EU-Umweltminister machen Weg frei für Revitalisierung der Natur – Gesetz kann in Kraft treten
Nach langem Ringen hat eine Mehrheit der 27 Mitgliedsstaaten das Renaturierungsgesetz unterstützt. Bis 2030 sollen 20 Prozent der geschädigten Ökosysteme auf den Weg der Besserung gebracht werden.
Die Europäische Union will bis zum Jahr 2030 der Natur in ihren Mitgliedstaaten zu einem Comeback verhelfen. Nach fast dreijähriger Debatte stimmten die Umweltminister der 27 EU-Staaten am Montag in Luxemburg mit der notwendigen qualifizierten Mehrheit dem europäischen Renaturierungsgesetz zu. Es ist das weltweit erste Gesetz, das eine ganze Staatengemeinschaft verpflichtet, geschädigte Ökosysteme auf großer Fläche zu revitalisieren. Von den Meeren bis hoch hinauf in Gebirgswälder sollen bis 2030 Maßnahmen zur Renaturierung auf einem Fünftel der EU-Fläche anlaufen.
Bis 2050 sollen dann alle geschädigten Ökosysteme in den Genuss von Renaturierungsmaßnahmen kommen. Dazu soll zum Beispiel gehören, 25.000 Flusskilometer in Europa wieder frei fließen zu lassen, Moore wiederzuvernässen und Biotope wie Hecken und Streuobstwiesen anzulegen. Besonders in Wälder und Agrarlandschaften soll das Leben durch Maßnahmen zur Renaturierung zurückkehren, um so langfristig die Lebensmittelproduktion zu sichern und den Klimaschutz zu stärken. Auch die Begrünung von Städten soll angesichts zunehmender Hitzewellen verstärkt werden.
Für das Gesetz stimmten Deutschland, Dänemark, Portugal, Spanien, Slowenien, Frankreich, Litauen, Tschechien, Irland, Zypern, Griechenland, Kroatien, Rumänien, Lettland, Österreich, Slowakei, Luxemburg, Estland, Bulgarien und Malta.
Landwirte sollen an Naturschutzmaßnahmen verdienen
Dagegen stimmten Italien, Schweden, Finnland, Niederlande, Ungarn und Polen. Belgien enthielt sich. Damit wurde die nötige Mehrheit von 15 der 27 Mitgliedstaaten, die gleichzeitig 65 Prozent der EU-Bevölkerung vertreten, erreicht und um einen Prozentpunkt übertroffen. Das Gesetz kann nach langem Ringen zwischen Parlament, Mitgliedsstaaten und Kommission nun in Kraft treten. Das Europäische Parlament hatte es schon im Februar gebilligt. Überschattet wird der Beschluss aber von der Ankündigung des österreichischem Bundeskanzlers Karl Nehammer (ÖVP), gegen das Ja-Votum seiner Umweltministerin vor den Europäischen Gerichtshof zu ziehen.
In der Debatte hatten Umweltministerinnen und -minister zahlreicher Staaten davor gewarnt, beim Schutz der Biodiversität nachzulassen. Bundesumweltministerin Steffi Lemke (Grüne) betonte, es gehe darum, Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union wiederherzustellen. Sie bezog sich darauf, dass zwischen Parlament, Rat und Kommission eigentlich schon ein Konsens hergestellt war, der dann aber auf Initiative des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán wieder aufgekündigt worden war.
Der tschechische Umweltminister Petr Hladík von der konservativen Partei KDU-ČSL sagte, Natur und Umwelt in Europa seien in Teilen schwer geschädigt. Das Gesetz sei „eine einmalige Chance“, rechtzeitig Gegenmaßnahmen einzuleiten. Der irische Umweltminister Eamon Rya (Grüne) betonte, es gehe bei dem Gesetz auch darum, die Einkommen der Landwirte zu steigern. Diese sollten künftig für ihre Leistungen, die Lebensgrundlagen gegen Überflutungen und Hitzewellen zu schützen und die Biodiversität zu bewahren, finanziell belohnt werden. Mehrere Minister erinnerten daran, dass die EU sich im UN-Abkommen zum Schutz der Biodiversität Ende 2022 auch international verpflichtet habe.
Eine Schlüsselrolle hatte die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) gespielt. Am Sonntag hatte sie bei einer Pressekonferenz überraschend angekündigt, für das Gesetz zu stimmen. „Ich kann es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren, dass wir diese Chance verstreichen lassen, ohne alles versucht zu haben“, begründete Gewessler ihre Entscheidung, dem Gesetz trotz Protests ihres konservativen Koalitionspartners zuzustimmen. „Das Gesetz ist fertig, es ist richtig, es ist gut – bringen wir es über die Ziellinie“, sagte sie. Dass der konservative österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer von der ÖVP seiner Ministerin die Befugnis für ein Ja abgesprochen und sogar eine Intervention beim Europäischen Gerichtshof angedroht hat, hielt die Abstimmung nicht auf. Die belgische Ratspräsidentschaft betonte, entscheidend sei die Stimme der Minister im Rat. Alles andere sei eine „innere Angelegenheit von Österreich“.
Kritiker warnen vor Belastungen und Kosten
Kritiker im Umweltrat warnten vor Belastungen für Landwirte. „Wir unterstützen den Schutz der Natur, aber wir können es nicht mittragen, dass es für Landwirte noch mehr Auflagen gibt“, sagte die Vertreterin Italiens. Finnland beklagte zu hohe Kosten für die Forstwirtschaft des Landes, Polen einen zu hohen bürokratischen Aufwand und das Fehlen eines eigenen Budgets für die Umsetzung.
Eigentlich war das Gesetz schon im Frühjahr in trockenen Tüchern gewesen. In den komplizierten europäischen Mühlen hatten Ausschüsse, Mitgliedstaaten und EU-Kommission sich in mehr als zwei Jahren Verhandlungen auf einen Kompromiss geeinigt, mit dessen Hilfe die Natur in den kommenden sechs Jahren auf 20 Prozent der Fläche der EU wieder in einen ökologisch guten Zustand versetzt werden soll. Nachdem weitgehende Zugeständnisse an den Agrarsektor vereinbart und Landwirte ausdrücklich von individuellen Verpflichtungen freigestellt wurden, stimmte im Februar das Europäische Parlament mehrheitlich zu. Angesichts der europaweiten Traktoren-Proteste, die damals Schlagzeilen machten, war erstaunlich, dass auch viele konservative Politikerinnen und Politiker für das Gesetz votierten. Ein Veto aus Ungarn führte dann zu einer neuerlichen kontroversen Debatte. Zwischenzeitlich hatten Umweltpolitiker bereits die Hoffnung aufgegeben, dass das Gesetz noch in Kraft treten könnte.
Das Renaturierungsgesetz ist einer der wichtigsten Bestandteile des europäischen Green Deal, mit dem die Staatengemeinschaft bis zur Jahrhundertmitte klimaneutral und ökologisch nachhaltig werden will. Wird es beschlossen, wäre es das weltweit erste Gesetz, das eine ganze Staatengemeinschaft dazu verpflichtet, nicht nur die verbliebenen Reste von Natur zu schützen, sondern zusätzlich bereits zerstörte oder geschädigte Ökosysteme wieder in einen guten Zustand zu bringen.