Ergebnis von Bürgerforschung: 60 Prozent der Bäche in Deutschland ökologisch in schlechtem Zustand

Über drei Jahre hinweg haben 900 Menschen in Deutschland bei einem Projekt des Helmholtz-Umweltforschungszentrums kleine Fließgewässer untersucht. Sie fanden vielerorts monotone, chemisch belastete und artenarme Bäche vor.

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Junge Menschen stehen in einem Bach und sammeln Proben.

Wie geht es Deutschlands Bächen? Das hat die Biologin Julia von Gönner vom Helmholtz-Umweltforschungszentrum Leipzig (UFZ) in einem Citizen-Science-Projekt namens „Flow“ zwischen 2021 und 2023 an bundesweit 137 Fließgewässern mit 900 Teilnehmerinnen und Teilnehmern erforscht. Wir sprachen mit ihr über die frisch publizierten Ergebnisse.

Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Bevölkerung in die Erforschung von Bächen einzubeziehen?

Über 90 Prozent der Flüsse in Deutschland sind laut Umweltbundesamt in einem schlechten ökologischen Zustand, also zum Beispiel begradigt, stark mit Schadstoffen belastet oder arm an Tier- und Pflanzenarten. Über den genauen Zustand kleinerer Bäche wissen wir dagegen noch viel zu wenig. Deshalb haben wir nach einem effektiven Ansatz gesucht, den Zustand der Bäche zu erforschen und gleichzeitig Menschen für den Gewässerschutz zu begeistern. Die Idee der Citizen Science – also Bürgerforschung – erschien mir dafür am besten geeignet: Viele Menschen fühlen sich angesichts der aktuellen Umweltprobleme frustriert und hilflos. Wenn man den Zustand von Bächen zusammen erforscht, kann man durch Engagement in der Umweltforschung die Erfahrung machen, gemeinsam etwas zu bewirken.

Was mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer tun, was haben sie gemessen?

Die Bürgerforscherinnen und -forscher haben in Gruppen von fünf bis 15 Mitwirkenden gearbeitet. Von 2021 bis 2023 hat jede Gruppe jeweils zwischen April und Juni einen hundert Meter langen Bachabschnitt ein- bis zweimal untersucht. Es ging darum zu erfassen, ob das Gewässer ein gutes Habitat ist oder durch menschliche Eingriffe deutlich verändert wurde, wie es um die Wasserqualität steht und welche wirbellosen Tiere am Gewässergrund vorkommen.

Welche Tiere wurden erfasst?

Die Wissenschaftlerin vor sommerlichem Hintergrund mit Vegetation und einer Fassade.
Julia von Gönner

Wir haben die wirbellosen Tiere am Gewässergrund erfasst, weil sie wichtige Zeigerarten für den Gewässerzustand sind. Dazu zählen unter anderem die Larven von Eintags-, Stein- und Köcherfliegen. Wenn Schadstoffe ins Gewässer eingetragen werden, verschwinden viele empfindliche Arten. Andere sind toleranter und überleben. Viele Insektenlarven leben ein bis mehrere Jahre im Gewässer und spiegeln so den Gewässerzustand über einen längeren Zeitraum wider. Die Zusammensetzung der Arten gibt auch Aufschluss über die Pflanzenschutzmittel-Belastung.

Was ist das wichtigste Ergebnis der Untersuchungen?

Unser Monitoring zeigt, dass die Wirbellosenfauna in rund 60 Prozent der bundesweit rund 100 untersuchten landwirtschaftlich geprägten Bäche durch Pflanzenschutzmittel-Einträge beeinträchtigt und verändert ist. 65 Prozent der untersuchten Bäche wiesen an den Probestellen in landwirtschaftlich geprägten Gebieten keine gute Habitatqualität auf.

Frühere Studien sind teils zu noch schlechteren Ergebnissen gekommen – verbessert sich der Zustand der Fließgewässer in der Agrarlandschaft?

Nein, das lässt sich aus den Ergebnissen nicht ableiten. Im sogenannten Kleingewässermonitoring von UFZ und Umweltbundesamt verfehlten 83 Prozent der Probestellen die Grenzwerte für einen guten ökologischen Zustand, wie ihn die Wasserrahmenrichtlinie der EU vorgibt. Das sind zwar etwa 20 Prozent mehr als in unserer Studie, aber das heißt nicht, dass sich die Lage zwischen diesen Untersuchungen und unserem Projekt verbessert hätte.

Wie erklären Sie sich den Unterschied dann?

Es hängt unserer Einschätzung nach mit den Einzugsgebieten der Probestellen zusammen, die von den Teilnehmenden ausgewählt wurden. Die Gebiete waren weniger intensiv landwirtschaftlich genutzt als beim Kleingewässermonitoring, hatten also weniger Ackeranteil und entsprechend weniger Einsatz von Pflanzenschutzmitteln. Vermutlich haben sich die Teilnehmenden einfach weniger monotone Landschaftsteile ausgesucht. Aber ob nun 60 oder 80 Prozent, die in keinem guten Zustand sind – beide Werte sind zu hoch.

Wie repräsentativ sind die Ergebnisse für die deutsche Landschaft?

Wir haben sowohl Bäche im Tiefland als auch im Mittelgebirge mit einem großen Spektrum an Landnutzungen in den Einzugsgebieten untersucht. Unsere Studie bietet deshalb einen umfassenden Einblick in den ökologischen Zustand von Bächen in Deutschland. Unsere Auswertungen zeigen, dass die Wirbellosenfauna besonders in den landwirtschaftlich geprägten Bächen durch Schadstoffeinträge verarmt ist. Dagegen haben wir in Gebieten mit weniger intensiver Landwirtschaft viel häufiger eine gesunde Wirbellosenfauna gefunden. Mangelnde Habitatqualität – also zum Beispiel Bachläufe, die durch Eingriffe sehr monoton geworden sind – haben wir allerdings quer durch alle Gebiete dokumentiert.

Können Daten, die von Bürgerwissenschaftlern erhoben wurden, überhaupt zuverlässig sein?

Bei den Gewässeruntersuchungen im „Flow“-Projekt ist uns ein standardisiertes Vorgehen nach wissenschaftlichen Protokollen wichtig. Wir haben deshalb begleitend untersucht, ob die Teilnehmenden die Standards einhalten. Dabei konnten wir zeigen, dass Bürgerforschende hochwertige Gewässerdaten erheben können, wenn sie entsprechend geschult werden, gutes Lernmaterial haben und in engem Austausch zu den beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern stehen.

Sie haben mit Menschen aus Naturschutzorganisationen, Anglern und jungen Menschen aus Schulen zusammengearbeitet – wäre es nicht besser, direkt mit Bauern zu kooperieren?

Für ein dauerhaftes Gewässermonitoring und wirkungsvollen Gewässerschutz ist die Zusammenarbeit mit Landwirten sehr wichtig. Daher würden wir uns sehr über eine Zusammenarbeit mit ihnen freuen. Wir haben aber deshalb mit Teilnehmenden aus Umweltgruppen und Angelvereinen angefangen, weil sie sehr motiviert sind, mitzuforschen und ihre Gewässer bereits regelmäßig beobachten. Durch die Zusammenarbeit mit Schulen wollten wir zudem junge Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen erreichen.

Was müsste geschehen, um die Gewässer in einen guten Zustand zu versetzen?

Sehr wichtig ist es natürlich, die Einträge von Schadstoffen und Nährstoffen in die Gewässer zu reduzieren. Das geht, indem man die Mengen an sich verringert, die auf den Acker kommen, aber zum Beispiel auch, indem man naturnahe, bewachsene Gewässerrandstreifen schafft, die als Pufferzonen wirken und die Gewässer abschirmen. Zudem geht es darum, aus monotonen Rinnen wieder vielfältige Gewässer zu machen, die sich etwa durch einen geschwungenen Verlauf, Kiesbänke, flache Ufer und eine vielfältige Ufervegetation auszeichnen. Dadurch entstehen dann wichtige Lebensräume für Tiere und Pflanzen, die am und im Wasser leben.

Junge Menschen an einem Campingtisch bei der Untersuchung von Larven.
Im Projekt wurde genau bestimmt, welche Insektenlarven in Bächen vorkommen.
In freier Landschaft sitzen zwei Männer an einem Tisch und untersuchen Proben aus dem Bach. Julia von Gönner steht zwischen ihnen und schaut zu.
Teilnehmer bei der Feldarbeit, Julia v. Gönner (Mitte)

Für wie wahrscheinlich halten Sie das angesichts der angespannten Stimmung in der Landwirtschaft?

Während der Feldarbeit haben wir sowohl positive, aufgeschlossene Gespräche mit Landwirten erlebt als auch Begegnungen, die von Skepsis und Zurückhaltung geprägt waren. In der nächsten Phase des Projekts wollen wir noch stärker darauf setzen, gemeinsam Ideen für Lösungen zu entwickeln.

Worum soll es gehen?

Nach der Bestandsaufnahme in der ersten Projektphase möchten wir zukünftig anhand von Fallstudien konkrete Gewässerschutzmaßnahmen entwickeln und umsetzen, die von allen relevanten Interessengruppen unterstützt werden. Da möchten wir einen großen Kreis von Menschen einladen, mitzuforschen und mitzuwirken – Landwirte, Flächeneigentümer, Behörden, Umwelt- und Angelverbände und auch individuell interessierte Bürgerinnen und Bürger.

Können Bürgerinnen und Bürger auch praktisch mitwirken, Bäche wieder zu renaturieren?

Ja, es gibt viele niedrigschwellige Maßnahmen zur naturnahen Gewässerentwicklung, wie zum Beispiel Uferbepflanzungen oder das Einbringen von Totholz, Kies oder Strömungslenkern. Viele Umwelt- und Angelverbände haben damit bereits gute Erfahrungen gemacht. Wir können im Gewässerschutz praktisch sehr viel bewegen.

Monitoring-Projekte enden oft nach wenigen Jahren, was nicht sehr nachhaltig ist. Gibt es Überlegungen, das Bürger-Monitoring auszuweiten und zu verstetigen?

Wir möchten das „Flow“-Projekt und die Bürgerforschung an Gewässern dauerhaft etablieren und damit einen Beitrag zur Nationalen Wasserstrategie leisten. Das Interesse ist auf jeden Fall da. Für die Feldsaison 2024 haben wir keine gezielte Werbung gemacht, und schon jetzt haben sich wieder etwa 70 Gruppen bundesweit angemeldet.

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