Macht die Energiewende dem deutschen Schreiadler den Garaus?
Ein Report von Thomas Krumenacker (Text und Fotos)
An einem Junitag vor drei Jahren macht sich Arno Ritter auf den Weg in den Wald zu einem Adlerhorst. Der Naturschützer kümmert sich seit vier Jahrzehnten um Schreiadler im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte, betreut ihre Horste, registriert Brutpaare und Jungvögel. Sein letzter Besuch an diesem Nistplatz ist einige Wochen her. Damals, Anfang April, hatte er das Adlerpaar im Revier beobachtet; die Vögel waren unbeschadet aus Afrika zurückgekehrt und saßen in der Nähe des Nestes, das den Winter ebenfalls heil überstanden hatte. Offensichtlich bereitete sich das Paar auf die Brut vor. Ritter machte sich zufrieden auf den Heimweg und ließ den Adlern in den folgenden Wochen die nötige Ruhe.
Jetzt, Anfang Juni, will er den Bruterfolg kontrollieren. Doch er findet statt des Nests mit Jungvogel – nichts. Von der Fichte, in der die Schreiadler über Jahre hinweg erfolgreich gebrütet haben, ist nur noch ein kleiner Stumpf übrig, dicht über der Erde abgesägt. Von dem oder den jungen Schreiadlern ebenfalls keine Spur. Das Forstamt erstattet Anzeige, die Staatsanwaltschaft wird eingeschaltet. Doch die Nachforschungen haben bis heute, drei Jahre später, kein Ergebnis erbracht; das Ermittlungsverfahren wurde mittlerweile eingestellt.
Der zerstörte Horst liegt dicht an einem geplanten Windpark. Zu dicht?
Der Verdacht, dass hier mit Gewalt ein Hindernis für die Windenergie beseitigt wurde, liegt auf der Hand. Denn Schreiadler sind aus Sicht vieler in der Windbranche ein teures "Planungshindernis". Der Grund: Innerhalb eines 3000-Meter-Radius zwischen Adlernest und Windkraftanlage dürfen keine neuen Windräder errichtet werden. Ein einzelner Vogelhorst kann also darüber entscheiden, ob ein Grundbesitzer Millionär wird – oder nicht. Denn pro Anlage sind 80.000 Euro Jahrespacht keine Seltenheit. Bei einer Laufzeit von 20 Jahren sind das 1,6 Millionen Euro für ein einziges Windrad. Und mit dem zunehmend knapper werdenden Platz für weitere Windräder rückt auch der Schreiadler, eine der seltensten Vogelarten Deutschlands, immer stärker ins Visier von Wind-Goldgräbern, die auch vor Gesetzesverstößen nicht zurückschrecken.
Angriffe auf die empfindlichen Niststätten sind mittlerweile keine Einzelfälle mehr. Weitere Beispiele: Im Landkreis Rostock wurde 2014 die Brut eines Schreiadlerpaares zunächst massiv durch "gezieltes Herumfahren mit einem Quad unmittelbar am Horstbaum" (Protokoll des Horstbetreuers) gestört. Das Paar hatte keinen Bruterfolg und baute im Folgejahr ein Nest an einem anderen Standort im gleichen Revier. Daraufhin verschwanden beide Nester spurlos. "Da diese jeweils in den Stammgabeln angelegt und damit nicht absturzgefährdet waren, nach ihrem Verschwinden auch kein Nestmaterial unter den Horsten nachweisbar war, besteht der Verdacht einer vorsätzlichen Beseitigung", stellt das Landesamt für Umwelt, Naturschutz (LUNG) in einem Schreiben fest. Auch hier war in unmittelbarer Nähe ein Windpark geplant.
In einem Schreiadler-Revier in Brandenburg gingen Nestzerstörer besonders systematisch vor. Sie ließen 2013 und 2014 nicht nur zwei Adlerhorste spurlos verschwinden, sondern entfernten auch Fledermauskästen in dem gesamten angrenzenden Wald – "ganz so, als sollte hier ganz sichergegangen werden, dass auch wirklich jedes Planungshindernis für die Anlage beseitigt ist", sagt ein mit dem Fall vertrauter Artenschützer. Dieses Revier ist seitdem verwaist. In keinem der Fälle wurde ein Täter überführt.
Zahl illegaler Horstzerstörungen nimmt zu
Schreiadler sind sehr standorttreue Vögel. An ihren Revieren halten sie oft über Generationen hinweg fest. Und so bleiben sie zumeist auch nach der Horstzerstörung in ihrem Revier. Auch deshalb stehen Horststandorte auch nach ihrer vorübergehenden Aufgabe unter Schutz. In Mecklenburg-Vorpommern genießen die sogenannten Waldschutzareale um ein aufgegebenes oder zerstörtes Nest herum zehn Jahre denselben Schutz wie ein aktives Nest. Selbst beim „Verschwindenlassen“ eines Horstes darf dort also in einem 3000-Meter-Radius kein Windrad gebaut werden. Vor Angriffen schützen diese Regelungen trotzdem aber immer weniger Horste. Fatal ist deshalb, wenn – wie in Brandenburg der Fall – zugunsten der Windenergie am gesetzlichen Schutz der Horste gesägt wird. Im Bundesland, das einen Adler im Wappen führt, verringerte die Landesregierung 2011 per Erlass die gesetzliche Schutzperiode für nur in größeren zeitlichen Abständen genutzte sogenannte Wechselhorste von Schreiadlern, Uhus, Schwarzstörchen und Seeadlern von zehn auf zwei Jahre. Begründet wurde dies explizit mit den „erheblichen räumlichen Einschränkungen“, die eine lange Schutzperiode für die Windkraftplanung bedeute.
Ein weiteres Problem ist der große Personenkreis, der über Brutplätze der sensiblen Greifvögel informiert ist. Die Umweltbehörden stehen hier vor einem Dilemma. Einerseits müssen sie im Zuge eines Planverfahrens einen weiten Kreis von Personen informieren, um den Schutz eines Adlervorkommens zu gewährleisten: Revierförster, Untere Naturschutzbehörde, Privatwaldbesitzer, Planungsinstanzen, andere Ämter. Sie alle erhalten die Standortdaten von Schreiadlerhorsten – auf den Meter genau. Denn sie müssen Beschränkungen in den Horstschutzzonen einhalten oder kontrollieren können. Die Windfirmen selbst bekommen eine Karte, auf der zwar keine punktgenauen Standorte eingezeichnet sind, aber natürlich die von ihnen zu beachtenden Horstschutzzonen um ein Nest herum. Auch damit ist ein Horst rasch gefunden. So wächst der Kreis der Eingeweihten. Und das bei einer der störungsempfindlichsten Vogelarten überhaupt.
Die Zahl von kriminellen Horstzerstörungen nimmt mit dem knapper werdenden Flächenangebot für neue Windräder zu. Je weniger geeignete Standorte sich finden, desto größer ist der Druck auf Vögel und Horste. Nach Recherchen der Deutschen Wildtier Stiftung, des NABU und des „Komitees gegen den Vogelmord“ wurden bis Anfang 2015 40 Fälle illegaler Verfolgung von Großvögeln im Umfeld von neuen oder geplanten Windparks registriert. Aber die Dunkelziffer ist hoch.
Betroffen sind alle "windkraftrelevanten" Arten, zu deren Schutz Tabuzonen um einen Horst ausgewiesen sind: Rotmilan, Seeadler, Schwarzstorch, Baum- und Wanderfalke – und eben Schreiadler.
Bei dieser Art steht jeder einzelne Fall zugleich für ein Prozent der deutschen Population. Noch vor 200 Jahren war der Schreiadler in Deutschland ein Allerweltsvogel. In Nord- und Nordostdeutschland kam er so häufig vor, dass man ihm den Namen „Pommernadler“ gab – so selbstverständlich gehörten die Vögel zu dieser weiten Landschaft. In manchen Gegenden wurden Schreiadler sogar als ebenso häufig wie Mäusebussarde beschrieben. Selbst Bayern hatte seine „Pommernadler“, als Rand einer Population in Tschechien.
Das ist vorbei. Heute leben in Deutschland gerade noch 100 Schreiadlerpaare auf einer Fläche von nur rund 12.000 Quadratkilometern, verteilt auf die Bundesländer Brandenburg und Mecklenburg- Vorpommern. Und die Aussichten, dass sich diese letzten kläglichen Reste des deutschen Bestands langfristig werden halten können, sind schlecht.
Mais, Raps und Wind bringen Schreiadler in Not
Es gibt verschiedene Gründe für den dramatischen Niedergang, aber die meisten lassen sich unter den Stichworten „Industrialisierung der Landwirtschaft“ und „Energiewende“ zusammenfassen. Schreiadler leben von Kleinsäugern und Amphibien. Die finden sie in Sümpfen, auf Brachen, an Kleingewässern und auf Wiesen – alles Biotope, die im Laufe der vergangenen Jahrzehnte zusehends rar geworden sind. Feuchte Wiesen wurden zu Äckern umbrochen oder in „Grasäcker“ umgewandelt, die regelmäßig mit Walzen flach geschleppt und mit Herbiziden totgespritzt werden. Mit den „Unkräutern“ sterben die Insekten, und mit ihnen die Kleintiere, die sich von ihnen ernähren. Zwar ist das Umbrechen von Grünland mittlerweile gesetzlich eingeschränkt, aber es kommt, auch mit behördlicher Ausnahmegenehmigung, weiterhin vor, auch in unmittelbarer Nähe von Horsten.
Nicht nur Grünland, sondern auch Brachland wird knapp: In Mecklenburg-Vorpommern schrumpfte seine Gesamtfläche, nach Daten des Statistischen Landesamts, allein zwischen 2005 und 2014 von 82.000 Hektar auf 16.000 Hektar. Im gleichen Zeitraum wuchs die ohnehin schon hohe Anbaufläche für Mais, vor allem zur Nutzung in Biogasanlagen, um fast das Doppelte: von 79 000 auf 147 000 Hektar. Das sind 14 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Fläche. Für den Schreiadler sind Maisfelder praktisch verlorenes Gelände. Denn dort gibt es kaum Beutetiere und die wenigen Nager, die dort vorkommen, sind für ihn wegen der dicht stehenden, hoch aufschießenden Pflanzen nicht erreichbar.
Die Intensivierung der Landwirtschaft beeinträchtigt selbst die wenigen noch verbliebenen natürlichen Nahrungsflächen in den Schreiadler-Revieren. Analysen in einem Dichtezentrum des Schreiadlers in der Uckermark haben eine extreme Belastung von Feldsöllen mit Herbiziden belegt. Am stärksten waren die Grenzwertüberschreitungen bei Bestandteilen des Breitbandherbizids Glyphosat (Roundup). Hier wurde teils das 19-fache des Erlaubten festgestellt. Entsprechend schlecht steht es um die Zahl der Amphibien, von denen sich besonders die Weibchen während der Brutzeit vorwiegend nähren.
Aber die Anwendung von Glyphosat gilt als „ordnungsgemäße landwirtschaftliche Praxis“ und ist daher völlig legal.
Seit einigen Jahren sind die ohnehin schon existenziell bedrängten Schreiadler einer neuen Bedrohung ausgesetzt: dem Boom der Windenergie. Kriminelle Horstzerstörer sind nur deren extreme Erscheinungsform; eine weitere Gefahr geht von den Anlagen selbst aus. Denn Schreiadler sind, wie die meisten Greifvögel, nicht imstande, den Rotoren auszuweichen; es kommt immer wieder zu Kollisionen. Bislang sind ein Dutzend Fälle dokumentiert, sechs davon in Deutschland, bis auf einen verliefen alle tödlich.
Der letzte Zusammenstoß ereignete sich erst vor wenigen Wochen: Mitte Juli 2017 wurde ein Schreiadler vom Rotor erschlagen im Windpark Hohen Luckow in Mecklenburg-Vorpommern aufgefunden.
Zwölf Todesfälle – das erscheint, auf den ersten Blick, nicht viel. Aber diese Zahl steht nur für einen verschwindend kleinen Teil der Opfer; die Dunkelziffer dürfte um ein Vielfaches höher sein. Denn alle dokumentierten Fälle sind Zufallsfunde; die meisten wurden im Spätsommer registriert – zu einer Zeit, in der Felder und Wiesen meist schon gemäht sind und abgestürzte Vögel leichter entdeckt werden. Das ganze Ausmaß der Vogel-Verluste durch Windräder könnte nur durch systematisches Monitoring ermittelt werden, aber das gibt es nicht. Betreiber von Windparks haben kaum Interesse daran, dass Kollisionen bekannt werden. „Keiner will einen toten Adler haben, Deshalb werden keine Suchen veranstaltet, denn das müsste dann ja Konsequenzen haben“, sagt ein amtlicher Naturschützer. An weit über 1000 Windanlagen im Schreiadler-Siedlungsgebiet ist noch nie nach Schlagopfern gesucht worden. Auch das jüngste Opfer in Hohen Luckow wurde nur entdeckt, weil dort wegen früherer Schlagopfer ein gezieltes Monitoring stattfand.
Ein weiterer Hinweis auf die hohe Dunkelziffer ist die für Laien oft nicht leichte Bestimmung der Schreiadler. Zwei der in Deutschland tot aufgefundenen Vögel wurden lediglich aufgrund ihres Ringes überhaupt gemeldet und so später als Schreiadler erkannt. Ein weiterer Totfund wurde zunächst als Schwarzmilan fehlbestimmt. Erst als ein versierter Federkenner hinzugezogen wurde, wurde das Opfer korrekt als Schreiadler bestimmt. Auch ein an der Autobahn A 20 als Verkehrsopfer gefundener Schreiadler wurde zunächst für einen Schwarzmilan gehalten und nur wegen seines Ringes weitergemeldet.
Eines zumindest scheint gewiss: In den nächsten Jahren werden noch mehr tote Adler gefunden werden. Bundesweit drehen sich mittlerweile die Rotoren von rund 28.000 Windkraftwerken, in den kommenden Jahrzehnten werden viele Tausende hinzukommen. Allein im ersten Halbjahr 2017 wurden in Deutschland 790 neue Windkraftanlagen errichtet – laut Bundesverband der Windindustrie, der sich über „das vierte starke Jahr in Folge“ freut. Für das zweite Halbjahr wird ein ähnlicher Zuwachs erwartet.
Auch die Schreiadler-Heimat Brandenburg hat sich ehrgeizige Ausbauziele gesetzt. Schon jetzt weist Brandenburg mit rund 3700 Anlagen die dritthöchste Windräder-Zahl aller Bundesländer auf; nach Angaben des Umweltministeriums in Potsdam wird bereits ein Drittel des Stromverbrauchs aus Erneuerbaren Energien gedeckt. Bis 2030 sollen es 100 Prozent sein – mit einem Windkraft-Anteil von 80 Prozent. Ähnlich ambitionierte Ziele hat sich Mecklenburg-Vorpommern gesetzt. Hier stehen bereits rund 1900 Windriesen.
Fatales Gerichtsurteil
Im Wettlauf um die knapper werdenden Flächen steigt in allen Bundesländern der Druck, in der Abwägung zwischen Naturschutz und Energiepolitik zugunsten der Windräder zu entscheiden. Das erklärt auch, weshalb einige Landesregierungen immer noch zögern, die Empfehlungen der Staatlichen Vogelschutzwarten umzusetzen. Diese sehen vor, zwischen Vogelnestern und Windrädern Mindestabstände zu wahren.1500 Meter sollten es beim Rotmilan sein, beim Schreiadler 6000 Meter. Diese Zahlen stützen sich auf wissenschaftliche Studien, bei denen Vögel auch mit Sendern versehen wurden, um ihr Flugverhalten und ihre Bewegungsmuster zu erkunden, zum Teil über mehrere Jahre hinweg.
Dabei stellte sich heraus, dass Schreiadler etwa ein Viertel ihrer Flugzeit auf Höhen zwischen 55 und 145 Metern verbringen – also genau innerhalb der Reichweite von 2-Megawatt-Windrädern. Und dass sie auf der Suche nach Nahrung regelmäßig Flächen aufsuchen, die bis zu sechs Kilometer von ihrem Horst entfernt liegen. Dies trifft vor allem auf die deutschen Adler zu, die zur Deckung ihres Nahrungsbedarfs doppelt so große Streifgebiete brauchen wie ihre Artgenossen in Polen oder im Baltikum: Dort ist die Landschaft vielerorts noch nicht so ausgeräumt; die Adler finden auch in der Nähe ihrer Horste noch genügend Kleintiere.
Die Abstands-Leitlinien der Vogelschutzwarten sollen eigentlich dazu beitragen, Konflikte zwischen Energiewende und Naturschutz zu vermeiden – nicht nur im Interesse der Natur, sondern auch der Investoren. Denn für diese bedeuten klare Empfehlungen Planungssicherheit und helfen, kostspielige Prozesse zu vermeiden, wenn etwa Umweltverbände wegen zu geringer Distanzen zwischen Nestern und Rotoren klagen. Zwar sind die überarbeiteten Abstandsempfehlungen der Vogelschutzwarten mittlerweile in Kraft, sie bilden aber nur Empfehlungen an die Länder. Und während Gerichte die Abstandsempfehlungen häufig in Prozessen als Grundlage für ihre Entscheidungen nehmen, haben sich ausgerechnet die einzigen beiden Länder mit Schreiadlervorkommen entschlossen, ihnen bei dieser besonders anfälligen Art nicht zu folgen. Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern halten eine 3000-Meter-Schutzzone um Schreiadlerhorste für ausreichend.
Zwar stimmen die Umweltministerien im Prinzip den Analysen der Wissenschaftler zu, die den Schreiadler durch Windkraft erheblich gefährdet sehen . Aber die vielleicht wichtigste Konsequenz daraus, nämlich einen ausreichenden Sicherheitsabstand zwischen Niststätte und Windkraftanlage zu verfügen, wollen sie nicht ziehen. Das energiepolitische Ziel eines forcierten Windkraftausbaus hat offenbar im Zweifel Vorrang vor den Belangen des Naturschutzes. Diesem Prinzip folgt auch immer wieder die Rechtsprechung – eindrücklich dokumentiert durch ein Urteil des Verwaltungsgerichts Potsdam vom 23. März 2007.
Damals hatte ein Umweltverband gegen die Genehmigung für sieben Anlagen geklagt, die im Windpark Hetzdorf in der brandenburgischen Uckermark errichtet werden sollten. Die Naturschützer verwiesen auf gleich vier Schreiadlerpaare, die im unmittelbar angrenzenden Vogelschutzgebiet Uckermärkische Seenlandschaft brüteten. Das Gericht wies die Klage ab, mit einer bemerkenswert offenen Begründung: „Den Belangen des Naturschutzes kommt vorliegend … ein geringeres Gewicht zu, als dem wirtschaftlichen Interesse der Beigeladenen (Wind-Investor) und dem öffentlichen Interesse an der Förderung von Windenergie als regenerativer Energieform zum Schutz des Weltklimas.“
Wie wenig der Schutz der Natur zählt, wenn es wie behauptet um das Weltklima und ganz offensichtlich um Investoreninteressen geht, wird auch bei der alltäglichen Planungs- und Genehmigungspraxis deutlich. Nach einer Analyse der Deutschen Wildtier Stiftung liegen in den Schreiadlergebieten Mecklenburg-Vorpommerns und Brandenburgs 63 geplante Windeignungsgebiete weniger als 6000 Meter von Schreiadlerbrutplätzen entfernt und 13 sogar weniger als 3000 Meter. Mehrere dieser Eignungsgebiete gefährden mehr als ein Schreiadlerpaar. Nach den Recherchen der Stiftung stehen bereits heute 691 Windkraftanlagen weniger als 6000 Meter von Schreiadler- Brutplätzen entfernt, 168 von ihnen sogar weniger als 3000 Meter. In vielen Fällen handelt es sich dabei um Altanlagen, die nach Ablauf der Genehmigung zurückgebaut werden müssten. Einer neuen Untersuchung zufolge gibt es in jedem zweiten Revier ein Störpotenzial durch Windkraft. Und „Störpotenzial“ heißt: Adler, die in der Nähe von Windrädern nisten (müssen), sind deutlich weniger erfolgreich, als Artgenossen in ungestörten Gebieten.
Experten fordern: Sicherheitsabstand muss vergrößert werden
Auf diese Studienergebnisse verweist auch die „Projektgruppe Großvogelschutz“ in Mecklenburg-Vorpommern – ein Beratergremium, in dem Experten aus Forstwirtschaft, Wissenschaft und dem Umweltministerium vertreten sind. In einer internen Stellungnahme üben die Mitglieder scharfe Kritik an den Genehmigungs-Richtlinien der Landesregierung: „Es ist nicht nachvollziehbar, warum in Mecklenburg-Vorpommern von dieser Empfehlung (6000-Meter-Abstandsempfehlung der Vogelschutzwarten) derartig gravierend abgewichen und der Tabu-Radius auf die Hälfte reduziert wird … Die bisher praktizierten Mindestabstände bieten für den Schreiadler keinen ausreichenden Schutz.“
Die Experten schlagen zwei konkrete Maßnahmen vor, um die noch verbliebene Adlerpopulation wirksam vor Kollisionen zu bewahren: Erstens, Erweiterung des Schutzabstands zu Brutwäldern auf „mindestens fünf, besser sechs Kilometer“. Zweitens, keine Genehmigung neuer Windkraftanlagen in Gebieten, in denen Schreiadler – noch – einigermaßen häufig sind.
Die Aussichten, dass diese Vorschläge umgesetzt werden, sind jedoch gering. Denn der scheue Schreiadler liebt die dünn besiedelten Regionen des Landes, und genau dort werden Windanlagen häufiger genehmigt als in der Nähe menschlicher Siedlungen. Zudem profitiert er kaum von schon bestehenden Großschutzgebieten - anders als etwa der Seeadler, der vor allem in den wasserreichen Nationalparks verbreitet ist, die für den Windkraftausbau tabu sind.
Auch im derzeit diskutierten Entwurf für eine neue, vermutlich mindestens ein Jahrzehnt gültige „Artenschutzrechtliche Arbeits- und Beurteilungshilfe für die Errichtung und den Betrieb von Windenergieanlagen“ in Mecklenburg-Vorpommern wird an der 3000-Meter-Schutzzone festgehalten.
Wann wird der letzte Pommernadler aus Deutschland verschwunden sein? Das ist, zumindest für Brandenburg, schon jetzt erschreckend genau abzusehen. 2004 untersuchten die beiden Ornithologen Jörg Böhner und Torsten Langgemach, inwieweit Veränderungen des Reproduktionserfolges und der Sterblichkeitsrate den Bestandstrend beeinflussen können. Anhand einer Computermodellierung kamen sie zu dem Schluss, dass die Population ohne künstliche Stützung schon nach 50 Jahren erloschen sein wird – bei konstanten Bedingungen. Der aktuelle Ausbau der Windenergie ist dabei nicht einmal berücksichtigt.
Dass einzelne Verluste durch Windkraftanlagen so gravierende Auswirkungen auf die Restpopulation der Adler in Deutschland haben, liegt auch an einer besonderen biologischen Eigenschaft der Schreiadler: Sie sind, wie alle Greifvögel, sehr langlebig. Dem entspricht ihre „Familienplanung“: Anders als kurzlebige Singvögel, die oft ein halbes Dutzend Eier oder mehr pro Gelege ausbrüten und bei Verlust der Brut auch wenige Wochen später „nachlegen“ können, ziehen Schreiadler zumeist nur ein einziges Junges pro Jahr groß, nur selten zwei. Dafür erstreckt sich aber ihre „Fortpflanzungskarriere“ über ihre gesamte Lebensspanne, die weit über 20 Jahre erreichen kann.
Wenn ein so langer Lebenslauf früh abgeschnitten wird, bedeutet dies im Extremfall den Verlust sämtlicher potenzieller Nachkommen. Und bei einer so seltenen Art kann schon der Verlust eines einzigen Vogels den Fortbestand der gesamten Population gefährden, wenn diese – wie in Deutschland – ohnehin auf der Kippe steht.
Es ist also gut möglich, dass die Energiewende zum Sargnagel für die Schreiadler in Deutschland wird. „Die festgesetzten Ausbauziele für die Windenergie lassen sich nicht mehr im Einklang mit dem Naturschutz realisieren. Meinen wir es mit ökologischer Energiegewinnung ernst, bräuchten wir für einige Regionen einen sofortigen Ausbaustopp, sonst hat das mit ‚ökologisch’ nichts mehr zu tun“, warnt ein ranghoher amtlicher Naturschützer mit Blick auf den Schreiadlerschutz. Wie viele Gesprächspartner für diesen Artikel besteht er darauf, seinen Namen nicht gedruckt zu sehen. Zu groß sei der Druck, der behördenintern zugunsten der Windkraft aufgebaut werde, heißt es gleichlautend zur Begründung.
Weltenbummler findet den Tod vor der Haustür
Nachdem das Potsdamer Verwaltungsgericht 2007 die Erweiterung des Windparks Hetzdorf zum Wohle des Weltklimas und zum Wohlstand des Investors gegen den erbitterten Protest der Naturschützer genehmigt hatte, geschah das Erwartete: Das Urteil vom 23. März 2007 kostete dort anderthalb Jahre später einen Schreiadler das Leben. Am 12. September 2008 wurde dort ein von den Rotoren getroffenes Männchen mit der Ringnummer CA 002471 gefunden. Die Ringnummer erlaubt es, einige Stationen des Lebenswegs des Vogels nachzuvollziehen.
Erbrütet wurde er in Mecklenburg und er wurde nur acht Jahre alt. Er starb in seinen besten Jahren und hätte noch lange zur Reproduktion seiner Art beitragen können. Stattdessen ging er als erstes dokumentiertes Schreiadler-Schlagopfer in Deutschland in die Statistik ein. Der Autopsiebericht des Berliner Instituts für Zoo- und Wildtierforschung identifizierte als Todesursache eindeutig die Kollision mit einer Windkraftanlage und fügte hinzu: „Der Schreiadler befand sich zum Todeszeitpunkt in einem sehr guten Ernährungszustand.“ CA0002471 war also gut gerüstet für seinen unmittelbar bevorstehenden Zug nach Afrika. Er hatte im Laufe seines Lebens vermutlich schon mehr als 100 000 Kilometer widriger, teil extrem gefährlicher Zugwege zurückgelegt. Doch den nur gut 30 Kilometer von seinem Geburtsort gelegenen Windpark Hetzdorf überlebte er nicht.
Die nächsten Schreiadler-Brutplätze liegen nur wenige Kilometer vom Windpark entfernt. Nach den in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern angewandten Abstandsregeln von 3000 Metern wäre die Anlage auch heute voll genehmigungsfähig.
Hinweis zu den Fotos: Schreiadler sind sehr sensibel Störungen gegenüber. Die hier gezeigten Fotos sind entweder mit einer sehr großen Brennweite aus größerer Entfernung oder aus gut getarnten Verstecken heraus entstanden. Die Nestfotos entstanden im Rahmen eines langjährigen Schutz- und Monitoring-Projekts an Horsten in Lettland, ebenfalls aus Verstecken heraus.