UN-Umweltgipfel: Dieser Mann will 200 Staaten dazu bringen, die Natur nicht weiter zu zerstören
Moderator und Antreiber: Der Kanadier Basile van Havre arbeitet seit Jahren als Chefverhandler dafür, dass das wichtigste Umweltabkommen seit dem Pariser Klimapakt zustande kommt. Es soll die Biodiversität retten. Gelingt ihm das? Ein Porträt
Dass es nicht leicht würde zum Schluss war ihm klar. Dass aber nur Tage vor der geplanten Verabschiedung eines neuen globalen Abkommens zum Schutz der Natur fast alle zentralen Eckpunkte ohne Einigung sind, beunruhigte Basile van Havre dann offenbar doch:
„Es wird viel Blut, Schweiß und Tränen geben in den kommenden Tagen“ – mit diesen dramatischen Worten kündigte der Chefverhandler für das Weltnaturabkommen kurz vor Beginn der UN-Biodiversitätskonferenz COP15 in der vergangenen Woche eine härtere Gangart auf den letzten Metern an. Zugleich lockte er: Bei sehr viel gutem Willen winke den Staaten der Erde noch vor Weihnachten ein historisches Abkommen, von dem alle, auch er, „viele Tage, Nächte, Monate und Jahre geträumt“ hätten.
Zuckerbrot und Peitsche: So hat man den ansonsten sehr umgänglichen kanadischen Umweltdiplomaten noch nicht erlebt. Doch für den 58-Jährigen steht viel auf dem Spiel.
Seit vier Jahren bereitet er das wichtigste Umweltabkommen seit dem Pariser Klimavertrag von 2015 vor: In Montreal wird es entweder verabschiedet – oder der Traum von einem „Paris-Abkommen für die Natur“ scheitert fast auf den Tag genau sieben Jahre nach „Paris“ an der Uneinigkeit der Staatengemeinschaft.
Für den Kampf gegen die neben der Klimakatastrophe zweite große Krise der Zeit, das Artensterben und die Zerstörung der Natur, wäre das eine Katastrophe. Für van Havre auch.
Denn wenige haben härter am Zustandekommen eines globalen Naturschutzabkommens gearbeitet als er und sein ugandischer Kollege Francis Ogwal. Als Vorsitzende der Text-Arbeitsgruppe müssen sie die Positionen fast aller Länder der Erde – nur die USA und der Vatikan sind keine Mitglieder der UN-Biodiversitätskonvention – in einen Vertragsentwurf gießen. Über den sollen die Umweltminister der 196 Mitgliedstaaten am Montag kommender Woche abstimmen.
Weil das Einstimmigkeits-Prinzip gilt, hat das südafrikanische Miniland Eswatini mit halb so viel Einwohnern wie Berlin das gleiche Gewicht wie China, das bevölkerungsreichste Land der Erde. Das zwei Quadratkilometer winzige Monaco kann das Abkommen ebenso mit einem Veto zu Fall bringen, wie das fast neun Millionen mal größere Russland. Alle Länder wissen um ihren Einfluss und nutzen ihn, um eigene Interessen einzubringen. Fingerspitzengefühl ist also gefragt auf Seiten der Verhandlungsleiter.
„Natur ist Quelle von Frieden, Stärke und Glück“
Mal Moderator, mal Protokollant und im Endspurt vor allem Antreiber – das sind die vielen Gesichter der Verhandlungsleiter. „Unsere Aufgabe ist es, Lösungen zu schaffen“, beschreibt van Havre seine die Rolle und die seines Kollegen Ogwal. "Wir verbringen sehr viel Zeit in Gesprächen mit den Delegationen, wir sind sehr vorsichtig, uns auf keine bestimmte Seite zu schlagen, aber es ist eindeutig unsere Aufgabe, dass die Delegationen wechselseitig verstehen, was für andere wichtig ist.
Natur spielt für den Chefverhandler für ein Weltnaturabkommen zeitlebens auch persönlich eine zentrale Rolle. Sein Vater war Schriftsteller und schrieb über Jagd, Fischerei und die Natur. Jeden Tag nahm er die Kinder mit nach draußen. „Er fragte uns, was wir sehen und gab sich nicht mit irgendeiner Antwort zufrieden wie ‚einen Vogel‘ – er wollte, dass wir Zusammenhänge erkennen“, erinnert sich van Havre. Vielleicht sind ihm aus deshalb indigene Sichtweisen auf die Welt alles andere als fremd. „Menschen, die in der Natur leben, sehen sich als Teil der Natur, sprechen von Mutter Natur“; sagt er, „ich stimme zu, wir sind Teil der Natur, in allem was wir tun, sie ist Quelle von Frieden, Stärke und Glück.“
Auch beruflich begleitet ihn das Thema Natur von Anfang an. In den letzten 30 Jahren hat der 58-Jährige viele verschiede Top-Positionen in der kanadischen Umweltverwaltung und im internationalen Naturschutz bekleidet.
Zuletzt hat er sich als Generaldirektor für Biodiversität im kanadischen Umweltministerium nicht nur um das Management der Wildtiere in Kanada gekümmert, sondern auch eng mit den indigenen Gruppen des Landes zusammengearbeitet. Das dabei erworbene Vertrauen hilft ihm heute in den Verhandlungen für das Weltnaturabkommen, bei denen die Bewahrung der Rechte indigener Gemeinschaften ein wichtiger Teil ist.
Van Havre war Direktor am Meteorologischen Institut Kanadas, er managte die Populationen von Eisbären in seiner Heimat und er engagierte sich im internationalen Artenschutzübereinkommen CITES für den Schutz der Elefanten in Afrika. Auch das Problem des Überspringens von Viren von Wildtieren auf Menschen gehörte schon zu seinen Aufgaben, lange bevor das Thema mit der Corona-Pandemie seine dramatische Bedeutung offenbarte.
Elefanten, Eisbären Pandemien: Aus allen seinen Arbeitsbereichen schöpft van Havre wertvolles Detailwissen und Erfahrungen für seine jetzige Aufgabe. „Es gibt kein einziges Feld aus meinen bisherigen Tätigkeiten, das sich nicht einmal als vorteilhaft erwiesen hat“, freut er sich. Das wird von seinen Gegenübern offensichtlich geschätzt. „Da spricht nicht ein UN-Bürokrat, sondern jemand aus dem wahren Leben“, sagt ein Mitglied einer Länderdelegation aus dem globalen Süden.
Übernommen hat van Havre den Job 2018 ursprünglich für zwei Jahre. Das Abkommen sollte eigentlich schon 2020 in China besiegelt werden. „Zwei Jahre, keine Woche mehr, das war der Plan“, erinnert er sich belustigt. Doch dann kam Corona. Statt zwischen den Hauptstädten der Erde hin und her zu pendeln und Kompromisse auszuloten, saß auch van Havre wie Millionen andere im Homeoffice.
Die Kommandozentrale liegt im ehemaligen Kinderzimmer
Zur Schaltstelle für ein Abkommen, das eine Menschheitskrise entschärfen soll, wurde das frühere Kinderzimmer seines Sohnes: In der Ecke ein kleiner Ofen, der Blick aus dem Fenster fällt auf Bäume vor dem Haus im Grünen. Wenige Kilometer weiter beginnt die ihm so vertraute kanadische Wildnis. „In 20 Minuten“, sagt van Havre „bist du unter Bären und Wölfen“
Hunderte Stunden Online-Meetings hat er aus seinem Kinderzimmer-Büro geleitet. Morgens nutzte er die Zeitverschiebung für Gespräche mit europäischen oder afrikanischen Ländern, nachmittags zoomte er mit Lateinamerika. Für Absprachen mit China hat er mehr als einmal die zum Ausgleich fest eingeplanten Abendessen mit seiner Frau abgeblasen.
Hut ab, sagt die Leiterin der deutschen Delegation
Erst seit ein paar Monaten sind wieder persönliche Treffen der Unterhändler möglich. Geholfen hat die Corona-Extrazeit indes nicht. Noch zur Eröffnung der Montréal-Konferenz vergangene Woche präsentierte sich der Entwurf für das Abkommen als Dokument des Streits. Hunderte Passagen blieben als Zeichen fehlender Einigkeit eingeklammert.
Die Meinungen über die Mitverantwortung van Havres und Ogwals für die desolate Lage sind geteilt. „Sie machen einen sehr guten und fundierten Job“, lobt die Leiterin der deutschen Verhandlungsdelegation, Inka Gnittke. Sie verweist darauf, dass die lange Zeit der Pandemie und die deshalb online geführten Verhandlungen eine große Herausforderung für Ogwal und van Havre gewesen seien.
Auch, wenn der Text bislang nicht „verhandlungsreif“ sei, habe es doch große Fortschritte gegeben. „Vor einem Jahr sah der Stand des Entwurfs noch ganz anders aus – dass wir jetzt da sind, wo wir sind – bei aller Arbeit, die noch vor uns liegt – ist auch der Verdienst der beiden Co-Chairs – Hut ab“, sagt Gnittke.
„Van Havre versucht wie kein anderer in jede Richtung Netzwerke zu knüpfen, viele Gruppen informiert zu halten, sich Input für die Verhandlungen zu holen und dann auch ernsthaft umzusetzen“, lobt auch ein Vertreter einer führenden Naturschutzorganisation.
Seine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede„ hat viel bewegt
Dagegen geben einige Beobachter der Verhandlungen aus Nichtregierungsorganisationen van Havre und Ogwal durchaus eine Mitschuld an der schwierigen Ausgangslage. Sie sehen es als Kardinalfehler an, dass die Verhandlungsführer erst im vergangenen Sommer einen ersten Vertragsentwurf vorgelegt haben, der dann auch noch einige wenig fundierte Passagen enthalten habe.
Ausgerechnet das, was viele an van Havre schätzen, sehen sie zugleich als seine Schwäche an. “Vielleicht ist er nicht hart genug für den Job", bringt es ein Beobachter auf den Punkt, der die Verhandlungen von Anbeginn verfolgt.
Dieses Urteil ist schon ein paar Tage alt und wahrscheinlich würde es heute anders ausfallen. Denn seit einigen Tagen präsentiert sich ein neuer Basile van Havre in den Verhandlungen. Die Wende leitete seine „Blut, Schweiß und Tränen“-Rede„ ein: Seitdem weht ein neuer Wind in den Verhandlungen. Der zuvor so langmütige Kanadier unterbricht längliche Vorträge, bügelt Einwände ab und droht süffisant mit der Eskalation nach oben, um Widerstände zu brechen: “Ihr Minister wird sich sehr freuen, wenn er sich damit befassen muss."
Die Wende im Verhandlungsstil erklärt van Havre freimütig. Der Vertragsentwurf sei ein „Monster aus Klammern“ gewesen. „Wir mussten etwas ändern.“
Die neue Taktik wirkt. Die Zahl der Klammern hat sich bis zum Beginn der zweiten Verhandlungswoche halbiert. Ob das ausreicht, den Ministern einen beschlussreifen Text vorzulegen, ist offen. Bis zuletzt sind alle zentralen Punkte offen, darunter die Schlüsselfragen, wie viel des Planeten künftig Schutzgebiet wird, wie viel renaturiert werden muss und wie strikt der Schutz ausfällt.
Dass diese politischen Fragen von den Ministern und Ministerinnen entschieden werden müssen, hält van Havre für normal. Nicht aber, dass sie sich mit „technischen“ Nebensachen und semantischen Leckereien herumschlagen müssen wie die Frage ob Schutz nun „effektiv“ oder „effizient“ sein muss oder ob ein Schutzgebietsziel in Flächengröße oder Prozentzahl festgelegt werden soll.
Trotz der vielen offenen Punkte ist van Havre glaubhaft zuversichtlich. „Wir werden ein Abkommen bekommen“, ist er überzeugt, „die Frage wird nur sein, wie stark es wird, welche Worte wir um die Ziele herum finden werden.“
Die Kunst, ein Rad in Schwung zu bringen
Und was wäre für den Verhandlungsleiter und kenntnisreichen Ökologen Basile van Havre ein wirklicher Erfolg? Die Antwort darauf ist heikel. Auch Verhandlungsleiter lassen sich nicht gern in die Karten blicken. „Diese Frage beschäftigt alle. Was ist ein Erfolg und wann ist der Punkt, an dem eine Delegation kein Abkommen unterzeichnet.“
Eine Antwort gibt er dann doch noch erstaunlich ausführlich. „Nur das 30-Prozent-Schutzziel zu verabschieden und die anderen Probleme nicht angemessen anzusprechen, wäre hochproblematisch“, sagt van Havre. „Meiner Meinung nach brauchen wir ein ausgewogenes Abkommen, das alle Triebkräfte des Biodiversitätsverlustes angeht.“
Nötig seien dazu Fortschritte im Kampf gegen die Verschmutzung der Umwelt mit Plastik, Pestiziden und Nährstoffen. Auch der Beitrag der Natur im Kampf gegen den Klimawandel müsse gestärkt werden und schließlich brauche es eine „robuste“ Struktur, um die Ziele umzusetzen und diesen Prozess zu kontrollieren sowie ein „starkes realistisches“ Paket zur Finanzierung.
„Es ist vorstellbar, dass wir nicht alles durchgesetzt bekommen, das die Wissenschaft uns als nötig erklärt, aber wenn wir dieses Rad in Schwung bringen, wird es nicht mehr stillstehen, sondern es wird besser und besser. Wenn wir das als Paket schnüren können, würde ich mit erhobenem Haupt nach Hause gehen“.
Die Recherchen für diesen Beitrag wurden von der Hering-Stiftung Natur und Mensch gefördert. Mit einem Riff-Abo können Sie uns weitere Recherchen ermöglichen.