Ich freue mich über jeden Vogel, der es mit uns Menschen aushält
So spannend es ist, seltene Arten zu entdecken: Auch Wiedersehen macht Freude. Weshalb die Vögel unserer alltäglichen Umgebung mehr Beachtung verdient haben
Vor einiger Zeit habe ich einen Nonnensteinschmätzer gesehen. Er saß am Strand von Helgoland und pickte Fliegen aus angeschwemmtem Seetang. Nonnensteinschmätzer (Oenanthe pleschanka) leben normalerweise in steinigen Steppen und Bergregionen zwischen Ostrumänien, der Mongolei und Afghanistan. Dass sie in Westeuropa auftauchen, noch dazu auf einer Nordseeinsel, ist die absolute Ausnahme; seit der Jahrtausendwende sind etwa ein halbes Dutzend Exemplare in Deutschland gesichtet worden.
Deshalb war ich, als ich den Vogel sah, auch nicht allein. Rechts und links neben mir reihten sich ein gutes Dutzend Stative mit Kameras und Spektiven. Dahinter andächtig schweigende Beobachter (fast alle männlich). Der Vogel, ein junges, noch nicht voll ausgefärbtes Männchen, zeigte sich nicht nur unbeeindruckt von soviel Aufmerksamkeit – er schien sie sogar zu genießen. Er hockte sich nur fünf Meter entfernt von den Objektiven auf einen Stein und präsentierte sich gut drei Minuten lang von allen Seiten, wie ein Hollywoodstar auf dem roten Teppich: die dunkel geschuppte Kehle, die ockerfarbene Brust, den tintenschwarzen Schwanz mit weißem Bürzel. Die Kameras ratterten. Ab und zu löste sich einen leises Ah! oder Wow! aus der schweigenden Phalanx.
Ich fand es natürlich auch aufregend, diesen Vogel zu sehen. Er war für mich ein „Lifer“, wie man im Beobachter-Jargon sagt, also eine erstmals gesichtete Art. Und wenn ich ein echter „Birder“ wäre, also eine nicht nur passionierte, sondern auch systematische Beobachterin, dann hätte ich seinen Namen natürlich meiner „Lebensliste“ hinzugefügt. Habe ich aber nicht. Zwar habe ich, vor zig Jahren, mal eine solche Liste angelegt, aber nie konsequent genug geführt.
Das liegt auch daran, dass ich zu der Sorte von Vogelfreundinnen gehöre, denen Ringeltauben genauso lieb sind wie Nonnensteinschmätzer und andere Raritäten. Wobei „Ringeltaube“ hier stellvertretend für alle die Vögel steht, die für gewöhnlich als Allerweltsarten bezeichnet werden. Die Sorte, die man als erfahrene Beobachterin im Vorübergehen bestimmt oder nach einem flüchtigen Blick durchs Fernglas: Ach, bloß ne Kohlmeise. Ne Amsel. Ne Krähe. Buchfinken, nein, nicht schon wieder! Wie viele haben wir heute schon gesehen – ein, zwei oder drei Dutzend?
Der Buchfink ist, zusammen mit der Amsel, die häufigste Vogelart in Deutschland. Es gibt davon, laut aktuellen Zählungen des Dachverbands Deutscher Avifaunisten (DDA), bis zu 8,9 Millionen Brutpaare. Auf den Plätzen danach folgen Kohlmeise, Haussperling, Mönchsgrasmücke und Rotkehlchen, mit Bestandszahlen, die sich zwischen sechseinhalb und gut drei Millionen Brutpaaren bewegen (die Schwankungsbreite ist natürlich groß, nicht zuletzt, weil selbst tausende aufmerksamer Beobachter und Beobachterinnen die Bestände kaum flächendeckend erfassen können). Insgesamt gibt es 22 Vogelarten, die bei uns in Millionenstärke vertreten sind; bei der Gartengrasmücke liegt die Mindestschätzung immerhin noch bei 930.000 Paaren.
Ich habe diese Statistik vor kurzem in einem Jahresheft des DDA gelesen, mit Freude, aber auch mit Staunen: Darüber, dass es hierzulande immer noch Vögel gibt, die in Massen vorkommen, trotz allem, was ihnen und der Natur insgesamt seit Jahrzehnten angetan wird – durch Bejagung, Zerstörung von Lebensräumen, und, allem voran, den Vernichtungsfeldzug, den die „moderne“ Landwirtschaft gegen Wildkräuter und Insekten ebenso wie die Mikrofauna des Bodens führt. Angesichts dieser Zustände finde ich, dass jeder, wirklich jeder Vogel, der einem über den Weg fliegt, ein Grund zur Freude ist.
Das Tschilpen von Spatzen, die Koloraturen der Feldlerche
Aber nicht nur deshalb sehe ich Buchfinken, Amseln, Ringeltauben & Co. immer wieder gern. „Vögel beobachten“ ist ja, in meinen Augen jedenfalls, vor allem eine Kombination aus Entdecken und Wiedererkennen, und das zweite ist mir fast noch lieber als das erste. Ich mag es, durch irgendeine Landschaft zu laufen, vor meiner Haustür oder auch weiter weg, und dabei lauter guten Bekannten zu begegnen; Stimmen, Gestalten und Bewegungsmuster wahrzunehmen, die mir seit Jahrzehnten vertraut sind: das Tschilpen von Spatzen, die Koloraturen der Feldlerche, die typische Spindelform fliegender Stare, die charakteristischen Blau-Gelb-Schwarz-Kombinationen der verschiedenen Meisenarten, den Berg- und Talflug balzender Ringeltauben, die Silhouette eines segelnden Mäusebussards.
Und ich mag es auch, an den Bekannten immer wieder neue Seiten zu entdecken: dass das Blau der Blaumeisen bei bestimmter Beleuchtung besonders intensiv strahlt, dass Singdrosseln nicht nur schön singen, sondern auch Wachteln imitieren können, dass Elstern Einschlafrituale haben, die sich über eine Stunde hinziehen können, und dass Kolkraben im Flug Sachen anstellen, die in keinem Vogelbestimmungsbuch stehen.
Natürlich freue ich mich, wenn sich der Kreis der Bekannten im Laufe der Zeit erweitert. Im vergangenen Frühjahr habe ich zum Beispiel endlich gelernt, Winter- und Sommergoldhähnchen am Gesang zu unterscheiden, ich kann jetzt Goldregenpfeifer im Schlichtkleid erkennen und werde keinen Habicht mehr mit einem Bussard verwechseln, weil ich mir, mit Nachhilfe eines Greifvogelexperten, seinen charakteristischen Flugrhythmus eingeprägt habe. Und natürlich bin ich jedes Mal hingerissen, wenn ich eine (für mich) neue Art entdecke. Oder eine Rarität, die ich vor Jahren und Jahrzehnten zuletzt gesehen habe.
Aber, ganz ehrlich: den Nonnensteinschmätzer muss ich kein zweites Mal sehen. Jedenfalls nicht hier in Westeuropa. Denn so aufregend solche Irrgäste für Beobachter sind – es handelt sich bei ihnen um „lost souls“, wie manche britischen Vogelkundler sie nennen, um Vögel, die beim Zug vermutlich aufgrund einer genetischen Fehlprogrammierung eine falsche Route eingeschlagen haben. Solche Vögel sind, tatsächlich, „verlorene Seelen“, denn sie werden nie wieder in ihr angestammtes Brut- oder Überwinterungsrevier zurückfinden. Und selbst wenn sie ihre Reise ein paar Monate oder auch Jahre überlegen, werden sie nie wieder einen Partner der eigenen Art finden.
Das wünsche ich eigentlich keinem Vogel. Und auch sonst niemandem.
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Ich beobachte Vögel seit meiner Kindheit. Mit dem Bestimmungsbuch „Was fliegt denn da?“, Auflage 1964, habe ich mir nur nicht nur die heimischen Arten, sondern zum Teil auch das Lesen beigebracht. So sehr mich Vögel faszinieren, so viel ich im Laufe mehrerer Jahrzehnte über sie gelernt habe – ein wirklicher „Orni“ bin ich nie geworden. Ich beobachte vor allem zum Vergnügen, ohne wissenschaftlichen Anspruch. Nutze aber auch jede Gelegenheit, mit ornithologischen Experten auf Exkursion zu gehen. Dies ergab sich etwa bei den „Helgoländer Vogeltagen“, die ich im Oktober 2016 erstmals besucht habe, zur Recherche für mein Buch Federnlesen – vom Glück, Vögel zu beobachten.