Ihr Traumjob: Knochenbrecher zählen
Die Ornithologin Franziska Lörcher freut sich über eine Rekordzahl junger Bartgeier in den Alpen.
Tiefe Spuren im feuchten Boden verraten, dass hier vor kurzem noch Kühe die Abhänge abgegrast haben. Doch nun haben die Tiere die Alp verlassen. Die Hütte der Malanseralp auf 1833 Meter über dem Meer ist verriegelt und wartet auf den Winter, der sich in der Nacht zuvor bereits angekündigt hat. Es liegen ein paar Zentimeter Schnee, die Berggipfel rundum sind weiss. Nur einige Wanderer verirren sich derzeit ins einsame Calfeisental, das in der Nähe des Schweizer Kurorts Bad Ragaz liegt.
An diesem Samstag Anfang Oktober hat aber auch Franziska Lörcher den langen Anfahrtsweg über Stock und Stein hinter sich gebracht. Um 9 Uhr in der Früh klemmt die Biologin und Geier-Spezialistin vor der Alphütte ihr Beobachtungsfernrohr aufs Stativ und blickt in Richtung Westen, wo der 3000 Meter hohe Piz Sardona das Calfeisental verschliesst. Lörcher wartet auf den Auftritt des grössten Vogels der Alpen: den Bartgeier.
Vom 7. bis 15. Oktober finden die internationalen Bartgeier-Beobachtungstage statt. Im ganzen Alpenraum sind Ornithologen und Wanderer aufgerufen, nach Bartgeiern Ausschau zu halten und ihre Beobachtungen auf den einschlägigen Internetseiten zu melden. Anhand der Daten soll der Bestand der Bartgeier ermittelt werden. Mehrere Hundert Beobachter nähmen in den Alpen an der Aktion teil, sagt Lörcher, die für die Schweizer Stiftung „Pro Bartgeier“ sowie die „Vulture Conservation Foundation“ arbeitet und die Beobachtungstage mitkoordiniert.
Zum Glück hat sich der Nebel bereits verzogen, die Sicht im Tal ist perfekt, ideales Flugwetter für die Bartgeier also. Tatsächlich dauert es lediglich eine halbe Stunde, bis verdächtige schwarze Schatten vor der schneeweissen Felswand vorbeiziehen. Der Blick durch Fernglas und Spektiv bestätigt die Vermutung: Drei Greifvögel schrauben sich, die Thermodynamik nutzend, in die Höhe; es sind zwei Bartgeier – die unterschiedliche Gefiederfärbung lässt auf einen Jung- und einen Altvogel schliessen –, sowie ein Steinadler, dessen weisse Flecken auf den Unterflügeln sein noch jugendliches Alter verraten. Die Drei werden Lörcher den ganzen Tag begleiten, mal verschwinden sie hinter einer Bergflanke, mal jagt der ältere Bartgeier dem Steinadler hinterher, mal sitzen die beiden Bartgeier auf einem Felsen und lassen ihr Gefieder von der Sonne bescheinen, mal begleitet ein aufsässiger Kolkrabe das Trio, und ein andermal hockt der junge Bartgeier am Boden und reisst Fleischstücke von einem Knochen, den er zwischen den Krallen hält.
Wie die anderen Ornithologen, die heute in den Bergen unterwegs sind, protokolliert Franziska Lörcher Zeit, Dauer und Ort der Bartgeier-Beobachtungen. Der Vergleich aller Daten ermöglicht eine Schätzung des aktuellen Bestandes. Rund 250 Tiere beträgt er gemäss letzter Erhebung. Das ist beachtlich. Denn vor etwas mehr als 30 Jahren waren Bartgeier im Alpenraum nur mehr in den Zoos anzutreffen. Sie waren ausgerottet worden. 1913 wurde im Aostatal das letzte Tier geschossen. Der Bartgeier, damals auch Lämmergeier genannt, litt unter einem schlechten Ruf. Zu Unrecht war er verdächtigt worden, Nutztiere zu schlagen und gar Kleinkinder zu entführen. Er wurde verfolgt und getötet. Zudem machte ihm der damalige Mangel an wilden Huftieren zu schaffen. Denn der Bartgeier ernährt sich nur von Aas; verendete Murmeltiere und Gämsen stehen weit oben auf seinem Speiseplan. Spezialisiert hat er sich auf die Knochen, die er zu verdauen vermag. Aus bis zu 80 Meter Höhe lässt sie der Bartgeier im Flug auf steinigen Grund fallen, damit sie in schnabelgerechte Stücke zersplittern.
Dank intensiver Aufklärungsarbeit und einem internationalen Auswilderungsprojekt, das 1986 startete, ist es gelungen, den Ruf des Bartgeiers zu rehabilitieren. Heute gilt der grösste Alpenvogel mit einer Spannweite von bis zu 2,90 Metern und einem Gewicht von fünf bis sieben Kilogramm als der Star der Berge. In den vergangenen 30 Jahren wurden in Österreich, Frankreich, Italien und der Schweiz über 200 Bartgeier, die zuvor in Zoos aufgezogen worden waren, ausgewildert. Seit 20 Jahren kommt es auch wieder zu Wildbruten. Dieses Jahr konnte gar ein Rekord verzeichnet werden. 30 in der Wildnis geschlüpfte Bartgeier sind ausgeflogen, so viele wie nie zuvor in einem Jahr: 13 in der Schweiz, je acht in Italien und Frankreich, und ein junger Bartgeier stammt aus Österreich. Vielleicht erhöht sich die Zahl sogar auf 31: Ein Bartgeier fiel diesen Sommer im Wallis aus dem Horst und verletzte sich vor seinem ersten Flug. Franziska Lörcher bringt ihn in diesen Tagen ins wärmere Frankreich, wo er ausgewildert und hoffentlich bald erste erfolgreiche Flugversuche unternehmen wird.
Der junge Bartgeier, der heute im Calfeisental seine Runden dreht, hat die ersten Lebensjahre überstanden. 2014 wilderte Franziska Lörcher das männliche Tier hier aus. Es trägt den Namen Noel-Leya (die Namen werden von Sponsoren vergeben und müssen nicht mit dem Geschlecht der Tiere übereinstimmen). Auf dem Rücken von Noel-Leya erkennt man einen mit Solarstrom betriebenen Satelittensender, der es ermöglicht, seinen Aufenthaltsort zu eruieren und im Internet nachzuverfolgen. Bei den Jungtieren werden jeweils auch einige Federn gebleicht, damit man sie, zumindest bis zur ersten Mauser, im Flug identifizieren kann. Da zudem von den ausgewilderten Bartgeiern genetische Fingerabdrücke erstellt werden, dienen auch Federfunde dem Monitoring der Bartgeier. Und selbstverständlich tragen die Bartgeier zur Identifikation Farbringe an den Beinen.
Im Februar 2014 war Noel-Leya im Schweizer Tierpark geschlüpft, um knapp vier Monate später in einem von Menschenhand gebauten Horst ausgesetzt zu werden. „Wir wildern die Bartgeier zwei bis drei Wochen vor deren Flugfähigkeit aus“, sagt Lörcher. Bis die Bartgeier fliegen und selbständig nach Futter suchen können, werden die Jungtiere von den Betreuern gefüttert, die sich als einzige dem Horst nähern dürfen: „In dieser Zeit, in der man die Vögel fast rund um die Uhr beobachtet und sich um sie kümmert, wachsen sie einem ans Herz.“ Bartgeier faszinieren Lörcher seit ihrer Jugend. Bereits ihre Maturaarbeit verfasste sie über die Bartgeier. Im Biologiestudium schlug ihr Professor vor, die Masterarbeit über invasive Schnecken zu schreiben. Lörcher wechselte kurzerhand die Universität und erforschte die genetische Diversität der Bartgeierpopulation im Alpenraum.
Lörchers Fazit: Noch ist die genetische Diversität zu klein, damit sich die Population in den Alpen selbständig erhalten könnte. Das Wiederansiedlungsprojekt muss weitergeführt werden. „Schön wäre es, wenn es zu einem Austausch der verschiedenen europäischen Populationen kommen würde: Aber leider ist, soweit wir wissen, bisher kein Bartgeier von den Pyrenäen hierher geflogen“, sagt Lörcher. Lange Strecken zu überwinden, ist für Bartgeier grundsätzlich kein Problem. Insbesondere junge Bartgeier aus den Alpen unternehmen manchmal weite Wanderungen, allerdings in die falsche Richtung: nach Norddeutschland, Belgien, Dänemark oder gar bis nach Norwegen. Werden sie dort, meist erschöpft und hungernd, aufgegriffen, werden sie wieder in die Alpen zurückgebracht.
Beim zweiten Bartgeier, der an diesem Tag im Calfeisental zu beobachten ist, könnte es sich um Sardona handeln. Die genaue Bestimmung wird erst anhand der Belegfotos möglich sein, denn Sardona trägt keinen Satellitensender mehr. Das Männchen Sardona ist 2010 geboren und ebenfalls im Calfeisental ausgewildert worden. Im Gegensatz zum jungen Noel-Laya, der noch ziemlich dunkel gefärbt ist, zeigt Sardona die typischen Kennzeichen eines Altvogels: einen hellen Kopf mit schwarzem Augenstreif sowie eine hellrote Körperunterseite. Die rote Farbe stammt vom Suhlen in eisenoxidhaltigem Wasser. Wieso Bartgeier sich rot färben, ist ungeklärt. Möglicherweise dient das Verhalten dazu, den Status eines Individuums zu markieren: je röter die Federn, desto höher der Rang.
Auch wenn sich Franziska Lörcher über den Anblick der beiden Bartgeier freut: Noch lieber wäre ihr gewesen, im Calfeisental nicht nur zwei Männchen, sondern auch ein Paar anzutreffen. Zu einer Brut ist es in der Zentralschweiz nämlich bisher noch nicht gekommen. In der Schweiz brüten die Bartgeier derzeit in Graubünden und im Wallis. Dennoch packt Lörcher nach sechs Stunden Beobachtung zufrieden ihre optischen Geräte ein. Den Bartgeiern scheint es im Calfeisental offensichtlich gut zu gehen. Die Chancen sind intakt, dass sie den kommenden Winter überstehen und in den kommenden Jahren vielleicht eigene Junge aufziehen werden.