Im Schutz der toten Krone

Fieldwriter Gerhard Richter schreibt im Geäst eines umgestürzten Baumes und findet dort einen uralten Frieden und eine neue Uhr.

von Gerhard Richter
7 Minuten
Gerhard Richter läuft zu seinem Klapptisch neben dem toten Geäst eines umgestürzten Baumes

Ein Elefantenfriedhof sieht bestimmt ganz ähnlich aus. Wie Knochen toter Kolosse verwittert das Holz dieses umgestürzten Baumes, bleich wie Elfenbein. Die Baumkrone liegt nun da als vom Leben verlassenes, weithin sichtbares Gerippe. Manche Äste ragen mit seltsamen Verrenkungen in den Himmel, andere stecken im Boden. Ein mächtiger Baum ist hier in die Knie gegangen. Er sinkt nun langsam der Erde entgegen und flüstert Weisheiten.

Löcher wie Augen

Diese Pappel muss sehr alt geworden sein. Sie hatte drei Stämme. Sie sind schon vor Jahren auseinandergebrochen. Die einzelnen Stämme strebten einst nach oben. Nun liegen sie flach und zeigen in verschiedene Himmelsrichtungen. Die Krone, in der ich sitze, stürzte nach Südwesten. Alle kleineren Zweige sind bereits abgefallen. Wo sie früher aus dem Ast gewachsen sind, klaffen nun faulige Löcher; manche wirken wie Augen. Es sind Einfallstore für Feuchtigkeit, Moder und Pilze. Aber noch halten die starken Äste der Krone den Stamm von der Erde ab. Sie stemmen sich förmlich gegen den endgültigen Zerfall. Die Äste, die nach oben ragen, zeigen wie knotige arthritische Finger in den Himmel, wo die Sonne auf ihrem Lauf durch den Nachmittagshimmel ihre zerstörerischen Strahlen aussendet und alles brüchig werden lässt.

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