Die Klimakrise stellt die Demokratie auf eine harte Probe
Zwei neue Bücher analysieren, wie das politische System die existenzielle Herausforderung der Klimakrise meistern muss, um seine Legitimation nicht zu verlieren
Noch vor wenigen Jahren hätten die Nachrichten von heute gewirkt wie Sciencefiction. Rekordhitze, Meerwasser mit der Temperatur einer heißen Badewanne, Waldbrände und Überschwemmungen epischen Ausmaßes. Mittendrin Klimaforscher, die vorrechnen, dass viele der Extremereignisse ohne Zutun des Menschen faktisch unmöglich wären.
Das ist allerdings erst ein bitterer Vorgeschmack auf das seit langem Prognostizierte. UN-Generalsekretär António Guterres warnt vor einer „Ära globalen Kochens“, denn Treibhausgase sammeln sich in der Atmosphäre an und bleiben dort für Jahrhunderte und Jahrtausende. Die Welt ist laut UN selbst dann, wenn alle klimapolitischen Versprechen eingelöst werden, auf Kurs zu einer Erwärmung von 2, 8 Grad Celsius. Auf dem Höhepunkt der letzten Eiszeit, als sich auch in unseren Breiten die Gletscher türmten, war es im Schnitt auch nur 5 bis 6 Grad kälter. Heißzeit statt Eiszeit: Ein ansonsten nüchtern-sachlicher Klimageologe wie Gerald Haug, Präsident der Nationalakademie Leopoldina, sagt, die Erde könnte in der zweiten Lebenshälfte heutiger Neugeborener bereits „bis zur Unkenntlichkeit entstellt“ sein.
Das Bundesverfassungsgericht hat im April 2021 in seinem „Klimabeschluss“ darauf hingewiesen, wie neuartig diese Situation ist. Von der Notwendigkeit einer „intertemporalen Freiheitssicherung“ sprach das oberste Gericht. Die Freiheit sieht das Gericht doppelt bedroht: Wenn es nicht gelingt, die Erderwärmung wenigstens in Zaum zu halten, wird das Erwachsenenalter der jungen Menschen von heute durch Extremereignisse geprägt sein. Der Staat müsse mit den natürlichen Lebensgrundlagen aber so sorgsam umgehen, „dass nachfolgende Generationen diese nicht nur um den Preis radikaler eigener Enthaltsamkeit weiter bewahren könnten“.
Das Bundesverfassungsgericht fordert „Freiheitssicherung“
Deshalb dürfen dem Bundesverfassungsgericht zufolge die notwendigen Maßnahmen für Klimaneutralität nicht auf die Zukunft verschoben werden. Denn auch im Restbudget an Kohlendioxid, das noch ausgestoßen werden kann, ortet das Verfassungsgericht Freiheit. Es muss demnach auch in den 2030er und frühen 2040er Jahren noch möglich sein, Emissionen zu erzeugen, ohne das Budget zu überziehen. Das macht sofortiges, tiefgreifendes Handeln nötig – und das auch noch unter erschwerten Bedingungen, seit dasselbe Bundesverfassungsgericht wegen Fehlern der Ampelkoalition 60 Milliarden Euro aus dem Klima- und Transformationsfonds gestrichen hat. Nun setzt ein brutaler Verteilungskampf ein. Die Union, die in Karlsruhe geklagt hat, fordert, mit dem Heizungsgesetz das Kernstück der Klimapolitik zu streichen. Die FDP will bei allem ansetzen, was „grün“ riecht oder die finanzielle Lage etwa von Kindern verbessert, aber nicht beim Dienstwagenprivileg und weiteren 60 Milliarden Euro an umweltfeindlichen Subventionen, die das Umweltbundesamt fein säuberlich aufgelistet hat. Eigentlich müsste man meinen, dass der Klimabeschluss und das Haushaltsurteil aus Karlsruhe zusammengenommen zu gar nichts anderem führen können als einer radikalen Streichung umweltfeindlicher Subventionen. Doch danach sieht es nicht aus. Eher gilt ein Zerwürfnis der Koalition als möglich.
Wie soll die Demokratie als ein auf Vier-Jahres-Zyklen und individuelle Entscheidungsfreiheit ausgelegtes politisches System damit umgehen, dass die banalsten Alltagshandlungen der Bürgerinnen und Bürger eine unheimliche, ja gewalttätige Macht über die künftigen Lebensbedingungen ausüben? Wie soll sie den Handlungszwang handhaben, über dreißig Jahre hinweg den definierten Endpunkt der Klimaneutralität zu erreichen, um den ökologischen Bankrott abzuwenden? Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte „intertemporale Freiheitssicherung“ zwischen Generationen gibt es zwar in anderer Form, zum Beispiel in der Rentenpolitik. Sie aber gegen die Macht der Gewohnheiten in alle Lebensbereiche einzuwirken, das gab es noch nicht.
Zwei im ersten Halbjahr erschienene Bücher gehen die Frage, was die Klimakrise für die Demokratie bedeutet, auf sehr unterschiedliche Weise an. Der Philosoph und Politikwissenschaftler Felix Heidenreich vom Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart arbeitet in „Nachhaltigkeit und Demokratie“ die wesentlichen Unterschiede zwischen einer hauptsächlich auf individuellen Bedürfnisbefriedigung abzielenden und einer vorausschauend regulierenden Demokratie heraus. Der Politikjournalist Jonas Schaible unternimmt in „Demokratie im Feuer“ den Versuch, eine Argumentationsgrundlage für einen konsequenten Klimaschutz zu liefern.
Heidenreich tritt der Auffassung entgegen, dass Klimaschutz und Nachhaltigkeit „sozusagen auf der Hinterbühne der Gesellschaft“ durchgesetzt werden könnten, „ohne für die Bürgerinnen und Bürger wahrnehmbar zu sein“. Ohne eine „Kultur der Nachhaltigkeit“ würden „alle Effizienzgewinne durch steigenden Konsum zunichtegemacht“, warnt er.
Demokratie als Drive-in
Mit Rückgriffen auf Jonas, Luhmann, Foucault und Hobbes konturiert Heidenreich gesellschaftliche Widerstände gegen klimapolitische Strategien als „expressiven Individualismus“, der traditionell eine zentrale Rolle dabei spielte, staatliches Handeln zu legitimieren. Die Bürger bringen ihre unmittelbaren Bedürfnisse und Präferenzen ein, der Staat erfüllt sie, so gut er kann. Als Archetyp dieses Politikmodells präsentiert der Autor „Minneapolis 1956“, wo die erste moderne shopping mall entstand, samt Parkplatz, weitverzweigter Infrastruktur und einer auf Autofahrer zugeschnittenen „Freiheit“. Demokratie als Drive-in funktionierte eine Weile sehr gut, von den „goldenen Jahren“ ist die Rede.
Dem stellt Heidenreich „Kopenhagen 2025“ entgegen, das Jahr, in dem die dänische Hauptstadt klimaneutral sein will. Beschlossen wurde das schon 2011, und seitdem wird die Stadtentwicklung darauf ausgerichtet, von neuen Grünflächen über erneuerbare Energie bis zu Radwegen. Das erfordert neue Regeln, Investitionen und „Ökoroutinen“, wie Heidenreich es nennt, alles Merkmale des von ihm zum Leitbild aufgebauten „Republikanismus der Nachhaltigkeit“. „Freiheit wird in ‚Kopenhagen 2025‘ folglich nicht mehr dasselbe bedeuten können wie in ‚Minneapolis 1956‘“, schreibt er und legt dar, dass auch gemeinsam beschlossene Regeln und Verbote ein Ausdruck von Freiheit sein können – nämlich dazu, sich im Interesse des Wohlstands der Nachkommen zu beschränken.
Im zweiten Teil des Buchs geht Heidenreich Ansätze durch, wie ein „Republikanismus der Nachhaltigkeit“ funktionieren könnte, klopft die Rolle der Gerichte, der Verbraucher, der Expertengremien ab und auch von Bürgerräten, also jener „Konsultative“, auf die sich als mögliche Ergänzung zum kurzatmigen Handeln von Exekutive und Legislative gerade viele Hoffnungen richten. Doch spätestens als der Autor anfängt, in seiner sehr akademischen Sprache die Chancen und Risiken der Digitalisierung auszuloten, obwohl es nur noch wenige Seiten bis zum hinteren Buchdeckel sind, wird dem Leser klar: ins Getümmel der Stimmungen und Meinungen, in den Wettkampf der Parteien und die Kärrnerarbeit von Parlaments- und Regierungshandeln begibt sich Heidenreich nicht. Hier liegt die große Schwäche dieses Buchs, das sich in dem Appell erschöpft, „skalierbare Praktiken sichtbar und konzeptionell greifbar zu machen.“
Gebrochenes Fortschrittsversprechen
Bei vielen anderen Themen wäre so eine Auslassungnicht weiter schlimm, aber bei der Klimakrise steht zu viel auf dem Spiel: Die westlichen Demokratien haben bis 2045 genau einen Versuch frei, die Klimakrise zu lösen. Das wird sicher nicht gelingen, wenn, wie Bundeskanzler Olaf Scholz es als Parole ausgegeben hat, „jede einzelne gesetzliche Regelung in einer Volksabstimmung eine Mehrheit“ bekommen müsste.In das erwartbare Heulen und Zähneknirschen wird sich im Fall des Scheiterns die Frage mischen, wie es passieren konnte, jene lebensfreundliche Erde, die unsere Zivilisation ermöglicht hat, zu opfern. Und für den Fall, dass China – das heute die Hälfte der weltweiten Kapazität an Erneuerbaren Energien aufgebaut hat – effektiveres Handeln vorweisen kann als der Westen, wird sich die „Systemfrage“ auf fürchterliche Weise stellen oder im schlimmsten Fall sogar beantworten.
Wie groß und heftig die Spannungen sind, die sich für die Demokratie aus dieser Lage ergeben, machen gegenläufige Entwicklungen der vergangenen Monate sichtbar: Da greifen auf der einen Seite meist junge Menschen zu immer radikaleren Mitteln und blockieren mit ihren Körpern Auto- und Flugverkehr. Sie werden dafür von einigen sogarals „Klimaterroristen“ gebrandmarkt, obwohl ihre Forderungen alles andere als revolutionär sind: Der Staat, fordern „Letzte Generation“ und „Fridays for Future“, soll seine Gesetze wirkungsvoll umsetzen, um seinen völkerrechtlich zugesagten Beitrag zum Schutz der Klimaverhältnisse zu leisten. Auf der Einhaltung bestehender Gesetze zu pochen, ist wohl kaum revolutionär – eher kann man es als konservativ deuten.
Auf der anderen Seite stehen jene, die sich in einen Radikalismus der Routinen hineinsteigern. Weiter mit Erdöl zu heizen, Fleisch aus der Massentierhaltung zu essen, alle Wege mit dem fossil betriebenen Auto zu erledigen – das wird dargestellt, als sei es grundgesetzlich verbrieft und die Essenz von Freiheit. Neue Regeln, gar Verbote, werden mit einem Furor bekämpft, als ginge es ums Überleben.
Die Routinenradikalen geben sich zwar konservativ, sind aber die wahren Umstürzler: Wenn die Politik rund um den Globus diesen Forderungen folgt, tritt die Prognose des Nationalakademie-Vorsitzenden ein, dass nichts bleiben wird, wie es war. Abweichend vom früheren Fortschrittsversprechen, demzufolge es „den Kindern mal besser gehen soll“, werden auf unabsehbare Zeit die Lebensbedingungen verschlechtert, Wassermangel, Hunger, Massenmigration und Krieg heraufbeschworen. Für seine Gewohnheiten die Zukunft zu opfern – radikaler geht es kaum.
Man kann Freiheit auch aufbrauchen
An diesem Punkt setzt Jonas Schaible mit „Demokratie unter Feuer“ an. Das Buch liest sich flüssig, ist garniert mit griffigen Formulierungen wie der, in Ostdeutschland würden aus blühenden nun „glühende Landschaften“. Oberflächlich wird es dadurch nicht. Schaible legt dar, wie alle so geliebten Routinen fossil betriebenen Lebens für das Holozän geschaffen wurden, die Erdepoche, in der den Menschen die Schätze der Natur zu Füßen lagen. Inzwischen ist aber das Anthropozän angebrochen, in dem uns die negativen Folgen der Verschwendung auf die Füße fallen. Der Autor schafft auch klare Prämissen: Die Klimakrise, schreibt Schaible, sei nur noch für kurze Zeit veränderbar, ihre Folgen seien unumkehrbar. „Was jetzt nicht getan wird, um sie zu bremsen, muss nächstes Jahr zusätzlich getan werden und kann in einigen Jahren nicht mehr erreicht werden.“ Dadurch werde Freiheit zu etwas, das man „nicht mehr nur ausleben, sondern auch aufbrauchen“ kann.
Mit diesem Schlüsselsatz bereitet Schaible seine doppelte Botschaft vor: Die Klimakrise sei nur demokratisch zu lösen, aber wenn das nicht gelinge, werde die Demokratie wahrscheinlich unter der Last der Folgen zusammenbrechen. „Wenn die nächsten Jahre und Jahrzehnte fehlschlagen, geht es an die Substanz der Demokratie und unserer Freiheit.“ Doch genau hier setzt der paradoxe Effekt dieser Tage ein: Die Zumutungen einer sich verändernden Welt führen zu dem Impuls, die bisherige Normalität zu verteidigen und alles, was sie infrage stellt, notfalls grell und scharf abzulehnen. Und daraus lässt sich, wie Populisten demonstrieren, hervorragend politisch Kapital schlagen, indem sachliche Fragen in Identitätsfragen umgemünzt werden. Die „Kulturalisierung des Konflikts“, warnt Schaible, mache Veränderung zum Angriff auf das Selbst und Ökologie zur „herablassenden Demütigung“. Dadurch würden echte Lösungen „nahezu unmöglich“. Mehr noch, Populismus und Autoritarismus bekämen Zulauf, weil sie sich von Kränkung und Konflikt ernähren.
Großer Unterschied zur Ökodiktatur
Mit dieser Diagnose ist Schaible auf der Höhe der Zeit – und jetzt? Die Lösungen, die der Autor sichtet, sind deutlich grundlegender als in „Nachhaltigkeit und Demokratie“. Er definiert den Begriff der „wehrhaften Demokratie“ neu: Sie müsste es schaffen, langfristige Interessen gegen kurzfristige Bedürfnisse durchzusetzen. Praktisch könnte das heißen, analog der Schuldenbremse eine „CO₂-Bremse“ im Grundgesetz zu verankern, eine Kohlenstoff-Zentralbank einzurichten, Minderjährigen bei Wahlen Stimmen zu geben oder das Klimaministerium wie das Finanzministerium mit einem Vetorecht auszustatten. Der Autor entwickelt gut handhabbare Kriterien, wie man eine angeblich drohende „Ökodiktatur“ von einer funktionierenden Demokratie unterscheiden kann.
Aus beiden Büchern wird eines klar: Die echte Gefahr einer „Ökodiktatur“ droht, wenn der Klimaschutz in den nächsten Jahren versagt und eine Herrschaft von ins Negative gekippten ökologischen Verhältnissen über den Alltag der Menschen einsetzt. Die Mission der Aufklärung, die Menschheit vom Diktat der Natur zu befreien, würde in ihr Gegenteil umschlagen. Ob vielleicht ein epochales Missverständnis dieser Mission das Grundproblem aller „Umweltkrisen“ darstellt, lassen allerdings beide Bücher unberührt.