Mehr Klimaschutz durch Bürgerräte?
Ein Gespräch mit Partizipationsforscher Professor Hans-J. Lietzmann darüber, wie sich mit Hilfe von Beteiligungsprozessen auch schwierige Themen konstruktiv bearbeiten lassen.
In Frankreich hat kürzlich ein Bürgerrat seine Vorschläge zur Klimapolitik veröffentlicht. Emmanuel Macron hatte die mit zufällig ausgewählten Bürger*innen besetzte Versammlung beauftragt, konkrete Klimaschutzmaßnahmen zu entwickeln. Damit reagierte der französische Staatspräsident auf die sogenannten Gelbwestenproteste, die sich unter anderem gegen höhere Benzinpreise gerichtet hatten. Die Ergebnisse des Bürgerrats sind erstaunlich ambitioniert: Die Teilnehmer*innen wollen das Ende der Inlandsflüge, fordern eine Absenkung des Tempolimits auf 110 km/h, eine Klimasteuer für Wohlhabende und sie wollen den Klimaschutz in der Verfassung verankern. Für Prof. Dr. Hans-J. Lietzmann vom Institut für Demokratie- und Partizipationsforschung an der Bergischen Universität Wuppertal kommt das wenig überraschend. Seiner Erfahrung nach haben gut organisierte Bürgerversammlungen das Potenzial, in stark aufgeladenen politischen Debatten faire Lösungen zu finden.
Warum befürworten Sie Instrumente wie Bürgerräte?
Man muss sich vor Augen halten, dass die Form von repräsentativer Demokratie, die wir im Moment anwenden, in den späten vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts eingeführt worden ist. Momentan beobachten wir einen heftigen Legitimationsverlust der Institutionen, kaum einer vertraut mehr den alten vertikalen Entscheidungssystemen, den Parteien. Parlamentsbeschlüssen wird misstraut und ganze Bevölkerungsgruppen steigen aus der Wahlbeteiligung aus. Wir brauchen also Innovationen, die unsere Demokratie modernisieren, und Instrumente, durch die sich möglichst viele dieser Menschen wieder angesprochen fühlen.
In Frankreich initiierte Präsident Macron die „Convention citoyenne pour le climat“, zu Deutsch eine „Bürgerkonvention für das Klima“, mit dem Ziel konkrete Vorschläge für mehr Klimaschutz zu entwickeln. Seine Hoffnung: Mit einem solchen Beteiligungsprozess die extrem aufgeladene Situation und die zum Teil gewalttätigen „Gelbwesten-Proteste“ zu entschärfen. Kann das gelingen?
Es ist wissenschaftlich belegt, dass diese Instrumente so wirken können. Wir führen schon seit vielen Jahren solche zufallsausgewählten Beteiligungsverfahren durch und sehen, dass sie besonders geeignet sind in hoch polarisierten Situationen. Partizipative Prozesse und Bürgerbeteiligung können hier Abhilfe schaffen. Wir können nachweisen, dass in den Kommunen, in denen solche Prozesse gut gelaufen sind, die Wahlbeteiligung wieder steigt und neue Gruppen für die Wahl zurückgewonnen werden.
Wie erklären Sie sich das?
Die zufällig ausgewählten Bürger des Beteiligungsprozesses treten im Prinzip auf wie unbeteiligte Dritte. Die Streitpartner des konkreten Konflikts selbst treten höchstens als Experten im Verfahren auf, können also ihr Interesse darstellen. Diese polarisierten Stellungnahmen werden dann von den Bürgern mit ihrem Common Sense diskutiert. Das schafft eine umfassende Gemeinwohlorientierung im Diskurs. Beispiel Benzinkosten: Da gibt ja eine ganz reale Benachteiligung für Pendler. In aller Regel werden von Bürgern bei solchen Streitfragen dann direkt Kompensationen mitbedacht. Es geht nicht um eine Ja-oder-Nein-Entscheidung oder darum, dass den einen Recht und den anderen Unrecht getan wird. Stattdessen werden Alltagsverstand und Alltagserfahrungen mobilisiert, um für alle tragbare Kompromisse zu finden.
Halten Sie das Instrument auch geeignet, um Maßnahmen zum Klimaschutz zu diskutieren?
Ja, denn bei all den Fragen, die in solchen Versammlungen verhandelt werden – und das gilt auch für Klimafragen –, geht es nicht einfach um politische Entscheidungen, sondern um einen lebendigen sozialen Prozess, der eingeleitet werden muss. Die Klimawende kann nur funktionieren, wenn sie im realen Alltag sozial getragen wird.
Wir haben im Land zum Beispiel eine Menge Planungsruinen, zum Beispiel Kraftwerke, herumstehen, die vielleicht einmal sehr schlüssig konzipiert waren, bei denen aber spätere Neuorientierungen in der Atom- oder Kohlepolitik, nicht bedacht wurden. Oder Autobahnbrücken oder Schwimmbäder, deren dauerhafte Erhaltung und Finanzierung, z.B. nach der Eurokrise in Frage stehen.
Bei der Energie- und Klimawende geht es nicht darum etwas exakt zu planen, sondern darum einen sozialen Prozess in Gang zu bringen, der funktioniert und durch unterschiedliche Etappen lebendig gelebt wird. Es kann deshalb nicht darum gehen, von oben herab einen neuen Lebensstil zu entwerfen und anschließend um die Akzeptanz der Bürger zu werben. Das ist der falsche Weg, umgekehrt ist es richtig. Was sozial akzeptiert wird, können nicht irgendwelche Experten entscheiden, sondern nur die Bürgerschaft selber. Insofern ist es unausweichlich, dass man die Gesellschaft und die betroffenen Menschen selber darüber diskutieren lässt.
Das Gesetz sieht aber bereits einige Mitspracherechte für Bürger vor. Reicht das nicht?
Natürlich gibt es juristisch vorgeschriebene Verfahren wie etwa die Bebauungsplanung. Die finden aber meist im Verborgenen statt und außer den Expertenverbänden ist niemand dabei. Dort, wo Bürger angesprochen sind, haben sie meist nur ein schriftliches Äußerungsrecht oder ein Klagerecht. Die gesetzlich vorgeschriebenen Beteiligungsprozesse schützen eigentlich nur die Rechteinhaber. Wenn ich aber in einer Kommune die Energiewende und Klimaschutz durchsetzen möchte, dann brauche ich aber nicht nur die, deren Rechte verletzt wurden und die sich gegen die Veränderung sperren; sondern es geht darum, dass die Bürgerschaft das Leben in ihrer Kommune konstruktiv plant und positiv gestaltet.
Wie beurteilen Sie den Status Quo bei der Einbindung bislang?
Gemessen an der Dimension der Energie- und Klimawende gibt es ziemlich wenige Beteiligungsprojekte. Es gibt zwar Bürgerversammlungen und die sogenannte selbst rekrutierte Bürgerbeteiligung. Daran nehmen aber in der Rege vorwiegend diejenigen teil, die selbst bereits eine ganz klare Perspektive haben und die sich nicht erst informieren wollen, sowie Menschen, die sowohl rhetorisch, finanziell und zeitlich über die entsprechenden Ressourcen verfügen. Solche selbstorganisierten Bürgerinitiativen sind klassische Mittelstandsprojekte. Bei einer wirksamen politischen Beteiligung kommt es aber darauf an, dass man eine breite repräsentative Gruppe in die Debatte einbezieht.
Wie kann das gelingen?
Dafür gibt es spezielle, aber sehr einfache und routinierte Verfahren, bei denen man übers Einwohnermeldeamt eine entsprechende Gruppe einlädt. Auf diese Weise kommen auch Menschen, die sich von alleine nicht angesprochen fühlen, die sich abgehängt fühlen oder denken, dass „sich die Entscheidungs-Elite abkapselt“, und die im schlimmsten Fall in die Fundamentalopposition gehen. Solche „aufsuchende“ Verfahren sollten deutlich verstärkt angewendet werden.
Was sind Fehler, die man dabei unbedingt verhindern sollte?
Ich bin sehr dafür, in die Zufallsauswahl möglichst wenig einzugreifen, und auf diese Weise eben jenen Menschen den Weg zu ebnen, die Schwierigkeiten haben teilzunehmen. Entweder indem ein bisschen Geld bezahlt oder eine Kinder- oder eine Altenbetreuung organisiert oder Bildungsurlaub gewährleistet wird. Durch solche begleitenden Maßnahmen wird sichergestellt, dass sich z.B. auch Leute beteiligen, die schon längst nicht mehr wählen gehen.
Was ist noch wichtig?
Dass man sehr gut darauf achtet, dass man Stadt und Land und sowohl wohlhabende als auch prekäre Wohnquartiere einbezieht. Es gibt genügend Hinweise darauf, dass etwa der Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschland vor allen Dingen einer von sozialen Milieus ist, die städtisch und weniger städtisch sind. Um Polarisierung zu vermeiden, spielt es eine große Rolle, dass man nicht nur auf die Zentren schaut; und dass man die Peripherie nicht abhängt.
Wie ist das mit dem Alter? Jüngere Menschen werden von Klimathemen viel stärker betroffen sein als die ältere Generation. Können da auch noch nicht wahlberechtigte Menschen einbezogen werden?
Auf jeden Fall. Es muss natürlich eine gewisse Diskursfähigkeit vorhanden sein, sonst gehen die jungen Menschen unter. Wir integrieren in unsere Partizipationsprozesse regelmäßig auch Jugendliche ab einem Alter von 16, manchmal auch 14 Jahren. Und vereinzelt gestalten wir sogar eigene Jugendplanungszellen.
Und wenn es jetzt ganz konkret um Klimaschutz gehen soll, was gilt es zu beachten?
Mein Institut hat gemeinsam mit dem Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung (IASS) eine bundesweite repräsentative Umfrage gemacht zur Klima- und Energiewendepolitik. Die Ergebnisse haben sehr deutlich gezeigt, dass Klimapolitik eine hohe Zustimmung hat – allerdings nur bis zu dem Moment, wo es konkret wird. Bei konkreten Maßnahmen verschärft sich sofort der Widerstand, etwa wenn es um weniger Automobilität geht. Was ich damit sagen will: Man sollte im Klimarat nicht zu abstrakt bleiben, sondern muss konkrete Fragen und die konkreten Konflikte im Alltagsleben bearbeiten. Nur dann bekommt man ehrliche Antworten. Und man braucht ehrliche Ergebnisse, damit so ein Instrument politisch wirksam wird.
Weiß der Durchschnittsbürger genug über Klimaschutz, um vernünftig darüber zu diskutieren?
Damit eine politische Beteiligung fruchtbar sein kann, darf sie nicht nur ein beliebiger Stammtisch sein. Sie braucht Informiertheit und deswegen muss das mit Experten gemeinsam durchgeführt werden. Menschen, die sich an der Gestaltung der Energie- und Verkehrswende beteiligen sollen, müssen genauso von Fachleuten informiert werden wie zum Beispiel Politiker in einem Gemeinderat oder einem Landtag, damit sie wissen, über welche Optionen sie überhaupt verfügen. Ihre Entscheidung treffen sie dann aber ohne Experten. Dann stellt sich raus, welche Chancen und Risiken die Bürger für sich persönlich und insgesamt sehen. Auf diese Weise kommt man zu politischen Entscheidungen, die auch tragen.
Dann kann es doch auch vorkommen, dass die Entscheidungen hinter den Vorstellungen von den Experten zurückbleiben, oder nicht?
Klar. Das ist nur natürlich. Es ist aber auch richtig! In aller Regel herrscht vor solchen Diskussionsrunden bei den Experten eine hohe Skepsis. Ich habe festgestellt, dass zum Beispiel Ingenieure besonders kritisch sind, egal ob es um eine Smart City oder Smart Grid-Projekte, Wasser- oder Klimatechnik geht. Ingenieure entwickeln oft fantastische Lösungen und haben manchmal regelrecht Panik davor, dass diese überhaupt öffentlich diskutiert werden. Sie denken, das muss alles eins zu eins umgesetzt werden. Verrückterweise stellt sich oft heraus, dass sie häufig Kleinigkeiten übersehen und hinterher froh sind, dass sie den Hinweis bekommen haben und ihr eigenes Modell verbessern und sozial verträglich machen können. Weil die Akzeptanz dieser technischen Lösungen schließlich immer davon abhängt, dass sie auch sozial umsetzbar werden. Das ist im Prinzip das Wunderbare, die Zusammenführen von Fachwissen und Alltagspraxis, was mit solchen Prozessen geleistet werden kann.
„Das Klima verhandelt nicht“, ist eine Parole, die von Klimaschützern gerne bemüht wird. Das heißt, wenn Bürger „zu wenig radikale“ Entscheidungen treffen, könnte das schon ein Problem sein. Was machen Klimawissenschaftler, wenn solche Konsultationsprozesse hinter ihren Vorstellungen zurückbleiben? Das muss man dann akzeptieren in einer Demokratie?
Als Wissenschaftler müssen Sie gar nichts akzeptieren. Sie müssen aber damit leben, dass Sie Ihre wissenschaftlich klugen Ideen möglicherweise in dieser Gesellschaft nicht umgesetzt bekommen. Nur weil jemand sagen kann: „Meine Forschung ist existenziell!“, macht das die Entscheidungen nicht sozial tragbarer. Die Frage ist doch, was passiert, wenn Wissenschaft zu Ergebnissen kommt, die sie nicht vermitteln kann? Theoretisch kann es immer sein, dass Bürger kluge Vorschläge ablehnen. So ist das Leben! Aber praktisch ist es oft auch so, dass Vorschläge, die Bürgern zunächst nicht praktikabel erscheinen, gerade in solchen Verfahren plausibel und verständlich gemacht werden. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Ingenieure und Stadtplaner verstehen lernen, dass sie von solchen Verfahren profitieren, weil es ihr Anliegen stärkt, wenn sie Anpassungen, neue Aspekte, Adaptionen und leichte Strukturveränderungen in die Planung mit aufnehmen. Das ändert an der Grundidee nichts, macht es aber für die Bürger verständlicher und sogar richtiger. Erst die Mischung aus Fachwissen und Alltagswissen ergibt eine solche „sozial robuste“ Planung.
Ein weiteres Problem könnte sein, dass Bürger*innen sich zwar ambitionierte Klimamaßnahmen überlegen, diese dann aber von der Politik nicht umgesetzt werden.
Wenn eine solche Versammlung etwas beschließt, dann steht das als politische Meinung mit einem hohen Gewicht im Raum. Das ist meiner Erfahrung nach mindestens so viel wert wie ein institutioneller Beschluss. Kein Politiker, der noch wiedergewählt werden will, kann das völlig negieren.
Gibt es Beispiele, bei denen Entscheidungen von Bürgerversammlungen verbindlich sind?
Ja, in Ostbelgien. Dort lebt es eine deutschsprachige Gemeinschaft, die – wie eine eigenes Bundesland – ein eigenes Parlament hat. Dort gibt es nun eine Bürgerversammlung mit 25 bis 50 ausgelosten Bürgern, die über ein bestimmtes Thema diskutieren und Empfehlungen dazu an die Politik aussprechen. Das Parlament hat beschlossen, sich diesem Votum vollständig zu unterwerfen. Da gibt es zum ersten Mal eine Verbindlichkeit – natürlich in einem vergleichsweise kleinen Modell.
Ist das sinnvoll?
Es kommt immer auf die Situation an. Eine so harte institutionelle Verknüpfung birgt die Gefahr für neue Konflikte mit den parlamentarischen und exekutiven Akteuren.
Und ist das vielleicht aufgrund der großen Verantwortung auch eine besonders große Bürde für diejenigen, die an einer Bürgerversammlung teilnehmen?
Ja, das ist eine Bürde, denn das verändert den gesamten Prozess. Ich selbst plädiere dafür, die Funktion solcher Versammlungen zunächst einmal als eine Erweiterung Gewaltenteilung zu betrachten. Als einen eigenen politischen Handlungszweig neben Parlament, Verwaltung und Gerichten.
Wie könnten derartige Beteiligungsprozesse in den Kommunen und Ländern initiiert werden?
Die politisch Verantwortlichen müssen dafür sorgen, solche Vorgänge anzustoßen, wenn sie ihre eigene Legitimation behalten wollen. Die Tragfähigkeit ihrer Entscheidungen, die sie bezüglich der Energiewende und Klimaschutz treffen, hängt davon ab. Von wo der Impuls kommt, ob von der Verwaltung oder dem Gemeinderat, ist letztlich egal. Am besten wäre es, wenn die Kommunen einen Beauftragten für Bürgerbeteiligung hätten oder einen Dezernenten, der das in seinem Arbeitsbereich prominent mitbetreut. Das gibt es ja zum Teil schon, genauso wie auch Leitlinien oder Richtlinien für Beteiligung in den Kommunen, die das vorsehen oder vorschreiben. Aber all das muss dann auch Von der Kommunalpolitik und der Bürgerschaft mit Leben erfüllt werden.
Zur Person:
Hans-J. Lietzmann ist Lehrstuhlinhaber für Politikwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal und Direktor des dortigen Instituts für Demokratie- und Partizipationsforschung. Er ist Wissenschaftlicher Beirat des Bürgerrats Demokratie, einer Initiative des Vereins „Mehr Demokratie“. Einen ersten Erfolg kann diese Initiative bereits verzeichnen. Der Ältestenrat des Deutschen Bundestages hat am 18.6. einen losbasierten Bürgerrat zur Rolle Deutschlands in der Welt beschlossen. Nach dem Vorbild des „Bürgerrats Demokratie“ sollen dazu 160 per Los ausgewählte Bürger*innen an drei Wochenenden noch in diesem Jahr im Austausch mit Expertinnen und Experten diskutieren und Handlungsempfehlungen erarbeiten. Diese sollen in Form eines Bürgergutachtens Anfang 2021 vorliegen.
Zum Weiterlesen:
· Soziales Nachhaltigkeitsbarometer der Energiewende 2019, IASS Potsdam
· Der Bürgerdialog in Ostbelgien: https://www.buergerdialog.be/
· Tempolimit, Flughafenverbot und Klimasteuer, Zeit online über den französischen Klimarat