich überzeugen, dass der Naturschützer nicht übertreibt. Mühelos lassen sich entlang des Bahndamms in kurzer Zeit zahlreiche der größten Naturschätze Deutschlands entdecken. Aus den Büschen, die den ehemaligen Gleisweg säumen, schmettern Nachtigallen und Sprosser ihren Gesang, rufen Karmingimpel, flöten Pirole. Im Schilf huschen Bartmeisen von Zweig zu Zweig. Ein Großer Feuerfalter flattert vorbei – die gefährdeten Schmetterlinge haben eine große Population hier. Unmittelbar am Fuße des Bahndamms ziehen an der Wasserkante seltenste Vogelarten wie Stelzenläufer und Weißbartseeschwalbe ihren Nachwuchs auf – Spuren von Bibern und Fischottern sind allgegenwärtig.
„Praktisch alle durch deutsches und europäisches Naturschutzrecht besonders geschützten Arten der Feuchtgebiete kommen hier in stabilen Beständen vor“, sagt Gebietsbetreuer Hoffmann und beschreibt damit die wohl größte Besonderheit des Naturraums am Oderhaff. Denn während auch andernorts in Deutschland mit gezielten Naturschutzmaßnahmen erreicht wurde, dass sich seltene Tier- und Pflanzenarten in kleiner Zahl wieder angesiedelt haben, konnten sich im Osten Mecklenburg-Vorpommerns große und stabile Populationen dieser Arten erhalten oder durch die Renaturierung sogar neu etablieren.
Droht dem Oderhaff ein „ökologischer Todesstreifen“?
Solche „Quellpopulationen“ sind entscheidend dafür, dass sich bedrohte Arten langfristig ihre angestammten Lebensräume zurückerobern können. Die Kombination aus erhalten gebliebenen naturnahen Wäldern im Süden Usedoms, großflächigen Flusstalmooren entlang der Peene und den durch Naturgewalten und Moorschutz wiedervernässten Gebieten um den Anklamer Stadtbruch hat ein großräumiges Mosaik aus wertvollsten Ökosystemen geschaffen, das seinesgleichen sucht.
„Die Bahntrasse durch das wiedervernässte Moor müsste durch Spundwände im Abstand von jeweils 50 Metern links und rechts entlang ihres Verlaufs vor dem Wasser geschützt werden“, sagt Hoffmann. Auch der Bahndamm selbst ruht auf einem Torfkörper und müsste wohl komplett neu gebaut werden. Einen „ökologischen Todesstreifen“, nennt der Naturschützer diese Planung.
Gefahr für den deutschen Wappenvogel
Besonders stark könnte die Bahnlinie eine Vogelart treffen, die als Symbol schlechthin für unzerschnittene weitläufige Naturlandschaften gilt: den Seeadler. Nirgendwo lässt sich Deutschlands größter Greifvogel öfter blicken als hier. Um den Stadtbruch und auf Usedom erreicht die Art ihre höchste Dichte in ganz Mitteleuropa. Allein im Einzugsgebiet der geplanten Bahnstrecke auf dem Festland brüten 12 Seeadler-Paare. Im weiteren Umfeld mit Usedom sind es sogar rund 90 Paare. Ihre riesigen Nester bauen die Adler in die durch die Wiedervernässung abgestorbenen Bäume des ehemaligen Nutzwaldes oder, wie auf Usedom, im Schutz der dichten alten Laubwälder. Sogar unmittelbar auf der ehemaligen Bahntrasse selbst prangt heute ein Seeadlerhorst in einem Baum.
Der Bau der Bahntrasse ausgerechnet in dieser europäischen Hochburg des Adlers wäre nach Einschätzung von Wissenschaftlern eine Katastrophe für die Adler beiderseits der deutsch-polnischen Grenze. Denn Zusammenstöße mit Zügen gehören zu den größten Bedrohungen überhaupt für die Vogelart, die die Wappen beider Länder ziert.
„Todesurteile für viele Adler mit Ansage“
Viel mehr der seltenen Greifvögel sterben durch herannahende Züge als im Straßenverkehr oder sogar an den viel diskutierten Windkraftanlagen. „Jeder fünfte tot aufgefundene Seeadler in Deutschland stirbt an einer Bahntrasse“, bestätigt Oliver Krone. Der Tiermediziner vom Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) untersucht die Entwicklung der deutschen Seeadlerpopulation seit 20 Jahren. Ein großer Teil der in Deutschland geborgenen Greifvögel landet auf seinem Labortisch zur Untersuchung der Todesursache.
Der Grund für die hohe Gefahr durch den Bahnverkehr für die Adler liegt an ihren Ernährungsgewohnheiten. Wie die meisten Greifvögel sind Seeadler Aasfresser und spielen dadurch eine wichtige Rolle im ökologischen Gefüge. Indem sie tote Tiere fressen, beseitigen sie auch die Gefahr von Krankheitsausbrüchen.
Entlang von Bahnstrecken ist der Tisch für die Adler reich gedeckt. Ungezählte Tiere – vom Hasen bis zum Hirsch – werden von Zügen erfasst und getötet. Für die Adler sind sie buchstäblich ein gefundenes Fressen. Zwar hören die Vögel, wenn ein Zug heranbraust und versuchen, davonzufliegen. „Die großen und schwerfälligen Tiere können aber selten entkommen und werden entweder direkt von der Lok erfasst oder seitlich in den fahrenden Zug hineingesogen“, erklärt Krone im Interview.
„Das Comeback der schon fast ausgestorbenen Seeadler ist eine der großen Erfolgsgeschichten des Artenschutzes“, betont der Wissenschaftler und zählt auf, was alles in den vergangenen Jahrzehnten im Artenschutz erreicht wurde: Um die Brutplätze herum dürfen keine Bäume gefällt werden, die Jagd auf die Vögel wurde verboten und gefährliche Pestizide wie DDT vom Markt genommen.
Seit einigen Jahren gibt es wieder eine stabile, sogar wachsende Population des Wappenvogels in Mecklenburg-Vorpommern und anderen Bundesländern. „Das ist aber kein Selbstläufer“, warnt Krone. Er verweist auf viele weitere menschengemachte Probleme für die Adler: Vergiftungen durch Blei, Kollisionen mit Windrädern und Oberleitungen – vor allem aber der Verlust von Lebensraum. Auch auf Usedom wächst dieser Druck. Ferienhaussiedlungen, neue Radwege – und nun die Bahnstrecke. Sie durch den Lebensraum der Adler zu bauen, wäre nach Krones Einschätzung ein „Todesurteil für viele Adler mit Ansage“.
Touristen wollen Natur
Die Zerschneidung der Landschaft durch Bahnanlagen würde die am stärksten naturbelassenen Teile der Insel nicht nur für die Adler, sondern auch touristisch entwerten, gibt Naturschützer Hoffmann zu bedenken. Er verweist auf eine Tourismusstudie, nach der 70 Prozent der befragten Urlauber angegeben haben, sich vor allem wegen der Natur für Usedom entschieden zu haben. „Strand und Meer gibt es überall an den Küsten – Strand, Meer und Natur dagegen kaum noch.“
Umweltminister Backhaus legt sich nicht fest
Und was sagt die Landesregierung zu den Bedenken? Während Wirtschaftsminister Reinhard Meyer (SPD) das Vorhaben vorantreibt, gibt sich Umweltminister Till Backhaus zurückhaltend. Der Sozialdemokrat ist stolz darauf, dass der Moorschutz in Mecklenburg-Vorpommern schon früh als wichtige Aufgabe erkannt worden sei. „Wir haben 35.000 Hektar renaturiert“, bilanziert er im Gespräch. Sollte das Projekt in die konkrete Planungsphase kommen, werde sein Ministerium gründlich prüfen und abwägen, sagt Backhaus.
„Einzigartige Landschaft wird nicht aufs Spiel gesetzt“
„Wir haben hier europäische FFH-Schutzgebiete, wir haben Vogelschutz- und Naturschutzgebiete und wir sind in einer Region, in der wir viel für die Wiedervernässung der Moore tun“, zählt er auf, was für Naturschutz spricht. Gleichzeitig sei klar, dass es auch eine Verkehrswende geben müsse. „Wir alle müssen uns umstellen und der öffentliche Personenverkehr ist ein wichtiges Mittel, den Individualverkehr zu reduzieren“, argumentiert der Klimaschutzminister, der Backhaus ebenfalls ist. Ist er nun für oder gegen das Bahnprojekt? Das sei ein Entscheidungs- und Abwägungsprozess, der sicher Jahre in Anspruch nehmen werde: Öffentlich festlegen will Backhaus sich nicht. Nur soviel noch an Für und Wider: „Hier gibt es eine Trasse, die früher auch genutzt wurde.“ Andererseits: „Klar ist, wir sind auch dank unserer einzigartigen Landschaft das beliebteste Urlaubsland in Deutschland – und das werden wir nicht aufs Spiel setzen.“
Die Ampel-Koaliton will die Strecke im Eiltempo realisieren
Ampel will die Strecke beschleunigt ausbauen Noch ist die Finanzierung für das Projekt nicht gesichert und damit ist unklar, wann konkrete Planungen und anschließend Bauarbeiten beginnen können. Aber Wirtschaftsminister Meyer treibt die Pläne in der Hoffnung auf eine Bundes-Finanzierung des absehbar weit über eine Milliarde Euro teuren Projekts (eine erste Schätzung ging von 700 Millionen Euro aus) voran.
Das Geld muss vom Bund kommen
Voraussetzung für einen hohen Bundeszuschuss ist eine Wirtschaftlichkeitsprüfung. Diese soll im nächsten Jahr fertig sein. Dann könnte es schnell gehen und auch auf Bundesebene hat das Projekt viele Freunde. Nach Angaben der grünen Bundestagsabgeordneten Claudia Müller hat sich die Ampelkoalition bereits darauf verständigt, die Bahnstrecke auf die Liste der Vorhaben zu setzen, die beschleunigt umgesetzt werden sollen. „Die Südanbindung von Usedom kommt endlich!“, zeigte sie sich in einer Mitteilung sicher. Ob die beschleunigte Umsetzung nach den umstrittenen Gesetzesänderungen im sogenannten Oster-Paket der Ampel-Koalition auch die gründliche Prüfung der Naturverträglichkeit aushebeln würde – wie bereits bei anderen Infrastrukturprojekten – ist noch unklar.
Mit Naturschutzrecht kaum vereinbar
Mit dem bestehenden europäischen Naturschutzrecht dürfte der Trassenverlauf durch die Filetflächen der Natur im Nordosten Deutschlands kaum vereinbar sein, glauben Experten. Schon heute hat die Europäische Kommission mehrere Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland wegen mangelhafter Umsetzung des Naturschutzes in europäischen Schutzgebieten eingeleitet.
Weite Teile des Einzugsgebietes der Bahnplanung gehören zu diesem Schutzgebietsnetz Natura 2000. Noch haben die Untersuchungen zur Umweltverträglichkeit für das Projekt nicht begonnen. Dass der Naturschutz zu einer echten Hürde werden könnte, glaubt aber auch mancher Insider. Hinter vorgehaltener Hand sagt ein maßgeblicher politischer Entscheidungsträger, warum er sich weder für noch gegen das Vorhaben verkämpfen wolle: Am Ende einer ernsthaft betriebenen Umweltprüfung sei absehbar, dass der überragende Naturschutzwert entlang der Strecke die Pläne aller Voraussicht nach platzen lassen werde. Damit erledige sich das umstrittene Thema von selbst.
Droht ein Millionengrab?
Dass die Strecke eigentlich nicht genehmigungsfähig ist, glaubt auch Naturschützer Hoffmann. Das gelte umso mehr, als es eine umweltverträgliche Alternative gebe. Statt die Südanbindung neu zu bauen, könnte man die bestehende Nordanbindung durch einige wenige Trassenergänzungen und den zweispurigen Ausbau bestehender Verbindungen aufwerten und Bahnreisenden aus Berlin so den zeitraubenden Umstieg ersparen, schlägt Hoffmann vor. Entscheidend sei, möglichst früh auf Alternativen umzusatteln – bevor aus dem Vorhaben ein teures Millionengrab werde, für das dem Naturschutz die Schuld in die Schuhe geschoben werde. Zeit dazu wäre es: Allein für die Machbarkeitsstudie, auf die der umstrittene Streckenverlauf zurückgeht, wurden schon 2,8 Millionen Euro aus Steuermitteln ausgegeben.