Der planetare Notfall
Klimastreiks in Bonn, Hamburg, München und Stuttgart
Eindrücke aus Bonn: Route durch Nebenstraßen
Der Bonner Hofgarten, der ehrwürdige und traditionelle Demonstrations- und Versammlungsplatz der alten Bonner Republik, war gegen 11.30 Uhr gut gefüllt, aber nicht ganz. Als sich der Zug in Bewegung setzte, kamen immer mehr Leute hinzu. Zwischen 10 000 und 15 000 Teilnehmern liefen schätzungsweise an diesem Vormittag in die Bonner Innenstadt.
Der Demonstrationszug bewegte sich durch Nebenstraßen und Plätze der für den Autoverkehr größtenteils schon lange gesperrten Innenstadt, was dazu führte, dass viele zentrale Buslinien umgeleitet werden mussten. Der Zug war so lang, dass er durch die gesamte Stadt reichte.
Ganz anders wäre die Demonstrationsroute von der Innenstadt zum ehemaligen Regierungsviertel und heutigen UN-Campus verlaufen, wo sich das UN-Klimasekretariat befindet. Dort hätte es symbolträchtige Bilder vor dem Langen Eugen gegeben, dem Gebäude, in dem das Sekretariat heute angesiedelt ist. Aber um den Autoverkehr auf der B9 nicht beeinträchtigen, hatte man diese Route, die nur auf der allerersten Klimademo in Bonn im vergangenen Jahr genehmigt wurde, wieder nicht freigegeben. Und so versammelte sich wohl eher spontan ein kleines Grüppchen vor dem UN-Klimasekretariat, um der Klimapolitik der Bundesregierung buchstäblich die rote Karte zu zeigen. Darunter viele Mitarbeiter der dort angesiedelten UN-Sekretariate und der Deutschen Welle.
Der große Unterschied zum globalen Klimastreik im März bestand jedoch nicht nur darin, dass etwa fünfmal so viele Leute kamen, sondern dass die Schüler diesmal in der Minderheit waren. Auch organisierte Aktivisten von Extinction Rebellion, Ende Gelände oder Campact waren nur vereinzelt zu sehen. Die überwältigende Mehrheit der Schilder bestand aus kleinen, selbstgemalten und individuellen Slogans in DIN A3-Format. Während die Erwachsenen im März noch mit der Lupe in der Menge gesucht werden mussten, waren dieses Mal alle Altersgruppen vertreten: von Kindergartenkindern über Schülern und Eltern hin zu Senioren. In Bonn hat die Mobilisierung geklappt. (Christiane Schulzki-Haddouti)
Eindrücke aus Hamburg: Kritik am „Pillepalle-Feuerwerk“
Als Bosse vom ersten Kuss singt, der Erdbeerbowle und Spucke war, und später zu Tränen aus Kajal führt, da schöpfen die Autofahrer Hoffnung. Die Demonstration in Hamburg dauert nun schon mehr als zweieinhalb Stunden, das Lied des Sängers von der „Schönsten Zeit“ klingt von der einen Ecke der Binnenalster, der Kreuzung Ballindamm und Jungfernstieg über Hamburgs Gute Stube. Zumindest auf einem Balkon auf der anderen Seite kann man den Song gut hören.
Die vom Protestmarsch eingeklemmten Autofahrer stehen diagonal gegenüber, wo Esplanade und Neuer Jungfernstieg aufeinandertreffen und betrachten die vorbeiziehenden Demonstranten ungeduldig. Aber es scheint, der Zug endet bald, ein BMW nutzt eine vermeintliche Lücke, fährt über eine begrünte Verkehrsinsel, kurvt zwischen verdutzten Marschierern durch, dann den Demonstranten entgegen und entkommt nach links in eine Überführung. Andere Fahrer werden von Ordnern mit und ohne Uniform aufgehalten.
Nach Angaben der Polizei, die solche Zahlen oft eher zurückhaltend und fast immer niedriger als die Veranstalter schätzt, sind zu dem Zeitpunkt unter einem grauen Himmel in Hamburgs Innenstadt 70 000 Teilnehmer des Klimastreiks unterwegs. Bosse hat vor seinem Song mit Bezug auf die Polizei sogar von 90 000 Menschen gesprochen, und die Leute vor der Bühne jubeln laut.
Dort am Jungfernstieg hatte die Kundgebung eher als Steh-Mo begonnen, denn als Geh-Mo oder Demo – 90 Minuten nach dem offiziellen Beginn um zwölf Uhr muss der Ansager immer wieder um Geduld bitten. Man solle nicht von hinten drängeln, die Demonstranten hier vorne könnten auch noch nicht los. Der Zug sei zwar unterwegs, es dauere aber noch, bis sich alle in Bewegung setzen könnten. Wer zu dem Zeitpunkt einen Blick über die Binnenalster werfen kann, sieht in der Tat, dass gegenüber auf den Brücken Menschen mit Plakaten marschieren.
Der Klimastreik in der Hansestadt ist ein Ereignis für alle Generationen. Die ältesten Teilnehmer haben graue oder wenige Haare und weisen sich als „Opa für Enkel“ oder „Omas gegen Rechts“ aus, die jüngsten sitzen noch im Kinderwagen. Etwas Ältere sausen Geschwisterpaar-weise durch die Menge, um zum Beispiel das Programm für die kommende Aktionswoche zu verteilen, und gucken enttäuscht, wenn man nicht von beiden Kindern einen Zettel nimmt. Die Plakate erklären: „Klima ist wie Bier: Warm ist scheiße“ oder „Die Zukunft ist grün oder sie ist nicht“ oder „Wenn Ihr Kohle abbauen wollt, spielt Minecraft“ oder „Fällt Entscheidungen, keine Bäume“ oder „Wer Umweltprobleme nicht ernst nimmt, ist selber eines“. Eine junge Frau hält ein Schild mit großen roten Lettern in die Höhe: „Sex!“, steht da und dahinter etwas kleiner: „Now that I have your attention, let’s talk about the climate.“
Nachdem Bosses Song verklungen ist, gibt es übrigens für viele eine Enttäuschung. Zum einen für die Autofahrer auf der Esplanade, weil ein Lautsprecherwagen auf der Demonstrationsroute angerollt kommt, hinter dem sich eine dichte Menge versammelt hat. Wieder ist die Flucht für die Vierrad-Nutzer für mindestens eine Viertelstunde blockiert. Die Leute singen die Parolen vom Leitfahrzeug nach – es ist wie ein zweiter Protestzug, der mindestens anderthalb Stunden nach dem ersten die Kreuzung erreicht, ohne dass zwischendurch wirklich eine Lücke gewesen wäre. Der Mann am Mikrofon wiederholt die angebliche Polizeischätzung von den 90 000 Teilnehmern, was die gleiche Euphorie auslöst wie kurz zuvor am Jungfernstieg.
Dort aber, auf der Hauptbühne, verkündete eine Rednerin eine weitere Enttäuschung: die ersten Ergebnisse aus den Nachrichten. „Zehn Euro CO2-Preis, das ist kein Klimaschutz, das ist ein Pillepalle-Feuerwerk.“ So gesehen dürften die Veranstalter die Beschlüsse in Berlin als bestes Rekrutierungs-Werkzeug für die nächste Demo betrachten. (Christopher Schrader)
Über die Reaktionen auf das Maßnahmenpaket des Klimakabinetts berichtet Christopher Schrader ausführlich in einem eigenen Beitrag auf KlimaSocial.
Eindrücke aus München: Für einen Moment euphorisch
Fast hätte ich den Anfang der Demo verpasst, weil mein Zug Verspätung hatte. Wie das halt oft so ist, wenn man versucht zu einem wichtigen Termin klimabewusst anzureisen. Die erste U-Bahn muss ich ziehen lassen, weil sie bereits vollgestopft ist mit Demonstrantinnen und Demonstranten. In der Wartezeit am Bahnsteig spreche ich Stavros (22) an. Er hält ein selbstgemaltes Schild, das er in einem Kurs der Münchner Volkshochschule gemalt hat. In der U-Bahn stehe ich in einem Pulk von Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Münchner Stromspeicherherstellers VoltStorage. Man könnte sagen, eines jener Unternehmen, das an den so oft beschworenen Innovationen zum Klimaschutz arbeitet. Anscheinend sind sie mit der bisherigen Klimapolitik aber unzufrieden.
Zuhause schmeiß ich mein Gepäck in die Ecke und radle zum Königsplatz, parke inmitten von hunderten Fahrrädern. Ich tauche ein in das Meer von Schildern, Plakaten und kostümierten Menschen. Sehr weit komme ich nicht, denn der Königsplatz ist bereits voll. Also bleibe ich hier in der Menschenmasse stehen. Wenige Meter von mir entfernt quetschen sich Menschen an einem Mercedes vorbei, den der Fahrer scheinbar zurückgelassen hat in der Gewissheit, hier für Stunden kein Stück vorwärts zu kommen. Viele machen Fotos, weil die Situation geradezu grotesk symbolisch ist. Ganz ähnlich geht es dem Bus der Museumslinie, der hier nun feststeckt. Hat die Münchner Verkehrsgesellschaft den Klimastreik verschlafen?
Neben mir steht My (11), sie geht in sechste Klasse des Münchner Thomas-Mann-Gymnasiums. Die Schule war heute glücklicherweise wegen einer Lehrerkonferenz früher aus. Vermutlich habe die Schule das absichtlich so gelegt, meint ihre Mutter. Das passt zur Einschätzung von Christopher Brinkmann von der Organisation Pädagogen For Future in Berlin: Es hänge viel von der Einstellung der Schulleitung ab, berichtet er. „Kolleginnen und Kollegen haben teilweise dafür kämpfen müssen oder eine Exkursion ohne dezidierten Hinweis auf den Klimastreik angemeldet, wegen Angst vor Sanktionen.“ Aber es seien insgesamt viel mehr Schülerinnen und Schüler auf der Straße gewesen als bei früheren Demonstrationen.
Nun schwenkt My ein „Help me, there‘s no planet B“-Schild. Sie ist bei weitem nicht die jüngste hier; von sehr jung bis sehr alt sind alle Generationen vertreten. Viele sind ganz offensichtlich Demo-erfahren, einige ebenso offensichtlich nicht. Hinter uns spielt „Imagine“ von John Lennon, vor dem Tor reagiert die Menge mit tosendem Applaus auf eine Rede. Obwohl ich kein Wort verstanden habe, lässt mich die Stimmung nicht kalt. Ich war in meinem Leben schon auf vielen Demos, aber das hier fühlt sich an wie etwas Besonderes.
Irgendwann, es dauert unendlich lange, bewegt sich die Menge. Die Versammlung ist so groß, dass die Polizei kurzfristig den genehmigten Demonstrationsweg verlängert, um für mehr Platz zu sorgen. Ansonsten würden die Ersten am Königsplatz wieder eintreffen, bevor die Letzten gestartet sind. Wir schlendern durch eine der wohlhabendsten Ecken Münchens. Es wird gelacht und gesungen, Parolen werden geschrien. Zwei Mädchen umarmen einen Mann, der ärgerlich neben seinem Auto steht, weil er das Parkhaus nicht verlassen kann. Entlang der Demostrecke werden viele der geparkten SUV beklebt. Die Sticker zeigen „Nein!“, „Du stinkst“, „Du bis zu groß“ und auf einigen Markenzeichen prangt nun das Bild eines Ausscheidungsorgans. Viele lachen, andere sorgen sich, dass Empörung über diese Bilder die Lokalpresse beherrschen werden anstatt Empörung über die Klimapolitik. Apropos, in den Gesprächen auf der Strecke höre ich sehr viele inhaltliche Auseinandersetzungen zu Plastik, Pendlerpauschale und dem eigenen Verhalten.
60 000 Menschen seien in München für den Klimaschutz auf die Straße gegangen, heißt es schließlich von den Veranstaltern. Für einen Moment bin ich euphorisch. Dann stelle mein Handy wieder an, das sich bis dahin im digitalen Klimastreik befunden hatte, und sehe die ersten News zum so genannten Klimaschutzpaket der großen Koalition. (Daniela Becker)
Eindrücke aus Stuttgart: Klimaschutz ist auch gesund
Als hätte es der Demonstrant geahnt: „Eine Tonne CO2 = 180 Euro“ steht auf seinem Schild. Später wird ihn ein Musiker von der Bühne aus fragen: „Ist das der aktuelle Preis?“ Nein, es ist eine Forderung – sogar eine, die ziemlich weit geht. Noch weiter geht der zwölfjährige Quentin, der bei der Kundgebung auf dem Stuttgarter Schlossplatz in die Menge fragt: „Was ist euch wichtiger, eine funktionierende Wirtschaft oder das Leben von 7,7 Milliarden Menschen?“ Er bekommt Applaus, wenn auch nicht so viel wie Sabine Gabrysch, die demnächst in Berlin die erste Professur für Klimawandel und Gesundheit in Deutschland übernehmen wird. Sie spricht von einem planetaren Notfall und davon, dass der Mensch seine Lebensgrundlage für immer zerstört. „Halbherzige Maßnahmen reichen nicht“, ruft sie.
Rund 20 000 Menschen sind in einem Sternmarsch zum zentralen Schlossplatz gezogen. Es ist auch hier ein gemischtes Publikum, die Schülerinnen und Schüler sind nicht in der Mehrheit. Seit dem Höhepunkt der Demonstrationen gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 hat die Stadt keine so große Protestaktion mehr erlebt. Unter den Demonstranten sind auch einige mit Plakaten und Fahnen der Anti-S21-Bewegung.
Dann erklärt Sabine Gabrysch, dass saubere Luft und mehr Bewegung auf dem Rad nicht nur gut für das Klima sind, sondern auch für die Gesundheit. „Im Englischen nennt man das eine Win-Win-Situation und im Deutschen heißt das, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“ Die Leute lachen. Später tritt der baden-württembergische Landesvorsitzende des DGB, Martin Kunzmann, ans Mikrofon. Er fordert, dass man Klimaschutz und Arbeitsplätze nicht gegeneinander ausspielen dürfe. Dass er damit dem jungen Quentin widerspricht, wird an diesem Nachmittag aber nicht mehr aufgelöst.
Nach zwei Stunden ziehen kleinere Gruppen los, um friedlich einige Straßen und Kreuzungen zu besetzen. Rund um den Hauptbahnhof steht der Verkehr bis zum Abend still. Vor einem Bürogebäude der Deutschen Bank blockieren einige Dutzend Demonstranten den Eingang und skandieren: „Brecht die Macht der Banken und Konzerne!“ Die Mitarbeiter, erfährt man später, hätten das Gebäude durch einen Seiteneingang verlassen. (Alexander Mäder)