Kolumne: Von Meeresforschung bis Mückenjagd – wie jeder Natur und Klima schützen kann

Ob vom Sofa aus oder draußen in der Natur – Citizen Science macht uns alle zu Forschenden. Vom Wildtier-Monitoring in Bolivien bis zur Meeresforschung: Wie Bürgerwissenschaft hilft, Natur und Klima zu schützen. Eine Kolumne.

vom Recherche-Kollektiv Klima & Wandel:
5 Minuten
Mit einer Lupe kontrolliert eine Frau mit braunen Haaren und Brille eine Blume auf einer Wiese auf der Suche nach Insekten.

Die Klima- und Umwelt-Kolumne erscheint alle zwei Wochen - kritisch, nahbar, lösungsorientiert!

Es ist Dämmerung im bolivianischen Trockenwald. Eine Art Wildschwein – oder wie man in Berlin sagt: Löwe – starrt in die Kamera. Ich zoome das Bild näher ran, und erkenne einen weißen Streifen, der sich wie ein Band um das Tier zieht. Ich blättere durch das pdf-Tutorial vom Senckenberg-Institut. Aha! Das muss ein Collared Peccary sein. Auf den ersten Blick sieht es aus wie ein Wildschwein, doch es gehört zur Familie der Nabelschweine, die nur in Nord-, Mittel- und Südamerika vorkommen. Ich trage den Namen ein. Nächstes Foto.

Und so klicke ich mich nun schon seit gut zwei Wochen durch Hunderte Bilder und kennzeichne Tiere – alles Aufnahmen von Wildkameras aus dem Trockenwald. Angefangen habe ich damit, als der Bundestagswahlkampf in seine letzten Züge ging. Ich brauchte eine Ablenkung von den ganzen Talkshows, Wahlanalysen und -prognosen. Nun sichte ich Vögel, Pekaris, Tapire, Ameisenbären, Gürteltiere und Nagetiere. Alles vom Sofa aus. Und ich muss sagen: Es macht richtig Spaß.

Citizen-Science-Projekt WildLIVE!

Ich bin damit Teil des Citizen-Science-Projekts WildLIVE! vom Senckenberg-Institut. Bei Citizen-Science-Projekten helfen Bürger:innen der Wissenschaft – egal, ob auf der Couch oder als Spaziergänger:in mit Fernglas. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Citizen-Science-Projekte in Deutschland deutlich gestiegen.

Die vielen Wildkameras des WildLIVE!-Projekts sind unsere Augen im Trockenwald in Bolivien. Sie fangen das Leben ein, das zwischen den Bäumen huscht, und wir, die Freiwilligen, helfen, diese Momentaufnahmen zu entschlüsseln. Welche Arten sind noch da? Wie verändert sich ihre Anzahl? Und wie kann eine künstliche Intelligenz lernen, solche Bilder selbst zu interpretieren? Unsere Klicks und Markierungen sind mehr als ein nettes Hobby – sie schließen eine Lücke, die die schiere Flut an Bildern aufreißt.

Training einer Künstlichen Intelligenz

Allein das WildLIVE!-Projekt umfasst mehrere Biomonitoring-Programme weltweit. Sie untersuchen die Auswirkungen ökologischer, wirtschaftlicher und sozialer Veränderungen auf Säugetiere. Die Kamerafallen liefern so viele Bilder, dass die Auswertung unmöglich allein durch Fachleute bewältigt werden kann. Also sind wir da. Über 1100 Menschen haben sich bereits registriert, mehr als 1.161.400 Labels wurden vergeben. Der Jaguar wurde über 40.000-mal markiert, Pekaris 240.600-mal.

Für die Wissenschaftler:innen entsteht dadurch ein wertvoller Datensatz. Mit den gesichteten Bildern trainieren sie eine Künstliche Intelligenz, die in Zukunft selbst erkennen soll, was sich durchs Unterholz bewegt. Durch Landnutzungswandel, Entwaldungen, Habitatzerstörung, aber auch aufgrund des Klimawandels, ist ein kontinuierliches Biomonitoring an ausgewählten Standorten wichtiger denn je geworden.

Die Forschung im bolivianischen Wald verändert auch das Leben der Menschen vor Ort. Gemeinsam mit indigenen Gemeinschaften und lokalen Landbesitzern entstehen Datensätze, die etwas bewirken können: Sie fließen in politische Entscheidungen ein, sie zeigen, was noch geschützt werden kann, sie helfen, den Wald zu bewahren.

Projekte von Meeresforschung zu Mückenatlas

Es ist mein erstes richtiges Citizen-Science-Projekt. Und es gibt noch viele mehr. Manche kann man, wie das WildLIFE!-Projekt bequem vom Sofa aus machen. Zum Beispiel Into the Deep, da wird man selbst zur Meeresbiologin, ohne nasse Füße zu bekommen. Auch hier klickt man sich durch Fotos und kennzeichnet die Tiere. Nach einem kurzen Tutorial über die verschiedenen Lebensräume der Ozeane geht’s los: Hummer in der Ägäis entdecken, Krabben im Pazifik aufspüren oder Fische im Mittelmeer bestimmen. Das Meer rückt näher, Klick für Klick.

Aber Citizen Science findet nicht nur vor dem Bildschirm statt – manche Projekte schicken einen direkt raus in die Natur. Zum Beispiel Die Mikrobielle Schatzkiste vom Helmholtz-Institut für Pharmazeutische Forschung Saarland (HIPS). Ziel des Projekts ist es, gemeinsam mit Bürger:innen die mikrobielle Vielfalt im Boden zu erforschen und potenziell neue Bodenbakterien zu entdecken, die zur Entwicklung neuartiger Medikamente beitragen könnten. Wer mitmachen will, kann ein Probensammel-Kit anfordern, Bodenproben nehmen und sie zur Analyse einsenden. Vielleicht entdeckt jemand ja das nächste bahnbrechende Antibiotikum?

Oder man wird zur Mückenjäger:in. Der Mückenatlas des Leibniz-Zentrums für Agrarlandschaftsforschung (ZALF) und des Friedrich-Loeffler-Instituts (FLI) sucht nach Menschen, die gefangene Mücken einsenden. Die rund 50 in Deutschland heimischen Stechmückenarten werden so besser erfasst, und invasive Arten wie die Asiatische Tigermücke lassen sich frühzeitig identifizieren.

Bedeutung von Citizen Science für Klima- und Naturschutz

Selbst bei einem kurzen Spaziergang kann man zur Bürgerwissenschaftler:in werden. Einfach das Smartphone zücken, eine Pflanze fotografieren und mit der App Flora Incognita bestimmen. Der Fund wird dann in eine riesige Datenbank eingespeist.

Citizen Science ist mehr als ein Hobby. Studien belegen die immense Bedeutung von Citizen Science für den Klima- und Naturschutz. Die Einbindung von Bürger:innen soll unter anderem die Datenqualität verbessern. Eine weitere Studie zeigt, dass Citizen-Science-Daten oft mit professionellen Erhebungen vergleichbar sind. Außerdem hat Citizen Science das Potenzial, politische Entscheidungen zu beeinflussen, indem großflächig gesammelte Daten in Umwelt- und Naturschutzstrategien einfließen. Eine aktuelle Studie aus dem The European Physical Journal Plus analysiert die Integration von Citizen Science in EU-finanzierte Projekte. Die Autor:innen schreiben, dass die Einbindung von Bürgerwissenschaftler:innen nicht nur die wissenschaftliche und gesellschaftliche Wirkung erhöht, sondern auch die direkte Beteiligung der Öffentlichkeit an Forschungsprozessen fördert.

Langfristiges Engagement im Naturschutz

Doch Citizen Science bringt nicht nur der Wissenschaft etwas. Weitere Studien zeigen, dass Teilnehmende dadurch ein tieferes Verständnis für ökologische Zusammenhänge entwickeln. Das gemeinsame Arbeiten an solchen Projekten kann auch zu langfristigem Engagement im Naturschutz führen.

Mein Biowissenschaftsstudium und das Fach Zoologie liegen schon über zehn Jahre zurück. Doch je mehr Bilder ich sehe, desto leichter fällt mir die Bestimmung der Arten. Ich klicke weiter und lerne, dass die Pekaris zur Ordnung der Paarhufer Artiodactyla gehören und das Tapeti – das Brasilianische Baumwollschwanzkaninchen – zur Ordnung der Lagomorpha. Und dann entdecke ich auf einem Foto plötzlich einen Jaguar. Seine Fellzeichnung ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck. Wissenschaftler:innen nutzen diese Muster, um zu zählen, wie viele es noch gibt. Denn viele Jaguare bedeuten ein gesundes Ökosystem – und umgekehrt. Ich markiere ihn und klicke weiter.

Ich habe schon ein neues Citizen-Science-Projekt im Blick, die CoastSnap-App. Weltweit dokumentieren Menschen anhand von Fotos, wie Stürme, Erosion und der Klimawandel die Strände formen. Die Daten helfen Wissenschaftler:innen, Schutzmaßnahmen für bedrohte Küsten zu entwickeln. Also: Fotografieren für den Klimaschutz.

Neugierig auf mehr? Entdecken Sie die weiteren Ausgaben der konstruktiven Klima- und Umwelt-Kolumne!

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