EU-Renaturierungsgesetz findet unter EU-Staaten keine Mehrheit: Zukunft nun völlig offen
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage hat eines der wichtigsten Gesetze des Green Deal am Freitag keine Mehrheit unter den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gefunden. Seine Zukunft ist offen.
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage hat eines der wichtigsten Gesetze des Green Deal am Freitag keine Mehrheit unter den 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union gefunden. Nach Informationen aus Kreisen des Europäischen Parlaments und der deutschen EU-Verhandler gaben im Ausschuss der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten nicht genügend Botschafter eine Zustimmung zu dem Gesetz zu Protokoll, um es zur formellen Billigung an das Treffen der EU-Umweltminister am kommenden Montag zu verweisen. Daraufhin wurde es durch die belgische Ratspräsidentschaft von den Tagesordnungen des Ausschusses und des Ministertreffens in der kommenden Woche genommen. Ohne eine formelle Bestätigung kann es nicht in Kraft treten.
Das wichtigste Naturschutzgesetz seit 30 Jahren steht vor dem Scheitern
Das Gesetz war fast zwei Jahre lang intensiv zwischen den Staaten und im Europaparlament ausgehandelt worden. Das Parlament hatte es im Februar bereits verabschiedet, nachdem zahlreiche Zugeständnisse an Landwirte und andere Landnutzer darin festgeschrieben wurden. Das Gesetz sieht vor, dass bis zum Jahr 2030 die Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme auf 20 Prozent der EU-Fläche eingeleitet werden müssen. Es wäre das wichtigste europäische Naturschutzgesetz seit der Verabschiedung der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie 1992.
Die Zukunft des Gesetzes ist nun offen. Möglicherweise wird die belgische EU-Ratspräsidentschaft über das Wochenende versuchen, eine Lösung zu finden, um es am Montag doch noch durch die Ministerinnen und Minister auf den Weg bringen zu können.
Notwendiges Quorum nur knapp verfehlt
Um Inkrafttreten zu können, müssen 15 Mitgliedsstaaten zustimmen, die zugleich auch mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Gegenwärtig wird die Zahl der Länder erreicht, das 65-Prozent-Quorum aber knapp verfehlt. Gegen das Gesetz haben sich Insidern zufolge die Niederlande, Italien, Schweden und Ungarn positioniert. Polen, Finnland, Belgien und Österreich haben demnach ihre Enthaltung angekündigt, was wie eine Nein-Stimme gewertet wird. In Deutschland hatte die FDP zu Wochenbeginn ihren Widerstand gegen ein Ja der Bundesregierung aufgegeben.
Lemke appelliert an EU-Regierungen, Blockade aufzugeben: „Wir alle brauchen die Natur“
Bundesumweltministerin Steffi Lemke äußerte sich besorgt über die Verschiebung. „Dieses Projekt hat eine enorme Bedeutung für den Naturschutz in Europa“, erklärte sie. EU-Kommission, Mitgliedsstaaten und das EU-Parlament hätten in intensiven Verhandlungen einen ausgewogenen Kompromiss gefunden, der niemanden überfordere, aber zugleich nötige Schritte zur Wiederherstellung der Natur einleite.
„Sollte dieser Kompromiss in letzter Sekunde scheitern, wäre dies ein fatales Signal für den Naturschutz in Europa“, warnte sie. Auch gegenüber internationalen Partnern stehe Europa in der Pflicht, unterstrich die Grünen-Politikerin mit Blick etwa auf das Weltnaturabkommen von Montreal. Dort hatte sich die EU verpflichtet, 30 Prozent der geschädigten Ökosysteme wieder in einen guten Zustand zu bringen. Lemke appellierte an die EU-Staaten, doch noch Wege zu finden, das Gesetz auf den Weg zu bringen. „Wir alle sind auf eine intakte Natur angewiesen.“
Der WWF forderte Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen auf, sich einzuschalten, um die Blockade zu durchbrechen.
Ein Fünftel der Fläche der EU soll grün werden
Kern des Gesetzes ist die Verpflichtung, bis zum Jahr 2030 Maßnahmen zur Renaturierung zerstörter oder geschädigter Ökosysteme auf 20 Prozent der Fläche der Staatengemeinschaft einzuleiten. Die Vorgabe gilt für alle Ökosysteme – vom Meer bis zum Gebirgswald. Bis 2050 sollen alle geschädigten Ökosysteme in den Genuss von Renaturierungsmaßnahmen kommen.
Der Anlauf zur flächendeckenden Renaturierung ist bitter nötig, um den dramatischen Verlust der Artenvielfalt in der EU zu stoppen. Der Verlust von Lebensräumen und der darin lebenden Tier- und Pflanzenarten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten auch in der EU stark beschleunigt. Nach mehr als einem Jahrhundert der Industrialisierung sind inzwischen mehr als 80 Prozent aller Lebensräume in der Gemeinschaft einem schlechten ökologischen Zustand.
Artenschwund hat Folgen für Menschen
Viele Tier- und Pflanzenarten kämpfen ums Überleben. Dieser Verlust an Biodiversität hat auch unmittelbare Folgen für die Menschen und die Wirtschaft in der Gemeinschaft: Kanalisierte Flüsse und zerstörte Auen bieten keinen wirksamen Hochwasserschutz in Zeiten des Klimawandels mehr und die geschädigten Wälder haben sich bereits zu Emittenten von Treibhausgasen entwickelt, statt sie zu speichern. Auch das Insektensterben in Folge einer zu intensiven Landwirtschaft entwickelt sich mittlerweile zu einer ernsten Gefahr für die Lebensmittelproduktion. Schon heute leidet die Hälfte der von Bestäubung abhängigen Ackerkulturen in der EU unter Mangelerscheinungen.
Hinweis: aktualisiert um Stellungnahme Lemke und neuen Informationen zum Abstimmungsergebnis.