Naturschutz wirkt: Die wunderbare Rettung des Tuit Tuit
Durch beherztes Handeln haben Menschen bereits Dutzende Tierarten vor dem Aussterben bewahrt – darunter diese Vogelart auf La Réunion
Gute Nachrichten aus dem Naturschutz: Rechtzeitig vor internationalen Großereignissen, bei denen die Weichen für die künftige Umweltpolitik und ihre Finanzierung gestellt werden, zeigt eine wissenschaftliche Studie, dass Naturschutz wirkt. Mit gezielten Maßnahmen kann das Artensterben zumindest verlangsamt werden, ermittelte ein internationales Wissenschaftlerteam.
Die Forscherinnen und Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass seit dem Inkrafttreten des internationalen Übereinkommens über die biologische Vielfalt, (CBD) im Jahr 1993 mindestens 28 Vogel- und Säugetierarten vor dem Aussterben bewahrt wurden. Mit einiger Wahrscheinlichkeit waren es deutlich mehr, nämlich zwischen 21 und 32 Vogelarten und sieben bis 16 Säugetierarten.
“Das ist ein Aufruf zum Handeln“
"Normalerweise hören wir schlimme Geschichten über die Biodiversitätskrise, und es besteht kein Zweifel daran, dass wir einem beispiellosen Verlust an biologischer Vielfalt durch menschliche Aktivitäten gegenüberstehen – aber der Verlust ganzer Arten kann gestoppt werden, wenn der Wille dazu ausreicht“, sagt einer der Studienautoren, der Professor am der Universität Newcastle Phil McGowan. „Das ist ein Aufruf zum Handeln“.
Das Artensterben zu stoppen, war auch eines der wichtigsten Biodiversitätsziele, die sich die Staatengemeinschaft bis 2020 gesetzt hatte. Zwar wurde keines dieser "Aichi Biodiversitätsziele“ vollständig erreicht. Aber die in den Conservation Letters veröffentlichte Studie zeigt, dass sich der Kampf für den Erhalt von Arten dennoch lohnt.
Zu den Tierarten, die ohne Hilfe ausgestorben wären, zählen Säugetiere wie der Iberische Luchs und das Przewalski-Pferd und Vogelarten wie der Spixara, der Kalifornische Kondor – und ein kleiner unscheinbarer Singvogel mit klingendem Namen: Der Tuit Tuit oder auch Newtonraupenfänger, von dem die folgende Reportage handelt.
Den Kampf um sein Überleben ist exemplarisch für die Anstrengungen, die weltweit unternommen werden, um die Artenvielfalt auf dem Planeten zu erhalten. Autor Thomas Krumenacker besuchte das Projekt vor einigen Jahren und hält seitdem den Kontakt zu den Vogelschützern auf der Insel.
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„Die Mission der Wanderer ist dringlich: Es geht ihnen um nicht weniger als die Rettung eines der seltensten Vögel der Erde, des Tuit-Tuit“
Frühmorgens bei erstem Licht macht sich die kleine Gruppe auf den Weg – der feuchte Nebel hängt noch dicht über dem Regenwald von La Réunion, der 600 Kilometer westlich von Madagaskar inmitten des Indischen Ozeans gelegenen Maskarenen-Insel. So flink, dass der europäische Besucher kaum mithält, eilt die kleine Schar Wanderer trotz vollgepackter Rucksäcke die steilen Pfade des Naturschutzgebietes La Roche Ecrite hinauf. Über dicht mit Moos bedeckten Boden geht es zügig vorbei an üppig wuchernden Farnen und Palmen, das Grün sprießt überall in unzähligen Schattierungen unter einem subtropischen Sonnenlicht, das nur gedämpft durch den dichten Blätterwald dringt. Ein Paradies. Die Wanderer schenken der Umgebung aber wenig Beachtung.
Als hätten sie keine Zeit zu verlieren, geht es fast eine Stunde lang mit unvermindertem Tempo beständig bergan. Und ihre Mission ist in der Tat dringlich: Es geht ihnen um nicht weniger als die Rettung eines der seltensten Vögel der Erde, des Newton-Raupenfängers oder – wie er hier nur bei seinem einprägsamen kreolischen Namen genannt wird: Tuit-Tuit (gesprochen etwa twitt-twitt). Ihn verdankt der gut buchfinkengroße Singvogel mit dem wissenschaftlichen Namen Coracina newtoni seinem entfernt an einen Kleiber erinnernden einprägsamen Ruf.
Der Tuit Tuit hat nur noch in einem zwölf Quadratkilometer großen Gebiet überlebt
Nur noch hier, im Zentrum des Naturschutzgebiets Roche Ecrite und beschränkt auf ein rund 12 Quadratkilometer kleines Gebiet im Nordwesten der zu Frankreich gehörenden Insel, hat der Tuit-Tuit überlebt. Und, wie so viele endemische Vogelarten auf Inseln, kämpft er einen Überlebenskampf hauptsächlich gegen zwei Feinde: Ratten und Katzen, beides im Zuge der Besiedlung durch Europäer eingeschleppte invasive – gebietsfremde – Tierarten. Unterstützung erhält der Vogel seit einigen Jahren durch eine kleine, aber hochmotivierte Schar von Ornithologen. Zu ihnen gehören die Wanderer, die nach einer knappen Stunde endlich ihre Rucksäcke absetzen und statt Proviant für sich nun aus ihren Rucksäcken Giftköder gegen Ratten auspacken und sorgfältig unter der Vegetation platzieren. „Der Tuit-Tuit soll nicht dasselbe Schicksal erleiden wie der Dodo“, erläutert einer der Vogelschützer, noch etwas außer Atem, die rabiate Methode.
Der Dodo ist ausgestorben, aber überall präsent: Als Reklame für Bier und als Souvenir aus Stoff
Der Dodo ist die wohl berühmteste durch menschlichen Einfluss und invasive Tierarten ausgerottete Vogelart: Um 1680 starb er aus – auf der Nachbarinsel Mauritus. Nach neueren Forschungsergebnissen geschah das, weil seine Eier von Katzen, Ratten und Schweinen gefressen wurden, die mit den europäischen Neusiedlern angekommen waren. Und ein Einzelfall war der Dodo wahrlich nicht. Invasive Tierarten sind weltweit betrachtet die wichtigste Ursache für das Aussterben von Vogelarten in den letzten 500 Jahren. Am schlimmsten wüteteten die über Schiffe eingeschleppten Ratten und Katzen. Aber auch Hausmäuse, Hunde und einige Vogelarten zählen zu den invasiven Arten.
Die ozeanischen Inseln sind besonders betroffen. Hier sind die über Millionen Jahre geografisch isoliert lebenden einheimischen Tierarten evolutionär nicht an die Prädatoren angepasst. Drei Viertel aller auf Inseln gefährdeten Vogelarten sind aufgrund von eingeschleppten Tierarten bedroht.
Auch auf La Réunion hat die menschliche Besiedlung ökologisch einen sehr hohen Preis gefordert. Seit der ersten Besiedlung im 17. Jahrhundert wurden 75 Prozent der natürlichen Vegetationsflächen zerstört, 50 Prozent der Wirbeltiere sind ausgestorben, darunter 55 Prozent der Vogelarten, die hier einst lebten.
Die heutige Vogelwelt ist wie auf allen entlegenen ozeanischen Inseln eher artenarm und zugleich von einem hohen Anteil endemischer und bedrohter Arten geprägt. Die Insel rangiert auf der Liste der 20 Gebiete mit dem höchsten Prozentsatz an weltweit vom Aussterben bedrohten Vogelarten nach Madagaskar auf Platz 16.
Das Beispiel des Dodo und anderer Arten vor Augen, wollen Vogelschützer gerade hier, fast in Sichtweite zur Dodo-Heimat Mauritius, nichts unversucht lassen, eine weitere Vogelart vor dem Aussterben zu bewahren. Und so setzen sie auf Gift gegen Ratten, der wichtigsten aber nicht einzigen Gefahr für den kleinen Singvogel, der sich nur selten aus dem dichten Laubdach hervorwagt.
Plötzlich fand sich der Tuit Tuit unter den Top-Ten der seltensten Vogelarten der Erde
Wie nötig der Tuit-Tuit Hilfe braucht, zeigt ein Blick auf die Bestandsentwicklung, die sich wie eine Fieberkurve liest: Mitte des 19. Jahrhunderts noch weit verbreitet und häufig, wurde der Bestand des Newton-Raupenfängers in einer ersten Schätzung 1974 mit nur noch 120 Paaren angegeben.
Über rund 20 Jahre lang bis zur Jahrtausendwende wurde diese Zahl als realistisch angesehen. Doch dann offenbarten systematische Zählungen der Société d’Etudes Ornithologique de la Réunion (SEOR) ab Anfang der 2000er Jahre, dass es weitaus schlechter um die Art bestellt war als angenommen. Zeitweise wurden nur noch sieben Paare gezählt, das Verbreitungsgebiet hatte sich um weitere zehn Quadratkilometer verringert. Die Art rangierte plötzlich unter den Top Ten der seltensten Vogelarten der Erde, die Grenze zum unmittelbar bevorstehenden Aussterben war erreicht.
Der Tuit-Tuit kam auf die Agenda internationaler Schutzbemühungen: Die Internationale Naturschutzunion IUCN stufte die Art von „stark gefährdet“ auf „vom Aussterben bedroht“ herauf. In der Folge wurde der Newtonraupenfänger in die „Grenelle“-Liste der Arten aufgenommen, für die umgehend Aktionspläne ausgearbeitet werden müssen, um das Überleben zu sichern. Damit lief die Hilfe an. Der Aktionsplan identifizierte Ratten als die wichtigste Bedrohung für die Art.
Ratten, Katzen und der Klimawandel bedrohen die letzten Tuit Tuits
Der Kampf gegen die Nager begann 2005. Systematisch wurden im Herzen des Tuit-Tuit-Vorkommens Giftköder ausgelegt. Kein leichtes Unterfangen, denn das Verbreitungsgebiet des Tuit Tuit ist nur zu Fuß erreichbar, steil und unübersichtlich. Zwei- bis dreimal in der Woche müssen sich kleine Gruppen von Vogelschützern aufmachen, um die Köder auszulegen und den Erfolg zu kontrollieren. Hinzu kommt: Die Giftköder müssen so versteckt werden, dass sie einerseits effektiv von Ratten erreicht werden können, andererseits aber nicht zu nahe an den Jagdgründen der sich von Ratten ernährenden Réunion-Weihe befinden – einer weiteren vom Aussterben bedrohten Vogelart, die sich ausgerechnet überwiegend von Ratten ernährt.
Wichtiger Bestandteil des auch durch das Life-Programm der Europäischen Union mitgeförderten Schutzprogramms ist auch die Verringerung des von Wanderern hinterlassenen Abfalls, der die Attraktivität des Tuit-Tuit-Lebensraums für seinen größten Feind dramatisch erhöht.
Denn der Freizeitdruck auch auf das letzte Rückzugsgebiet, das spektakulär schöne Gebirgsmassiv des Roche Ecrite, ist enorm, wie ein zweiter Blick auf das vermeintliche Paradies zeigt: Ein riesiger Parkplatz für Ausflügler mitten im Wald, bestens ausgeschilderte Wege und alle paar Minuten ein Wanderer oder Bergjogger schon am frühen Morgen.
Der Schutz wirkt: Die Zahl der Brutpaare hat sich versechsfacht
Obwohl Teil des Nationalparks und des eigens zum Schutz der Art 1999 geschaffenen Naturschutzgebiets durchzieht den Lebensraum des Tuit Tuit ein dichtes Netz an Wanderwegen. Nur 15 Kilometer von der Inselhauptstadt Saint Denis entfernt, strömen 70.000 Besucher im Jahr hierher. Um die Abfälle zu verringern wurden entlang der Wanderwege Hinweisschilder aufgestellt, mit der Bitte, keine Abfälle zu hinterlassen. Zudem wurden an zentralen Stellen rattendichte Abfallcontainer installiert.
Der ganze Aufwand hat sich gelohnt, wie die parallel zum Beginn der Anti-Rattenkampagne begonnene exakte Überprüfung des Reproduktionserfolgs zeigt. So betrug dieser beispielsweise bereits im ersten Jahr 2005/2006 in den noch nicht von Ratten befreiten Gebieten des Naturschutzgebietes nur 33 Prozent, in den Sektoren, in denen mit dem Auslegen von Rattengift begonnen worden war, waren es dagegen stolze 80 Prozent. Der Vergleich der Reproduktionserfolge in Sektoren des Brutgebietes mit und ohne Bekämpfung der Rattenbestände spricht also eine deutliche Sprache. Über den gesamten bisherigen Zeitraum der Anti-Rattenkampagne von 2005 wurde eine dreistellige Zahl Jungvögel des Newton-Raupenfängers flügge, im Schnitt etwas mehr als ein Jungvogel pro Brut.
In der Saison 2020 schritten 41 Tuit-Tuit-Paare zur Brut
„Der Bruterfolg verdoppelt sich in den Bereichen, in denen wir die Ratten bekämpfen“, bilanziert Damien Fouillot, der für die SEOR den Schutz der Art koordiniert. 2012, sieben Jahre nach Beginn der Anti-Ratten-Kampagne, betrug der Reproduktionserfolg der zur Brut schreitenden Paare erstmals 100 Prozent. Mittlerweile sind mehr als 1000 Hektar und damit der größte Teil des Kernsiedlungsgebiets rattenfrei. In der Brutsaison 2020 schritten 41 Paare zur Brut, eine Versechsfachung gegenüber dem Tiefstand von sieben Paaren zu Beginn der 2000er Jahre.
Das ist eine Erfolgsgeschichte, reicht aber bei weitem nicht aus. Eine lebensfähige Population muss Berechnungen zufolge mittelfristig aber mindestens 120 Paare umfassen.
Und Ratten und Katzen sind nicht die einzigen Gefahren für den Tuit Tuit.
Da ist zum Beispiel der Klimawandel, dem in einer Bedrohungsanalyse eine ebenfalls gewichtige Rolle beigemessen wird. Denn klimabedingt gibt es bereits jetzt mehr und stärkere Zyklone auf La Réunion als früher und die Gefahr von Waldbränden ist höher. Ein Tropensturm mit voller Wucht oder ein Feuer im nur wenige Quadratkilometer großen Kern-Lebensraum könnte die Art innerhalb kürzester Zeit die Existenz kosten.
Deshalb soll neben einer Ausweitung der Rattenbekämpfung und des Einfangens von Katzen bis 2023 ein Umsiedlungsprojekt eines Teils der Vögel in ein benachbartes Massiv mit früheren Tuit-Tuit-Vorkommen für eine größere geografische Streuung der wenigen Vögel sorgen. Etappenziel des von der Europäischen Union geförderten Life-Projekts in französischen Übersee-Inseln ist es, bis 2023 die Population auf 55 Paare zu vergrößern. Dann wäre die Erfolgs-Geschichte zum Überlebenskampf des kleinen Vogels um ein Kapitel reicher.