Der Rückgang der Vögel im Schweizer Kulturland ist besorgniserregend
Der neue Brutvogelatlas der Schweiz birgt viele schlechte Nachrichten. Und ein paar Positive.
Schweizerinnen und Schweizer betrachten ihr Land gerne als einen Sonderfall: direkte Demokratie, vier Landessprachen, seit über 100 Jahren von Kriegen verschont, neutral. Dies alles mag einen besonderen Status der Eidgenossenschaft zu rechtfertigen. Doch in einem Aspekt reiht sich die Schweiz bestens in die europäische Entwicklung ein. Auch in diesem kleinen Land, das mit Bildern scheinbar intakter Landschaften um Touristen wirbt, steht die Natur unter hohem Druck.
Am Montag stellte die Schweizer Regierung ihren neusten Umweltbericht vor. Klipp und klar fasst sie zusammen: „Die Biodiversität in der Schweiz ist in einem unbefriedigenden Zustand und schwindet weiter. Die Qualität und die Flächen von wertvollen Lebensräumen nehmen laufend ab, meist sind zudem nur noch isolierte Restflächen übrig.“ Und weiter: „Heute sind nicht nur knapp die Hälfte der Lebensraumtypen in der Schweiz, sondern auch die Hälfte aller beurteilten einheimischen Arten bedroht oder potenziell gefährdet.“
Hinter der schönen Fassade von Alpenpanorama und saftig-grünen Weiden zeigt sich die Natur in einem besorgniserregenden Zustand.
Der Rückgang der biologischen Vielfalt und seine Ursachen lassen sich am Beispiel der Vögel verdeutlichen. Der neue, von der Schweizerischen Vogelwarte herausgegebene Brutvogelatlas bietet das nötige Material. Die Arten- und Bestandeszahlen lassen sich in der Schweiz nun über die vergangenen Jahrzehnte ziemlich genau verfolgen.
Besonders dramatisch ist die Situation im Kulturland. Seit den 1990er Jahren, als der letzte Brutvogelatlas erschien, sind Raub- und Rotkopfwürger in der Schweiz ausgestorben, Rebhuhn und Ortolan droht demnächst dasselbe Schicksal. Der Gesang der früher für die Landwirtschaftsgebiete so prägenden Feldlerche ist kaum mehr zu hören. Insgesamt sind die Bestände der Vogelarten, die typisch für das Schweizer Kulturland sind, in den vergangenen 20 Jahren um rund die Hälfte eingebrochen.
Der Grund dafür liegt in der Intensivierung der Landwirtschaft, die seit dem Zweiten Weltkrieg im Gange ist. Hecken wurden abgeholzt, Feuchtgebiete entwässert, Hochstamm-Obstgärten verschwanden. Damit das Land rasch und hürdenfrei mechanisch bearbeitet werden kann, wurden Fluren begradigt und Kleinstrukturen wie Steinhaufen und Tümpel beseitigt. Nutztiere erhalten immer mehr Kraftfutter, womit die Menge an Gülle steigt. Hinzu kommt ein massiver Einsatz von Pestiziden. Die Folge: eine biologische Verarmung des Kulturlandes.
Flächen für mehr Biodiversität helfen nur in Einzelfällen
Bereits vor vielen Jahren schlugen Naturschützer Alarm. Und sie wurden gehört. Landwirtschaftliche Reformen wurden eingeleitet, um den Rückgang der biologischen Vielfalt aufzuhalten. So müssen Schweizer Landwirte nun einen sogenannten ökologischen Leistungsnachweis erbringen, damit sie Gelder vom Staat erhalten (insgesamt fliessen 2,7 Milliarden Franken – rund 2,4 Milliarden Euro – Direktzahlungen an die Landwirte). Dazu gehört auch, dass sie „Biodiversitätsförderflächen“ anlegen.
Das Problem: Solche Flächen wurden zwar geschaffen, doch sie tragen nur in Einzelfällen dazu bei, dass sich die Biodiversität auch wirklich verbessert hat. Insgesamt ist die Qualität dieser Flächen zu schlecht. Auf ihnen kann sich keine vielfältige Pflanzen- und Insektenwelt entwickeln, die wiederum für die Vögel lebenswichtig wäre. Ändert sich dies nicht, bleibt die Situation für seltene und gefährdete Vogelarten im Landwirtschaftsgebiet weiterhin prekär.
Hinzu kommt, dass die Kulturlandvögel ein Refugium verlieren: die Berggebiete. Während im Schweizer Unterland die Landwirtschaft schon lange eine starke Intensivierung erfuhr, ist die Bergregion lange Zeit davon verschont geblieben. Doch nun haben zerstörerische Landwirtschaftsformen auch dort Einzug gehalten. Insbesondere die Bestände von Wiesenbrütern wie dem Braunkehlchen sind eingebrochen. Der erste Grassschnitt fällt in den Bergen immer früher im Jahr an, oft erfolgt er während der Brutzeit. Beim Mähen werden die Nester der Wiesenbrüter zerstört, Jung- und brütende Altvögel werden getötet.
Neue Maschinen bereiten den Vogelschützern zudem Kopfzerbrechen. In Mode gekommen sind Steinfräsen. Bauern brechen mit diesen Fräsen Böden auf, die mit Steinen durchsetzt sind. Sind die Unebenheiten erst einmal beseitigt, können die Bauern ihr Land noch besser mit schweren Geräten bearbeiten. Aber gerade strukturreiche, steinige und daher meist extensiv bewirtschaftete Wiesen zeichnen sich durch eine hohe biologische Vielfalt aus. Steinschmätzer, Baumpieper und Heidelerche finden dort geeignete Lebensräume. Mit Steinfräsen platt gemachte Flächen verlieren für sie jede Attraktivität.
Das positive Gegenstück zu den Landwirtschaftsgebieten sind die Wälder. Die Bestände der Waldvogelarten haben sich seit der letzten Erhebung in den 1990er Jahren um 20 Prozent verbessert. Zum einen liegt dies daran, dass die Waldfläche zugenommen hat. Knapp ein Drittel der Schweiz sind mit Wald bedeckt. Gerade in höheren und schwierig zugänglichen Lagen wurden Landwirtschaftsflächen aufgegeben, worauf sich der Wald wieder ausgebreitet hat. Zum anderen spielt der Klimawandel eine Rolle: Die erhöhten Temperaturen drücken die Waldgrenze nach oben, worauf sich auch die Waldvögel weiter in die Höhe ausbreiten.
Die Waldpolitik seit 1991 zeigt Wirkung
Die Entwicklung hat aber auch mit einer neuen Waldpolitik zu tun. Das Waldgesetz von 1991 schreibt eine naturnahe Bewirtschaftung der Wälder vor. Während man früher aus wirtschaftlichen Gründen Fichtenmonokulturen bevorzugte, lässt man nun eine natürliche und standortgerechte Verjüngung des Waldes zu. Der hohe Anteil an Nadelbäumen hat sich damit in den unteren Lagen deutlich verringert, die Wälder sind vielfältiger geworden.
Zudem werden die Wälder viel weniger „aufgeräumt“: Die Masse des Totholzes hat sich in den vergangenen 20 Jahren mehr als verdoppelt. Und spezifische Massnahmen, um die Biodiversität im Wald zu fördern, machen sich ebenso bezahlt. Sogenannte Biotopbäume stehen unter besonderem Schutz. Aufgrund ihres Alter und ihrer Grösse beherbergen Biotopbäume viele Moose, Pilze und Flechten, was wiederum vielen Tier- und Pflanzenarten zugutekommt. Gerade Spechte und Waldbaumläufer schätzen solche Massnahmen. Ihre Bestände sind deutlich gewachsen.
Der Wald lockt in der dichtbesiedelten Schweiz allerdings viele erholungssuchende Menschen an. Vogelarten wie das Auerhuhn, die sehr sensibel auf Störungen reagieren, sind daher trotz Schutzmassnahmen weiterhin stark gefährdet. Wie in vielen Teilen Europas ist auch in der Schweiz der Bestand des Waldlaubsängers stark zurückgegangen. Was genau die Ursachen dafür sind, ist nicht restlos geklärt. In Frage kommen forstliche Tätigkeiten, Eintrag von Stickstoffdünger durch die Luft sowie schlechtere Lebensbedingungen in den afrikanischen Überwintergungsgebieten.
Wie wichtig der Blick auf einzelne Vogelarten ist, verdeutlicht eine weitere Erkenntnis aus dem neuen Brutvogelatlas: Artenförderung funktioniert. Das ist gerade für Vogelschützerinnen und -schützer, die sich lokal engagieren, eine motivierende Nachricht. Artenförderung ist eine Sondermassnahme, die dann zum Zuge kommt, wenn die Verbesserung von Habitaten und die Unterschutzstellung von Gebieten nicht genügt, um eine Art zu bewahren. In der Schweiz stehen 50 Vogelarten auf der Förderliste: vom Alpenschneehuhn über den Kuckuck bis zur Zwergohreule.
Förderprogramme helfen, aber nicht allen Arten
Von Förderprogrammen konnten in den vergangenen Jahren einige Arten profitieren. So erholt sich der Bestand der Kiebitze, seit einzelne Brutplätze vor Fressfeinden und landwirtschaftlichen Eingriffen geschützt werden. Vergleichbares gilt für den Steinkauz. In den letzten 15 Jahren ist der Bestand dank der Erstellung von neuen Nistplätzen und der Verbesserung seines Lebensraumes von 60 auf immerhin 115 bis 150 Reviere angestiegen. Ebenso ist der prächtige Wiedehopf wieder häufiger anzutreffen. Nistkästen und eine umweltfreundlichere Bewirtschaftung der Rebberge, in denen er sich gerne aufhält, erhöhen seinen Bruterfolg.
Trotz der Erfolge bleiben die Bestände dieser Arten weiterhin verletzlich. Die Schutzbemühungen dürfen keinesfalls zurückgefahren werden.
Die Schweizer Vogelwarte bezeichnet die Situation der Vogelwelt als labil. Zwar gibt es unter den Vögeln auch Gewinner wie den Rotmilan oder die Rabenkrähe, die mit der jetzigen Lage bestens zurecht kommen. Doch Arten, die ohnehin selten oder gefährdet sind, geraten noch mehr unter die Räder. Die Vogelwarte geht daher davon aus, dass die Rote Liste, die 2020 aktualisiert wird, um weitere Vogelarten ergänzt werden muss. Bereits jetzt sind 40 Prozent der Brutvögel in der Schweiz in dieser Liste verzeichnet.
Will die Schweiz auch zu einem positiven Sonderfall im Vogelschutz werden, muss sie sich gehörig anstrengen.
Literatur:
Knaus, P., S. Antoniazza, S. Wechsler, J. Guélat, M. Kéry, N. Strebel & T. Sattler (2018): Schweizer Brutvogelatlas 2013–2016. Verbreitung und Bestandsentwicklung der Vögel in der Schweiz und im Fürstentum Liechtenstein. Schweizerische Vogelwarte, Sempach. 650 Seiten. CHF 88.-.
Ab nächstem Jahr ist der Atlas auch online abrufbar: www.vogelwarte.ch/atlas.