Für immer verschwunden: Dünnschnabel-Brachvogel als erster europäischer Landvogel ausgestorben

Der Dünnschnabel-Brachvogel ist die 165. Vogelart, die aufgrund menschlichen Einflusses von der Erde verschwunden ist. Für Europa ist sein Aussterben eine traurige Premiere. Zum ersten Mal verschwindet eine auf dem europäischen Festland lebende Vogelart für immer. Die Zerstörung von Feuchtgebieten und die Jagd machten ihr Überleben unmöglich. Dies sind Ursachen, die auch viele andere Arten bedrohen.

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Slender-billed Curlew

Am Ende halfen weder Suchexpeditionen noch Aufrufe an Vogelbeobachter: Nachdem es trotz jahrzehntelanger Bemühungen nicht gelungen ist, ein lebendes Exemplar der Art zu finden, haben Wissenschaftler den Dünnschnabel-Brachvogel – einen einst in Feuchtgebieten von Zentralasien bis zum Mittelmeer anzutreffenden Watvogel – für ausgestorben erklärt. Das Artensterben hat damit ein weiteres Opfer. Der Dünnschnabel-Brachvogel geht als 165. Vogelart in die Geschichte ein, die durch menschlichen Einfluss für immer vom Angesicht der Erde verschwunden ist. In Europa ist es das dritte Mal, dass ein Vogel für ausgestorben erklärt wird.

Wissenschaftlicher Totenschein per statistischer Modellierung

Ein Team aus Spezialisten verschiedener Vogelschutzorganisationen und des britischen Naturkundemuseums kommt in einer gerade im Fachjournal Ibis veröffentlichten Studie zu dem Ergebnis, dass die Vogelart mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nicht mehr existiert.

Um die Aussterbewahrscheinlichkeit zu berechnen, fütterten die Expertinnen und Experten ein statistisches Modell mit allen verfügbaren Informationen über die Vögel, darunter alle bisherigen Sichtungen, den für die Suche nach ihnen unternommenen Anstrengungen und die potenziellen Bedrohungen für die Art. Die Modellierung ergab, dass es mit einer Wahrscheinlichkeit von 96 Prozent kein lebendes Exemplar des Dünnschnabel-Brachvogels mehr gibt. Nach den Richtlinien der für die Aufstellung der Roten Listen zuständigen Internationalen Naturschutzunion IUCN gilt der Dünnschnabel-Brachvogel damit als ausgestorben.

Zwei größere Vögel mit gebogenen Schnäbeln nebeneinander in einer Wiese.
Große Brachvögel – hier bei der Balz in einem Moor in Niedersachsen – sind in Deutschland noch heimisch.

Sichtung in Marokko entfachte Hoffnung

Der Ausstellung dieses wissenschaftlichen Totenscheins vorangegangen waren jahrelange Versuche, doch noch überlebende Dünnschnabel-Brachvögel aufzuspüren.

Das letzte Mal sicher gesehen wurde ein einzelnes Exemplar 1995 im marokkanischen Feuchtgebiet Merja Zerga an der Atlantikküste. Die Sichtung in einem traditionellen Überwinterungsgebiet brachte neuen Schwung in die Suche nach weiteren Vögeln. In den Folgejahren unternahmen Wissenschaftler mehrere wochenlange Expeditionen in die entlegensten Teile der sibirischen Tundra, um mögliche Brutgebiete aufzuspüren.

Hobby-Ornithologen wurden aufgerufen, ihren Urlaub entlang der Zugroute am Mittelmeer und in den nordafrikanischen Überwinterungsgebieten zu verbringen und nach den Vögeln Ausschau zu halten. Um den Abschuss der letzten Angehörigen der Art durch Jäger im Mittelmeer-Raum zu verhindern, druckten und verteilten Vogelschützer hunderte Poster an Jäger, auf denen die Merkmale dargestellt wurden, anhand derer Dünnschnabel-Brachvögel von ähnlichen Watvögeln wie den Großen Brachvogel oder den Regenbrachvogel unterschieden werden können.

Auch der Autor dieses Artikels stand als Teil des Fotografenteams auf Abruf bereit, um das Überleben des seltenen Vogels zweifelsfrei zu dokumentieren. Doch der ersehnte Anruf zum Aufbruch erreichte ihn ebenso wenig wie die Experten für Vogelfang, Identifizierung und Besenderung.

Zwei Präparate des Dünnschnabel-Brachvogels liegen vor reinweißem Hintergrund
Nur noch Präparate zeugen davon, dass der Dünnschnabel-Brachvogel einmal existiert hat.

Expertenteams standen rund um die Uhr bereit

Am Sitz des britischen Vogelschutzverbandes RSPB wurde eigens eine Koordinierungsstelle eingerichtet, bei der alle Fäden zusammenliefen: Wurde irgendwo zwischen Sibirien, Sizilien und der marokkanischen Küste ein Vogel gemeldet, bei dem es sich um einen Dünnschnabel-Brachvogel handeln könnte, machten sich Expertinnen und Experten sofort daran, Fotos zu sichten und lokale Kollegen zu alarmieren.

Für den Fall, dass sich ein Verdacht erhärten sollte, stand ein europaweites Team aus Fachleuten bereit, um den Vogel zu fotografieren, zu fangen und mit einem Sender auszustatten. So erhofften sich die Brachvogel-Schützer von den Vögeln selbst auf die Spur bisher nicht entdeckter Populationen geführt zu werden, die dann mit gezielten Schutzmaßnahmen zur Keimzelle für eine überlebensfähige Population aufgebaut werden sollten. Auch der Autor dieses Artikels stand als Teil des Fotografenteams auf Abruf bereit, um das Überleben des seltenen Vogels zweifelsfrei zu dokumentieren. Doch der ersehnte Anruf zum Aufbruch erreichte ihn ebenso wenig wie die Experten für Vogelfang, Identifizierung und Besenderung.

Hoffnungsschimmer durch Hightech

Dass diese Methode funktionieren kann, hat ein anderes Artenschutzprogramm bereits bewiesen. Auch dem in einem ähnlichen Lebensraum wie der Dünnschnabel-Brachvogel heimischen Steppenkiebitz hatten Experten so gut wie keine Überlebenschancen gegeben.

Dennoch wurde ein einzelner Vogel in der kasachischen Steppe aufgespürt und mit einem Sender versehen. Als er mehr als ein Jahr später in der Türkei geortet wurde, wartete die Sensation auf die Kontrolleure: Er stand inmitten einer Gruppe von 3200 Artgenossen – mehr als das Zehnfache des damals angenommenen Weltbestandes. Angefeuert von solchen Erfolgsgeschichten galt vor einigen Jahren eine der letzten großen Suchaktionen nach dem Dünnschnabel-Brachvogel den Feuchtgebieten auf dem Zugweg und im tradidtionellen Überwinterungsgebiet der Art. Monatelang waren verschiedene Teams unterwegs, um nach Numenius tenuirostris, so der wissenschaftliche Name des Dünnschnabel-Brachvogels, zu suchen: Somaliland, Oman, Ägypten, Dschibuti, Iran: In 35 Ländern waren Freiwillige unterwegs.

Suche an Touristenstränden und in Hungerzonen

An den Küsten Griechenlands, Italiens, aber auch in abgelegenen Sümpfen des Nahen Ostens schwärmten die Freiwilligen aus. Gesucht wurde in allen Winterquartieren des über lange Strecken ziehenden Vogels - von Marokko bis zum Iran, von den Touristenstränden Italiens bis in die Hungergebiete des Sudans, vom Mittelmeer bis zum Kaspischen und dem Roten Meer. Gleichgesinnte fanden sich in so unterschiedlichen Ländern wie Syrien und Israel, auch im Irak gab es ein Team. Mit Fernglas und Fernrohr musterten Experten Hunderttausende Zugvögel, nie war ein Dünnschnabel-Brachvogel darunter.

Nun scheint klar, warum. In ihrer Analyse kommen die Forscher zu dem Ergebnis, dass der 1995 in Marokko gesichtete Dünnschnabel-Brachvogel wahrscheinlich einer der allerletzten Angehörigen seiner Art war. Das statistische Modell weist das Jahr dieser Sichtung als wahrscheinliches Aussterbejahr für die gesamte Art aus.

Ein Steppenkiebitz in Nahaufnahme auf einem Feld.
Megararität: Der Steppenkiebitz ist eine der seltensten europäischen Vogelarten. Sein Überleben als Art steht auf der Kippe.

Ein Opfer der Zerstörung von Feuchtgebieten

Dass es mit dem Dünnschnabel-Brachvogel eine Vogelart getroffen hat, die für ihr Überleben auf das Vorhandensein von Feuchtgebieten angewiesen ist, ist kein Zufall.

Diese Lebensräume sind europaweit besonders stark von der Zerstörung durch menschliche Entwicklung und den Klimawandel bedroht – und mit ihnen ihre Bewohner. Schon heute erreichen viele Feuchtgebiete entlang des Vogelzugkorridors von Europa und Afrika nicht mehr ausreichend hohe Wasserstände, um den Tieren genügend Nahrung zum Auftanken ihrer Kraftreserven zu bieten.

Studien erwarten, dass innerhalb der nächsten 20 Jahre mehr als als 80 Prozent der für den Vogelzug besonders wichtigen Feuchtgebiete im Nahen Osten und Nordafrika so stark austrocknen, dass sie ihre Funktion als Tankstellen auf dem Vogelzug nicht mehr erfüllen können.

Ein Boot mit Vater und Sohn, der Vater hält ein Fischernetz in der Hand.
Feuchtgebiete bieten vielen Menschen Nahrung und Tieren überlebenswichtige Rastplätze. Fischer am Rande von Mangrovensümpfen im westafrikanischen Benin.

Die Entwässerung seiner Hochmoor-Brutgebiete für die Landwirtschaft und die Zerstörung der Küstenfeuchtgebiete entlang von Mittelmeer und Atlantik, die als Winterfutterplätze dienten: Umweltzerstörungen an zwei existenziell wichtigen Punkten des Lebenszyklus konnte der Brachvogel nicht meistern.

Entwässerung des Lebensraums und direkte Tötung durch Jäger: das war zu viel für die Art

Welcher Faktor letztlich dem Dünnschnabel-Brachvogel zum Verhängnis wurde, ist nicht vollständig geklärt. Vieles deutet aber auf einen Ursachen-Mix hin. Entlang seines Zugweges von Zentralasien über den Balkan und Südeuropa bis nach Nordafrika wird Vögeln von Jägern legal und illegal massiv nachgestellt. Er galt als wenig scheu und bietet Jägern damit leichtes Spiel. Einer der letzten beobachteten Vögel wurde in den 90-er Jahren in Marokko geschossen – da wusste man schon, wie es um die Art bestellt ist.

Umweltzerstörung gleich an zwei existenziell wichtigen Punkten des Lebenszyklus kommen hinzu: Die Entwässerung seiner Hochmoor-Brutgebiete für die Landwirtschaft und die Zerstörung der Küstenfeuchtgebiete entlang von Mittelmeer und Atlantik, die als Winterfutterplätze dienten. Im einzigen bekannten Brutgebiet in Sibirien wurden Waldsteppen und die darin wie Oasen eingebetteten Feuchtgebiete großflächig in Agrarland umgewandelt. Auch die möglicherweise klimabedingte Trockenheit in Teilen Sibiriens könnte ein Grund für den Bestandszusammenbruch sein, vermuten die Experten der Royal Society for the Protection of Birds. Dramatisch sind auch die Veränderungen im Zug- und Überwinterungsgebiet in Nordafrika und dem Nahen Osten, wo riesige Areale Sumpflandes trockengelegt wurden, um Küsten zu schützen, Hotelburgen zu errichten oder Ackerflächen zu gewinnen.

Zerstörung im einstigen Garten Eden

Allein die Zerstörung der irakischen Sümpfe am Unterlauf von Euphrat und Tigris könnte sich verheerend für den Dünnschnabel-Brachvogel ausgewirkt haben. Das Gebiet war einst so fruchtbar, dass es historisches Vorbild des biblischen Garten Edens gewesen sein soll. Unter Saddam Hussein wurde es weitgehend trockengelegt. Übrig sind heute nur noch Reste des einst wichtigsten Feuchtgebiets im Nahen Osten. Auch dort lag früher wahrscheinlich ein überlebenswichtiges Überwinterungsgebiet für die Brachvögel.

Alpenstrandläufer im Watt, große Gruppe, abstrakt mit Langzeitbelichtung fotografiert.
Ein Schwarm Alpenstrandläufer.

Dritte ausgestorbene Vogelart in Europa

Der Dünnschnabel-Brachvogel wäre nach dem vor 180 Jahren ausgerotteten Riesenalk und dem in den 1940er Jahren ausgestorbenen Kanaren-Austernfischer die dritte europäische Vogelart, die in der Neuzeit aufgrund menschlicher Einflüsse ausstarb.

Erst vor wenigen Tagen hatte der Vogelschutzdachverband BirdLife International bekannt gegeben, dass 16 weitere Watvogelarten auf der Roten Liste der bedrohten Arten heraufgestuft werden mussten. Darunter finden sich bisher als noch häufig eingeschätzte Arten wie Kiebitzregenpfeifer, Alpenstrandläufer und Sichelstrandläufer. Alex Berryman, bei BirdLife für die Rote Liste zuständiger Experte und Mitautor der Studie, mahnt: „Die erschütternde Nachricht vom Verlust des Dünnschnabel-Brachvogels ist eine Warnung, dass kein Vogel vor dem Aussterben sicher ist.“

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