Ortolane: Dem Alkoholtod entronnen?
Der Kampf gegen die kulinarische Unsitte, den geschützten Vogel zu servieren, scheint erfolgreich zu sein.
Jahrzehntelang haben Vogelschützer in Frankreich für ein Ende des Ortolanfangs während des Herbstzugs in Westfrankreich gekämpft. Sie stellten sich den nicht selten militanten Vogeljägern in den Weg, machten Fanganlagen unschädlich und befreiten gefangene Vögel. Es scheint, dass sich der Kampf gelohnt hat.
Im zweiten Jahr in Folge berichten nun Aktivisten, dass der illegale Fang der buchfinkengroßen Ammer fast vollständig zum Erliegen gekommen ist. Auch die ornithologische Forschung hat einen wichtigen Beitrag zum hoffentlich endgültigen Ende des Ortolanfangs in Frankreich geleistet. Eine der wenigen – zumindest vorläufigen – Erfolgsgeschichten des Artenschutzes.
Französisches Gourmet-Vergnügen: Gefangen, zum Fettball gemästet und dann in Weinbrand ertränkt
Ortolane kämpfen wie viele andere Vogelarten der Offenlandschaft in Europa ums Überleben. Der anhaltende Verlust ihres Lebensraums und der Klimawandel machen der kleinen Ammer zu schaffen. Eine weitere Ursache für Verluste, zumindest bis vor kurzem: Die Verfolgung der Vögel in Südwestfrankreich.
Der Fang und Verzehr von Ortolanen auf dem spätsommerlichen Durchzug in Frankreich wird seit vielen Jahrzehnten zur „kulturellen Tradition“ überhöht und gilt als nichts weniger als ein Statussymbol der französischen Oberklasse. Typisch für die Mythisierung ist die von einigen verbürgten und von anderen bestrittene Darstellung, wonach Frankreichs früherer Präsident Francois Mitterrand noch auf dem Sterbebett nach Ortolanen in der traditionellen Zubereitungsweise verlangt haben soll: Nach dem Fang mit Hilfe von Lock-Ortolanen drei Wochen in Dunkelheit (zur Stimulation des Fressdrangs) zu einem gefiederten Fettball gemästet, anschließend in Armagnac – einem Weinbrand aus der Gascogne – ertränkt, damit möglichst viel des Alkohols von den Vögeln aufgenommen wird, und dann mit Kopf und Knochen in einem verspeist.
Ein einziger derart zugerichteter Ortolan erzielt leicht Preise von mehr als 150 Euro in Gourmetläden oder Restaurants.
Nach Schätzungen französischer Vogelschützer fielen dieser Praxis zu Hochzeiten der Nachstellung bis zu 30.000 Ortolane pro Saison zum Opfer. Der Widerstand gegen ein von Naturschützern seit Jahrzehnten gefordertes Ende dieser überkommenen „Tradition“ ist auch deshalb so stark, weil das Thema an einer kulturellen Wurzel Frankreichs rührt: der Abschaffung des Feudalismus mit der Revolution 1789, in deren Zuge Vorrechte für den Adel wie das alleinige Jagd- oder Fischereirecht abgeschafft wurden.
Das uneingeschränkte Jagdrecht wird deshalb häufig als republikanisches Grundrecht verstanden. Deshalb ist der Streit um ein Verbot des Ortolanfangs gerade in den betroffenen ländlichen Regionen erheblich emotional aufgeladen.
Ortolanschutz wurde „vergessen“
International stößt der Ortolanfang dagegen seit langem auf Ablehnung. Die Art ist in der vor 40 Jahren in Kraft getretenen EU-Vogelschutzrichtlinie in Anhang 1 als besonders schützenswert gelistet (in einer ersten französischen Fassung wurde sie „vergessen“) und verzeichnet anhaltende Bestandseinbußen.
Frankreich hatte immer wieder auf – unter bestimmten Bedingungen erlaubte – Ausnahmeregelungen bestanden und die Ortolanverfolgung entweder explizit zugelassen oder zumindest toleriert. Vor allem argumentierten die Jagd-Befürworter zur Rechtfertigung, die in Frankreich gefangenen und getöteten Ortolane entstammten stabilen und individuenreichen Populationen aus ganz Europa. Die Tötung von 30.000 Vögeln sei deshalb für den Gesamtbestand zu vernachlässigen. Die Bestandsentwicklungen des Ortolans sprechen seit langem eine andere Sprache.
Europaweit verzeichnet die Art seit Jahrzehnten den stärksten Bestandseinbruch unter allen Singvogelarten mit einem Minus von 88 Prozent seit 1980. In Deutschland gibt es der ADEBAR-Kartierung zufolge 10.000 bis 16.500 Reviere mit Schwerpunkt in Nordostdeutschland. Wie in Deutschland („gefährdet“) ist der Ortolan auch auf den Roten Listen zahlreicher anderer europäischer Länder gelistet, auch in Frankreich. Dort ist er erst seit 1999 endlich auch besonders geschützt.
Weil vor allem die Verantwortlichen im Departement Landes in Südwestfrankreich den Ortolanfang lang ignoriert haben, verklagte die EU-Kommission Frankreich schließlich 2016 wegen Nichteinhaltung der Vogelschutzrichtlinie vor dem Europäischen Gerichtshof. Parallel verstärkten Vogelschutzorganisationen wie das Komitee gegen den Vogelmord (CABS) und der französische Birdlife-Partner Ligue pour la protection des oiseaux (LPO) ihre langjährigen Vorort-Initiativen und Kampagnen gegen den Ortolanfang und setzten so die Zentralregierung wie die örtlichen Präfekturen weiter unter Druck.
Die Vogelschützer demontierten Fanganlagen, befreiten öffentlichkeitswirksam gefangene Ortolane und wiesen unablässig auf die skandalösen Verstöße gegen geltendes EU-Recht in Frankreich hin. Auch aus anderen Ländern gab es immer wieder Proteste gegen den Ortolanfang, der auch lokale Artenhilfsprogramme, wie es sie beispielsweise in Bayern gibt, sabotierte.
2017 nahm mit dem neuen Umweltminister Nicolas Hulot, der sich vor seiner (inzwischen wieder beendeten) politischen Karriere einen Namen als Umweltschützer gemacht hatte, endlich auch die Zentralregierung das Thema ernst. Sie verfolgte nun auch gegenüber den mächtigen Provinzverwaltungen eine harte Linie und bestand auf der Durchsetzung des Fangverbots. „Die Praxis des Ortolanfangs muss beendet werden. Sie stellt eine ernste Gefahr für das Überleben der Art dar, denn sie kommt zu einer Gefährdung durch Klimawandel und Urbanisierung hinzu“, begründete Hulot sein Durchgreifen.
Ohne den jahrelangen aktiven Kampf gegen die Vogelfänger und ihre Anlagen und die damit einhergehende Schaffung von öffentlicher Aufmerksamkeit für diese rechtswidrige Praxis wäre ein solches politisches Umsteuern undenkbar. Inzwischen sehen sowohl das CABS wie auch die LPO den Ortolanfang als – zumindest derzeit – unter Kontrolle. Auch die Europäische Kommission hat ihre Klage gegen Frankreich mittlerweile zurückgezogen.
Vogelschützer: Ortolanfang jetzt nur noch marginal
LPO-Generaldirektor Yves Verilhac bilanziert: „Dank unserer Interventionen und des massiven öffentlichen Protests ist der Ortolanfang gegenwärtig marginal.“ Zudem sei es gelungen, abschreckende Gerichtsurteile gegen Ortolan-Wilderer zu erwirken. „Alle der illegalen Verfolgung überführten Jäger sind mittlerweile verurteilt worden“, sagt der LPO-Generalsekretär.
Auch Alexander Heydt vom Komitee gegen den Vogelmord bestätigt eine erhebliche Verbesserung der Situation. „Wir haben erreicht, dass heute weniger als zehn Prozent der einstigen Fänger und Fangplätze aktiv sind“, bilanziert er den langjährigen Kampf für den Ortolan. „Haben wir zum Höhepunkt des Ortolanfangs noch vor einigen Jahren annähernd 400 Fangstellen gefunden, waren es bei unseren letzten Kontrollflügen im vergangenen Jahr nur noch zwei.“ In der Herbstsaison 2019 gab es örtlichen Vogelschützern zufolge keine nachweisbaren Aktivitäten der Ortolan-Jäger in Frankreich. Dieser Erfolg kommt sicher auch deshalb zustande, weil die Jagdverbände mittlerweile den Schutz der Art mittragen.
Allerdings, warnt Heydt, sei die Tradition des Ortolanfangs in Frankreich nicht gebrochen. „Es scheint eher, als seien die Aktivitäten ausgesetzt.“ Daher werde es wichtig sein, auch in den kommenden Jahren ein wachsames Auge auf das künftige Verhalten der Vogelfänger zu haben.
Eine mögliche Erklärung für die Zurückhaltung der Ortolanfänger könnte der Versuch der Vogeljäger sein, bei der Zentralregierung in Paris grünes Licht dafür zu bekommen, mit den Ortolanfallen andere Finkenvögel fangen zu dürfen.
Wissenschaftler stützten Verbotsentscheidung
Einen wichtigen Beitrag zum Ortolanschutz hat auch die ornithologische Forschung geleistet. Die kürzlich veröffentlichte Studie eines internationalen Forscherteams widerlegt zum einen die Argumentation, die Jagd in Frankreich habe keine Auswirkungen auf Populationen in der Europäischen Union und zeigt zudem, wie dringend ein umgehender Stopp der Ortolan-Verfolgung ist.
Die Wissenschaftler um Frederic Jiguet vom Pariser Naturkundemuseum waren vom französischen Umweltministerium schon 2012 beauftragt worden, Bestand und Herkunft der durch Frankreich ziehenden Ortolane zu erkunden und somit eine wissenschaftliche Grundlage für die Auslegung der Vogelschutzrichtlinie mit Blick auf die geschützte Art zu liefern. Ihre vor kurzem im Fachblatt Science Advances veröffentlichte Analyse zeigt zum einen, wie wichtig wissenschaftliche Erkenntnisse für den konkreten Artenschutz sind und zum anderen, dass die Durchsetzung des Ortolanfangverbots in Frankreich quasi in letzter Minute kam.
Viele gefangene Ortolane stammten aus Deutschland
Um Herkunft und Zugstrategie der europäischen Ortolane zu ermitteln, kombinierten die Forscher unterschiedliche wissenschaftliche Methoden: Sie werteten die Daten aus, die mit Lichtloggern besenderte Vögel lieferten, sie analysierten stabile Isotope aus Federn und nutzten DNA-Analysemethoden.
Das Ergebnis stützt die These, dass ein wirksam durchgesetztes Verbot der Verfolgung in Frankreich dringend nötig war, um einige Populationen vom Aussterben zu bewahren. Von den bis zu 17 Millionen Ortolanen in ganz Europa ziehen demnach nämlich nur wenige Populationen und insgesamt nur etwa 300.000 Individuen über den Südwesten Frankreichs.
65 bis 75 Prozent dieser Vögel stammen aus den stark abnehmenden und fragmentierten Populationen Westeuropas, vor allem aus Deutschland und Polen. Die restlichen über die traditionellen Fanggebiete ziehenden rund 30 Prozent brüten vor allem in Skandinavien und in den baltischen Republiken. Alle diese durch Frankreich ziehenden Ortolan-Populationen schrumpfen deutlich stärker als diejenigen des Mittelmeergebiets und aus Osteuropa, die einen anderen Zugweg einschlagen: Die „Frankreich-Zieher“ verzeichnen seit Beginn der 2000er-Jahre Verluste um weitere 30 Prozent, während der Rückgang im restlichen Europa in diesem Zeitraum zwischen 10 und 20 Prozent betrug.
Die Entnahme in einer Größenordnung wie Frankreich mit bis zu 30.000 Vögeln sei damit nicht als nachhaltig zu rechtfertigen, stellen die Forscher fest. „Wir schätzen, dass diese Entnahme in Frankreich, und vielleicht auch anderswo im Mittelmeerraum, die Erklärung für einen großen Anteil des langfristig dramatischen Rückgangs – minus 80 Prozent in Westeuropa – der Ortolane ist“, sagt der an der Untersuchung beteiligte Ökologe Raphaël Arlettaz von der Universität Bern. Fazit der Forscher nach vierjähriger Untersuchung: „Unser Ergebnisse liefern eine ausreichende wissenschaftliche Grundlage zur Rechtfertigung des Ortolanfangverbots in Frankreich.“ Der immer wieder vorgetragenen Forderung nach Genehmigung einer „nachhaltigen“ kulinarischen Nutzung der durchziehenden Ortolane ist damit die sachliche Grundlage entzogen.
Verfolgung gefährdeter Arten auch in der EU geht weiter
Dass für den Ortolan eine wichtige Gefährdungsursache entschärft werden konnte, ist ein Erfolg für den Vogelschutz in der EU. Für andere Arten, die trotz stark abnehmender Bestände in der Europäischen Union weiter legal bejagt werden dürfen, steht dies noch aus. Ein Beispiel ist die Turteltaube. Der „Vogel des Jahres“ 2020 darf trotz eines Bestandseinbruchs um mehr als 80 Prozent in den letzten 40 Jahren in zehn Ländern der EU – darunter Frankreich – legal geschossen werden.
Einer CABS-Analyse zufolge fallen europaweit in jedem Jahr mehr als 1,5 Millionen Turteltauben der legalen Jagd zum Opfer. In den Jahren 1980 bis 2013 wurden der Analyse zufolge mehr als 100 Millionen Individuen legal in der EU geschossen. Im selben Zeitraum nahm der europäische Turteltauben-Bestand um fast 80 Prozent ab. Selbst wenn man berücksichtigt, dass ein großer Teil der geschossenen Vögel nicht innerhalb der EU sondern in Russland und Osteuropa brütet, liegt ein Zusammenhang zwischen den hohen Abschusszahlen und Bestandsrückgängen auf der Hand.
Laut EU-Vogelschutzrichtlinie sind die Mitgliedstaaten aber verpflichtet, den bei ihnen brütenden Vögeln einen guten Erhaltungszustand zu gewährleisten. Mit Blick auf die Jagd heißt es in Artikel 7: „Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die Jagd auf diese (die jagdbaren) Vogelarten die Anstrengungen, die in ihrem Verbreitungsgebiet zu ihrer Erhaltung unternommen werden, nicht zunichte macht.“ Dieses Versprechen kann für ungeachtet ihres schlechten Erhaltungszustandes weiter jagdbare Arten wie Feldlerche, Kiebitz, Waldschnepfe oder Bekassine wohl nur eingelöst werden, wenn es innerhalb der EU einen Verfolgungsstopp gibt.