Naturschutz auf Agrarland: Özdemir knickt vor kurzsichtigen Argumenten der Agrarlobby ein
Noch immer hat der Bauernverband nicht verstanden, dass intakte Ökosysteme Voraussetzung der Landwirtschaft sind. Für gute Ernten trotz Hitzewellen ist mehr Naturschutz nötig, nicht weniger. Aber die Grünen geben nun dem falschen Denken nach. Ein Kommentar.
Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) will verbesserte Umweltstandards aussetzen, die eigentlich ab dem kommenden Jahr über die Gemeinsame Europäische Agrarpolitik fest vereinbart waren. Die Verpflichtung, vier Prozent der Ackerfläche dafür zu reservieren, dass sich Natur und Artenvielfalt regenerieren können, soll nicht in Kraft treten. Dasselbe gilt für die Pflicht, auf Flächen nicht zweimal hintereinander dieselben Getreidearten anzubauen, was den Boden schonen soll. Özdemir hat versichert, dass die Umweltschutzregelungen ab 2024 eingeführt werden. Geht es nur um Details der komplizierten Agrarpolitik? Mitnichten.
Vier Prozent der Agrarflächen für die lebendige Vielfalt: Özdemir hält anderes für wichtiger
Es war ein Hoffnungsschimmer inmitten der großen Artenkrise auf dem Lande. Ab dem kommenden Jahr sollten Landwirte im Zuge der gemeinsamen Agrarpolitik vier Prozent ihrer Ackerflächen nicht mehr intensiv bewirtschaften, sondern in „Artenvielfaltsflächen“ umwandeln müssen, wenn sie Geld aus dem Agrartopf haben wollen. „Stilllegungsflächen“ oder „unproduktive Flächen“ werden solche Agrarflächen im Bürokratiejargon bezeichnenderweise genannt. In Wirklichkeit sind sie alles andere als still oder unproduktiv. Dort brummt das Leben, dort wachsen andernorts als „Unkraut“ vernichtete Wildkräuter und bieten Insekten, Vögeln und anderen Tieren Nahrung. Es sind häufig die letzten Überlebensoasen inmitten der europäischen Agrarwüsten.
Özdemir gibt der Agrarlobby wider besseren Wissens nach
Vier Prozent Brachen: das war nach langem Ringen einer der ganz wenigen Fortschritte für die Agrarpolitik in den kommenden Jahren. Nach Meinung der meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind 10 Prozent nutzungsfreier Fläche die Untergrenze für eine Umkehr des Verschwindens und des Artensterbens unter den tierischen Bewohnern der Agrarlandschaft. Vier Prozent Brachen wären also bei weitem nicht genug, aber immerhin ein hoffnungsvoller Fortschritt.
Es ist nun ausgerechnet Agrarminister Cem Özdemir, der die Hoffnung auf diesen Fortschritt zerschlägt: Der Grünen-Politiker gibt der Agrarlobby nach. Allen voran der Deutsche Bauernverband verstand es, den Ukrainekrieg dafür zu nutzen, ungeliebte Umweltauflagen wieder loszuwerden. Eine bedrohliche Kulisse wurde dafür aufgebaut: Der Getreideanbau in der Ukraine leidet bekanntlich unter dem russischen Angriff ebenso wie der Export des kostenbaren Lebensmittels über das Schwarze Meer in alle Welt. Die Zeitung „Welt“ verdichtete die Argumentation des Bauernverbands zu folgender Schlagzeile: „Weizen hängt in der Ukraine fest – und Deutschland legt die Äcker still.“ Das sollte ganz bewusst so klingen, als untergrabe jetzt der Naturschutz die westliche Antwort auf die russische Aggression und den Versuch, die Welternährung zu stabilisieren.
Doch diese Argumentation ist extrem kurzsichtig. Wer in diesen Tagen durch Deutschland fährt, erlebt eine ausgemergelte, versengte Landschaft. Um wie viel besser ginge es ihr – und damit auch dem Lebensmittelanbau – wenn in den vergangenen Jahren überall Tümpel und Hecken angelegt worden wären, wie Naturschützer das seit eh und je fordern. Das könnte der beste Ernten-Booster sein.
Hecken und Feuchtgebiete würden jetzt als natürliche Kühlanlagen und Wasserspender Ernteverlusten entgegenwirken. Es ist auch Folge der Ignoranz der Agrarlobby und -politik der vergangenen Jahrzehnte, dass Hitzewellen weiter mit aller Wucht auf den Ertrag durchschlagen und die Ernte um zehn und mehr Prozent gegenüber früheren Jahren schrumpfen lassen können. Die Ignoranz gegenüber der Bedeutung von sogenannten biodiversitätsfördernden Landschaftselementen wie Hecken und Feuchtgebieten rächt sich nun bitter.
Weniger Fleisch, weniger Verschwendung, kein Lebensmittel-Sprit – es gäbe ganz andere Lösungen
Hinzu kommt, dass von den 43 Millionen Tonnen Getreide, die in jedem Jahr in Deutschland geerntet werden, nur rund 20 Prozent direkt in die Nahrungsmittelproduktion gehen. Knapp neun Prozent landen in der Treibstoff- oder Energieerzeugung und der Löwenanteil von knapp 60 Prozent – je nach Berechnungsweise sogar mehr – werden als Futtermittel vor allem zur Fleischproduktion verwendet. Und sehr viel von den Lebensmitteln, die aus Getreide entstehen, landen noch immer schnurstracks in der Mülltonne.
Bauernverband und Agrarminister hätten also auf die Unwägbarkeiten in der Welternährung in Folge des Ukrainekriegs auch ganz anders reagieren können – im Einklang mit dem Rat von Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, wie sich Klima-, Ernährungs- und Biodiversitätskrise mit Lösungen entschärfen lassen, die nicht zulasten der Natur gehen: Weniger Fleischproduktion, keine Lebensmittel als Treibstoff und ein Ende der Lebensmittelverschwendung.
Özdemirs Kehrtwende ist umso besorgniserregender, als er die Zusammenhänge eigentlich versteht. Er ist der Minister, der bisher am stärksten gegen eine Instrumentalisierung des Ukraine-Krieges zugunsten eines Abbaus von Ökoregeln eingetreten ist. Klima- und Biodiversitätskrise machten auch im Krieg keine Pause, wiederholte er ein ums andere Mal.
„Wenn Böden, Wasser, Artenvielfalt und Klima nicht geschützt werden, ruft das noch heftigere Krisen hervor – und gefährdet erst recht die Versorgungssicherheit“, argumentierte Özdemir lange Zeit gegen eine Agrarlobby an, sich nicht zu schade war, selbst einen Krieg für das Versprechen kurzfristiger Extragewinne auszuschlachten.
„Wir müssen jetzt dranbleiben und den Green Deal konsequent umsetzen – im europäischen Schulterschluss“, sagte Özdemir noch vor kurzem. Schnee von gestern. Der Grünen-Politiker, dem die EU-Agrarreform bisher nicht weit genug ging, möchte nun nicht einmal die minimalen Vorgaben einhalten. Was ihn nun dazu gebracht hat, wenn nicht bloßer Druck vom Bauernverband oder von Kanzler Scholz, wird Özdemir noch erklären müssen.
Brachen sind die Wundpflaster für das geschundene Agrarland
Der Grünen-Politiker begründet sein Einknicken öffentlich nur damit, dass angesichts des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine „jede Maßnahme zur Lösung einer Krise darauf hin überprüft werden muss, dass sie eine andere nicht verschärft“. Nach diesem Maßstab hätte weder die Regelung zur Fruchtfolge noch die zur Flächenstilllegung verschoben werden dürfen. Denn dass Getreideanbau auf marginalen Flächen die Märkte stabilisiert, ist nur eine Spekulation. Dass weiterer Verlust von Bodenfruchtbarkeit und Artenvielfalt die Klima- und Naturkrise verschärft und damit zugleich die Existenzgrundlage der Landwirtschaft beschädigt, das ist sicher.
Brachen und Fruchtfolgen – beide Maßnahmen wirken für Außenstehende vielleicht eher wie Details der Agrarpolitik. Sie sind es aber nicht, denn eine weniger intensive Nutzung der Agrarlandschaft ist der Schlüssel für eine ökologische Wende. Brachen und Vielfalt in den Fruchtfolgen sind mit die schärfsten Schwerter im Kampf gegen das große Artensterben auf dem Lande. Die bunten Brache-Inseln sind die Wundpflaster für eine geschundene Agrarlandschaft. Wechselnde Fruchtfolgen erhalten das Leben im Boden – einem Ökosystem, in dem auf einem Quadratmeter sieben Milliarden Organismen leben, genauso viel wie es Menschen auf der Erde gibt. Das klingt schon weniger nach Petitesse.
Auch wissenschaftlich begleitete Modellprojekte wie das Partidge-Rebhuhnprogramm zeigen, wie groß der ökologische Gewinn durch Brach- und Blühflächen schon auf vergleichsweise kleiner Fläche wie vier Prozent sein kann.
Beim Kampf gegen den Artenschwund darf man keine Zeit verlieren
Die Bedeutung von Brachen lässt sich auch historisch belegen. Denn es gab eine Zeit, in der die Europäische Union die Landwirte dafür bezahlt hat, Äcker nicht zu bewirtschaften: Die Zeit der sogenannten EU-Flächenstilllegungen zu Beginn der 2000er Jahre. Es war eine Blütezeit nicht nur für die bunte Pflanzenvielfalt in eintönigen Ackerlandschaften, sondern auch für viele stark dezimierte Vogelarten der Agrarlandschaft. Viele erlebten einen regelrechten Bestandsboom. Der war indes nur eine Erholung von den vorangegangenen Einbrüchen.
Mit dem Ende der „Stillegungsprämien“ für Landwirte brachen die Populationen wieder ein. Dass es bei einbrechenden Vogelbeständen um mehr als „nur“ ein paar Vögel geht, weiß auch die Bundesregierung. Sie kennt den Wert von Vögeln als untrügliche Indikatoren für den Zustand der biologischen Vielfalt insgesamt. In ihrer Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie hat sie einen „Schlüsselindikator“ festgelegt, den für „Artenvielfalt und Landschaftsqualität“. Dieser errechnet sich aus der Bestandsentwicklung von 59 ausgewählten Vogelarten der unterschiedlichen Lebensräume. Kurz gefasst: Geht es Vögeln gut, geht es der Umwelt insgesamt gut. Und umgekehrt. Mit Brachen, und seien es nur vier Prozent, geht es Vögeln und Umwelt zumindest besser.
Özdemir beteuert, mit der „Verschiebung“ der Naturschutzmaßnahmen verschlechtere sich nichts, weil bereits geschützte Brachen nicht angetastet werden. Das ist höchstens formal richtig. Denn mit seiner Entscheidung geht wertvolle Zeit verloren. Es ist wie in der Klimakrise: Jeder weitere Tag, jedes Jahr des Nichtstuns verschärft die Krise massiv. Die Agrarökosysteme und mit ihnen ungezählte Arten befinden sich nicht einem Zustand, in dem es von einem soliden Niveau aus darum geht, sich weiter zu erholen. Sie befinden sich vielfach an Kipppunkten – ganz wie beim Klima – an Endpunkten langjähriger Abwärtsentwicklungen.
Mindestens so gefährlich wie die Klimakrise
Auch die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina warnt, die ökologische Krise in der Agrarlandschaft habe ein Ausmaß erreicht, das die Funktionsfähigkeit des Ökosystems gefährde – dass dazu auch die Funktionsfähigkeit der Landwirtschaft gehört, hat der Bauernverband tragischerweise immer noch nicht kapiert. Wir wissen ebenso wie in der Klimapolitik nicht, wann Kipppunkte erreicht sind und was dann passiert. Aber wir wissen, dass die Lage dramatisch ist und nur eine Richtung kennt: nach unten. Das zeigen alle ernstzunehmenden Berichte.
Im von der EU-Kommission im Sechs-Jahres-Turnus herausgegebenen Bericht zum Zustand der Natur in Europa schneiden Agrar-Lebensräume mit am schlechtesten ab. Im nationalen deutschen Bericht ist die Situation noch verheerender. Auch die Roten Listen, national wie international, sprechen eine eindeutige Sprache: Es ist Zeit zum Handeln, nicht irgendwann, jetzt.
Nächste Bewährungsprobe: „Biosprit“
Özdemir stellt nun immerhin in Aussicht, das zusätzlich angebaute Getreide solle direkt der Ernährung dienen. „Ich schließe diesen Kompromiss für den Teller, nicht damit Getreide im Tank oder Trog landet“, erklärte er. Doch kann er das durchsetzen?
In der anstehenden Debatte über die Zukunft von sogenanntem Biosprit haben er und seine Parteifreundin Steffi Lemke Gelegenheit, wenigstens diesmal den Worten Taten folgen zu lassen. Dass die Grünen sich nun von plumpen Parolen und veraltetem Denken der Agrarlobby in die Knie zwingen lassen, ist für sie mehr als eine Blamage – es ist ein Versagen im Handeln gegen die Artenkrise. Von der sagt Frans Timmermans, der Vizechef der EU-Kommission, die den Ländern nun freie Hand bei Ausnahmen gegen Naturschutzbestimmungen gibt, sie sei für uns mindestens so gefährlich, wenn nicht sogar gefährlicher als die Klimakrise.
Im Projekt„Countdown Natur“berichten wir mit Blick auf den UN-Naturschutzgipfel über die Gefahren für die biologische Vielfalt und Lösungen zu ihrem Schutz. Die Recherchen zu diesem Beitrag wurden von der Hering Stiftung Natur und Mensch gefördert. Sie können weitere Recherchenmit einem Abonnementunterstützen.