Wenn die Uhu-Attrappe dreimal flattert
Erschrecken? Umsiedeln? Erschießen? Die Berner rätseln, was sie mit ihren Saatkrähen machen sollen.
12. April 2017
Wiederkehrende Ereignisse wie Geburtstage, Weihnachten oder Schulbeginn vermitteln Halt im Strom des Alltags. In einigen Schweizer Städten gibt es seit einigen Jahren ein neues solches Ritual: die Aufregung über Saatkrähen. Spätestens ab März, wenn die Saatkrähen in den Bäumen mit dem Nestbau beginnen, schwillt die Diskussion an: Was tun gegen die Saatkrähen, die mit ihrem Gekrächze, ihrem Singen und ihren Bettelrufen die Berner am frühen Morgen aus dem Schlaf reißen und am Feierabend nicht zur Ruhe kommen lassen? Wie vertreibt man die sozialen Rabenvögel, die in Kolonien nisten und ihren weißen Kot auf Gehwegen, Tischen, Sitzgelegenheiten und – am schlimmsten – auf Autos hinterlassen? Nicht lange dauert es jeweils, bis die ersten Medienberichte erscheinen. „Rabenschwarze Plage“, „Vögel des Anstoßes“, „Kräheninvasion“ lauten die Schlagzeilen. Im Juni, wenn die Saatkrähen ihre Brutkolonien wieder verlassen, ebbt die Diskussion ab, um im nächsten Jahr von neuem anzuheben.
Zu den Saatkrähen-Hotspots in der Schweiz gehört die Hauptstadt Bern. Dort ist Sabine Tschäppeler nicht ganz unschuldig an der Krähen-Debatte – und zwar von Amtes wegen. Tschäppeler ist die Leiterin der Fachstelle Natur und Ökologie der Berner Stadtverwaltung. Auch wenn sich in der Schweiz eigentlich die Kantone um Wildvögel wie die Saatkrähen kümmern müssen, so hat die Stadt Bern die Aufgabe übernommen, vor Ort zwischen Mensch und Vogel zu vermitteln. Und dies tut Tschäppeler nicht nur während der Brutsaison, wenn die Saatkrähen besonders aktiv sind und sich rund ein bis zwei Dutzend Bewohner direkt bei Tschäppeler über die Krähen beklagen, sondern bereits einige Wochen vor der Saison. An einer öffentlichen Informationsveranstaltung bringt sie die Bevölkerung auf den neuesten Stand in Sachen „Berner Saatkrähen“.
Am Anfang freuten sich die Berner noch über die „Zierde“
Dieses Jahr konnte sie zwei Botschaften überbringen: Die Saatkrähen fühlen sich in Bern offensichtlich pudelwohl und breiten sich weiter aus. Und eine Möglichkeit, sich die Saatkrähen zumindest in einem gewissen Perimeter vom Leibe zu halten, hat sich bewährt. Nach Jahren des vergeblichen Bemühens, die Rabenvögel zu vergrämen, ist eine Lösung gefunden worden, den Vögeln Angst einzujagen und sie davon abzuhalten, ihre Nester auf einem bestimmten Baum zu bauen. Ein hoch oben in den Ästen angebrachter Uhu aus Kunststoff, dessen Flügel per Seilzug betätigt werden, hält die Saatkrähen auf Distanz. Der Uhu mit einer Flügelspannweite von über eineinhalb Metern gehört zu den natürlichen Feinden der Saatkrähen. Mit der Uhu-Attrappe ist nun der vorläufige Höhepunkt im langjährigen Kampf der Stadt Bern gegen die Saatkrähen erreicht.
Angefangen hatte alles vor etwas über 50 Jahren. Ab 1963 begannen die Saatkrähen die Schweiz zu besiedeln und breiteten sich nach und nach vor allem in der westlichen Landeshälfte aus. Die Schweiz gehört zum südlichen Rand des europäischen Saatkrähen-Verbreitungsgebiets, dessen Population derzeit 10 bis 18 Millionen Brutpaare zählt. 1988 gelangten die ersten Saatkrähen nach Bern. Das wurde durchaus freudig zur Kenntnis genommen, zumal gleichzeitig auch wieder Kolkraben und Dohlen in der Stadt an der Aare auftauchten. Die Saatkrähen-Nester „zierten“ die Platanen in einem kleinen Stadtpark, vermerkte die lokale Presse. Heute ist im Zusammenhang mit den Saatkrähen von Zierde kaum mehr die Rede. Innert kurzer Zeit eroberten die Vögel Bern. In der vergangenen Brutperiode zählte man bereits 1.045 Saatkrähen-Brutpaare in der Stadt. Solange genügend Nahrung vorhanden sei, werde das Wachstum weitergehen, sagt Tschäppeler.
Saatkrähen werden oft mit den viel häufiger vorkommenden Rabenkrähen verwechselt – zu unterscheiden sind die beiden Arten am Schnabelgrund, der bei der Saatkrähe unbefiedert ist. Die Vögel finden ihr Futter nicht in der Stadt, sondern auf dem Land. Tagsüber schwärmen die Allesfresser – auf deren Speiseplan Saatgut, Getreidekeimlinge und Insekten stehen – mehrere Kilometer aus und kehren abends wieder zurück zu ihren Kolonien. Die Saatkrähe, ursprünglich ein Steppenvogel, ist in der Schweiz nicht nur wieder heimisch, sondern auch zu einem Siedlungsbrutvogel geworden: 60 Prozent des Bestandes von schweizweit insgesamt rund 7.000 Brutpaaren zieht ihre Nachkommen in urbanisierten Gebieten auf; große Kolonien gibt es neben Bern etwa auch in Basel und Genf. Im industriell bereinigten Kulturland fehlen geeignete Brutplätze, und so zieht es die Saatkrähen zunehmend zu den Menschen. Zu den brütenden Saatkrähen kommen jeweils Tausende hinzu, die in der Schweiz den Winter verbringen. Einige dieser Wintergäste gefällt es hier so gut, dass sie bleiben. Was immer man also auch unternimmt, um den Bestand der Saatkrähen in der Schweiz zu verringern: An Nachschub aus dem Ausland wird es nicht fehlen.
Und was tat man nicht alles, um die Saatkrähen zu vergrämen. Man zerstörte die Nester, man deckte diese mit Plexiglaskegeln ab, man passte den Baumschnitt so an, dass der Nestbau schwieriger wurde, auf potenziellen Landeflächen der Vögel brachte man rutschige Plexiglasplatten an, man richtete Laser und Scheinwerfer auf die Saatkrähen und versuchte, deren Laune mit Klappern zu verderben. Nichts hat genützt – oder wenn doch, dann nur für kurze Zeit. Meistens bauten die Saatkrähen ihre Nester wieder auf, zogen auf andere Bäume um oder gewöhnten sich bald an die menschlichen Störungen. Die Plexiglaskegel, die den Einzug in die Nester verhindern sollten, nutzten die Krähen teilweise als Regenschutz, nachdem sie Löcher in die Nester gemacht hatten und durch diese hineingeschlüpft waren. Clever, diese Saatkrähen.
Waffenbesitzer trauen sich nicht, mitten in der Stadt zu ballern
Härtere Maßnahmen wurden ergriffen. Der rabiateste Schritt war die Aufhebung des Schutzstatus. In der Schweiz strich man die Saatkrähe vor sieben Jahren von der Roten Liste der gefährdeten Arten, und seit 2012 ist sie – anders als im benachbarten Deutschland – jagdbar. Nur vom 16. Februar bis zum 31. Juli gilt Schonzeit. Bis Ende 2015 wurden laut Jagdstatistik 161 Saatkrähen erlegt. Zum Vergleich: Allein im Jahr 2015 wurden 8.075 Rabenkrähen geschossen. Doch den von Saatkrähen geplagten Städtern nützt die Jagd nichts. Ein zunehmender Jagddruck auf dem Land könnte die Saatkrähen möglicherweise gar noch stärker in die Städte treiben. Dort ist es viel zu riskant, auf Krähen zu schießen, bringt man damit doch auch Menschen in Gefahr. Die Beizjagd ist ebenfalls nicht durchführbar. Kein Falkner setzt seinen Greifvogel städtischen Gefahren aus: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein abgerichteter Falke mit einer erbeuteten Saatkrähe unter die Räder eines Autos gerät, ist viel zu hoch. Zwar darf man gemäß Berner Jagdrecht zur Selbsthilfe – sprich: zur Waffe – greifen, wenn eine Saatkrähe auf einem Baum nistet, der einem gehört, und Schäden an der privaten Liegenschaft anrichtet. Doch kann man im Fall von Gekrächze und Kotspuren von „Schaden“ sprechen? Die Schweizer Vogelwarte und der Vogelschutz finden Nein. Und auch der Präsident des Berner Jagdverbandes rät dringend davon ab, selbst zur Waffe zu greifen, um dem Problem Herr zu werden.
Die meisten Saatkrähen brüten in Bern ohnehin nicht auf privaten, sondern auf städtischen Bäumen. Und davon gibt es viele, ja sehr viele in der Stadt mit etwas über 140.000 Einwohnern. Bern ist eine grüne Stadt. Der Baumflächenanteil beträgt 15,5 Prozent, das ist mehr als doppelt so viel wie die anderen Schweizer Städte im Schnitt aufweisen. 21.000 Bäume sind im Kataster der Stadt Bern verzeichnet. Den zweitgrößten Anteil am Baumbestand hat nach dem Spitz-Ahorn die Platane. Und da beginnt ein weiteres Problem – für die Menschen: Denn wenn die Saatkrähen etwas mögen, dann sind es Platanen.
Im 19. Jahrhundert pflanzten die Berner Platanen in Parks und legten prächtige Platanen-Alleen an, die heute unter Schutz stehen. Die nicht-einheimische Baumart ist schnellwüchsig, sehr trockenresistent, sie spendet im Sommer kühlen Schatten und ist prächtig anzusehen. Bern liebt seine Platanen, sie geben der Stadt ihr Gepräge, hier gibt es einen Platanenweg und einen Platanenhof. Die Platane ist ein idealer Straßen- und Stadtbaum. Und ein idealer Baum für Saatkrähen, um Nester darin zu bauen.
Die größte Berner Saatkrähen-Kolonie findet sich typischerweise in einer Platanen-Allee. Von weitem muten die dunklen Flecken in den Bäumen wie Hexenbesen an. Doch bald sieht man Krähen mit Ästen im Schnabel anfliegen: Sie bauen ihre Nester aus. Und man hört die durchdringenden Stimmen der Vögel. Das betreffende Gebiet im Norden der Stadt ist alles andere als idyllisch, hier stehen Wohnblocks, Geschäftshäuser, Tankstellen, hier befindet sich ein großes Fußballstadion, in dem die Schweizer Nationalmannschaft spielt, es gibt viel Verkehr und Lärm. Die Saatkrähen scheint dies nicht im Geringsten zu stören. Der Verkehr ist deutlich lauter als die Rufe der Saatkrähen. Entsprechende Messungen unternahmen Zoologen der Universität Bern, um den Bewohnern aufzuzeigen, dass das Gekrächze der Saatkrähen vergleichsweise nicht so arg laut ist. Auf viel Verständnis stieß diese Argumentation allerdings nicht, denn die Saatkrähen hört man dann besonders gut, wenn der Verkehrslärm eher gering ist: am frühen Morgen und am Abend. Als besonders lästig werden die fordernden Bettellaute der Jungvögel empfunden.
Auch wenn Saatkrähen Platanen besonders lieben: Sie brüten auch auf anderen Baumarten, etwa auf Birken, Ahornen oder Buchen. Je nach Baumart passen die Saatkrähen ihren Nestbau an. Tschäppeler spricht von verschiedenen „Kulturen“: Eine Saatkrähe, die auf einer Platane beziehungsweise einer Birke großgezogen wurde, wird ihr Nest später wiederum auf einer Platane oder eben einer Birke bauen. Diese Verhaltensweise zu verstehen ist wichtig, wenn man die schonendste Methode ins Auge fasst, die Saatkrähen loszuwerden: die Umsiedlung.
Vielleicht sollte man sich an den klugen Vögeln doch einfach erfreuen?
Das hört sich einfacher an, als es ist. Krähen sind wählerisch, sie lassen sich nicht beliebig verpflanzen. Man muss wissen, wie sie ticken, damit die Umsiedlung von Erfolg gekrönt ist. Der niederländische Verhaltensbiologe Diederik van Liere ist ein Krähen-Versteher und Spezialist für Saatkrähen-Umsiedlungen. Auch in Bern hat man seinen Rat gesucht. Van Liere hinterließ folgende Erkenntnis: Damit eine Umsiedlung Chance auf Gelingen hat, muss man neben der jeweiligen „Kultur“ der Krähen auch deren Flugweg zum Futterplatz beachten. Die neue Kolonie muss also nicht nur auf derselben Baumart angelegt werden wie die Ursprungskolonie. Sie muss auch zwischen der alten Kolonie und den bevorzugten Futterplätzen im landwirtschaftlichen Gebiet zu liegen kommen. Zudem sollte die neue Kolonie selbstverständlich dort eingerichtet werden, wo sie möglichst wenige Menschen stört. Einen solchen Ort in der dichtbesiedelten Schweiz zu finden, ist allerdings nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.
Daher die Uhu-Attrappen: Neun Stück wurden letztes Jahr in Bern auf Äste geschraubt. Die Stadt übernimmt die Kosten von 1.100 Franken für das Aufstellen und Entfernen der Kunstvögel. Betreuen müssen die Anwohner, die einen solchen Kunststoff-Uhu wollen, selber. Damit sich die Saatkrähen nicht an den Uhu gewöhnen und verstehen, dass davon keinerlei Gefahr ausgeht, müssen die Flügel immer wieder per Seilzug zum Flattern gebracht werden. Man könne sich keine zu lange Pause, etwa über ein Wochenende, erlauben, sagt Tschäppeler, sonst sei der abschreckende Effekt verflogen. Wer es bequemer haben will, behilft sich mit einem Motor, der die Uhuflügel antreibt.
Bisher lässt sich das Resultat sehen. Im Umkreis von rund 30 Metern um die Kunst-Uhus herum bauen die Saatkrähen keine Nester. Allerdings ist wohl auch diese Maßnahme nur befristet tauglich. Irgendwann werden die klugen Saatkrähen den Trick und die Harmlosigkeit der Uhus durchschaut haben. Und in der Tat: In einer Platane an einer Wohnstraße baut gerade eine Saatkrähe ihr Nest nur wenige Meter entfernt vom im selben Baum angebrachten Uhu. Entweder ist diese Krähe besonders mutig oder sie lässt sich nicht mehr täuschen.
Was kommt nach der Uhu-Attrappe? Tschäppeler zuckt etwas ratlos mit den Schultern. In einem Vorort von Bern mache man gerade gute Erfahrungen mit einem Falkner, sagt sie. Dieser führt seinen Wander- und Sakerfalken auf dem Arm an den Kolonien entlang zum Spazieren, was für beträchtliche Unruhe unter den Saatkrähen sorgt. Der natürliche Feind ist also noch immer das beste Mittel der Vergrämung. Wilde Wanderfalken, die über Bern ihre Runden drehen, würden das Saatkrähen-Problem möglicherweise lindern. Doch derzeit brüten in der Schweizer Hauptstadt keine Wanderfalken. Das jährliche Ritual, sich über die Saatkrähen aufzuregen, wird so rasch also nicht verschwinden. Den Bernern bleibt nichts anderes übrig, als sich mit den Saatkrähen und ihrem lautfreudigen Verhalten abzufinden – und sich im Idealfall ab und zu an den gescheiten Vögeln zu erfreuen.
Markus Hofmann, Vogelbeobachter mit Schweizer Feldornithologie-Diplom, hat als Redakteur der Neuen Züricher Zeitung über Umwelt- und Klimapolitik berichtet und arbeitet seit 2016 beim Schweizer Radio SRF. @m_hof
Text und Faktenprüfung Markus Hofmann, Redaktion Christian Schwägerl