„Das, was möglich ist“?
Das Klimaschutzpaket der Bundesregierung trifft vor allem auf Kritik
Wahrscheinlich war die Kanzlerin müde. Vielleicht wusste sie auch schon, was über sie und ihre Regierung hereinbrechen würde. Sie hatte schließlich gemahnt, in der Klimapolitik müsse nun mal Schluss mit „Pillepalle“ sein. Das Wort erweist sich nun als Bumerang. Deswegen sagte sie auf der Pressekonferenz: Das Paket sei „ein Beispiel für das, was Politik ist. Das unterscheidet Politik auch von Wissenschaft und von ungeduldigen jungen Menschen. Politik ist das, was möglich ist.“ Gerade an diesem Satz hat sich danach sehr viel Kritik entzündet.
Ab sofort steht Deutschland mutlos an der Weltspitze. Jedenfalls ergibt sich dieser Eindruck, wenn man die Reaktionen auf das Klimapaket zusammenwürfelt, das die Regierung am Freitag vorgestellt hat – wenn man sozusagen aus These und Antithese eine Synthese macht. Das Land gehöre mit den beschlossenen Maßnahmen zu den wenigen Staaten auf der Welt mit einem ambitionierten Plan, erklärte zum einen Wirtschaftsminister Peter Altmaier in der ARD. Die Entscheidungen der Politiker der großen Koalition seien mutlos, lautete hingegen eine weithin geteilte Einschätzung von Wissenschaftlern, Umweltgruppen und Journalisten. Von Politikversagen war da zu lesen. Ein eher harmloser Vorwurf noch: eine vertane Chance.
Die SZ-Redakteurin Marlene Weiß zum Beispiel twitterte: "DAFÜR nutzt man dieses einmalige politische Fenster? Ogott ist das peinlich, was soll bloß der Rest der Welt von uns denken?“ Mancher dürfte sich auch heimlich gefragt haben, ob sich die Regierung mit ihren Beschlüssen dem Klimastreik anschließe, bei dem mindestens 200.000 Menschen in Sichtweite der Ministerien durch Berlin-Mitte fluteten. Streik in diesem Fall tatsächlich als Arbeitsverweigerung.
Die Beschlüsse lösten bei Experten und bei den Demonstranten, die nachmittags noch auf der Straße waren, viel Kritik aus. Einen Bericht über die Demonstrationen in Bonn, Hamburg, München und Stuttgart vom KlimaSocial-Team lesen Sie hier.
[Ergänzung am 14. Oktober: Heute haben das Mercator-Institut in Berlin und das Potsdam-Institut eine ausführliche Analyse zu den Schwachpunkten des Klimapakets vorgelegt. Außerdem hat der Zeit-Kommentator Bernd Ulrich vor wenigen Tagen Merkels Behauptung scharf zurückgewiesen, mehr Klimaschutz sei in dem Paket nicht durchzusetzen gewesen. Siehe unten.]
Was die Koalition vorstellt, hat dabei nicht nur nationale Wirkung: Bundeskanzlerin Angela Merkel reist nach dem Wochenende zum Klimagipfel der UN nach New York. Generalsekretär Antonio Guterres hatte die Regierungschefs aufgefordert, keine Rede mitzubringen, sondern einen Plan. „Die Kanzlerin fährt nun zwar nicht mit ganz leeren Händen nach New York zum UN-Klimaaktionsgipfel, aber sie hält viel Sand in den Händen, der schnell zwischen den Fingern zerrinnt“, sagt Brigitte Knopf vom Mercator-Institut für globale Gemeinschaftsaufgaben und Klimawandel in Berlin. „Das erhoffte Signal auch an die internationale Staatengemeinschaft, dass Deutschland ein ambitioniertes Klimaschutzprogramm vorlegt, ist ausgeblieben.“
Die vier Elemente des Pakets
Der eigentliche Beschluss, betitelt „Eckpunkte für das Klimaschutzprogramm 2030“, ist ein 22-seitiges Dokument. Wer darin nach einer Angabe zu den Gesamtkosten in Euro sucht, wird enttäuscht werden – nach Presseberichten liegt das Kostenvolumen der umfangreichen Förderung bei 54 Milliarden Euro allein bis 2023. CO2 kommt im Text 63-mal vor, die Regierung zählt auch brav auf, welche Mengen davon zurzeit ausgestoßen werden und wie viel weniger es 2030 sein sollen – aber zu den einzelnen Maßnahmen gibt es keine Angaben, was sie zum Ziel beitragen sollen oder können.
Insgesamt vier Elemente sieht die Regierung vor. Sie will erstens Förderprogramme auflegen und Anreize setzen, um CO2 einzusparen. Sie will zweitens einen nationalen Emissionshandel mit Zertifikaten einrichten, die vor dem Ausstoß von CO2 im Verkehr und im Gebäudesektor gekauft werden müssen, also dem Treibhausgas einen Preis geben. Sie will mit den Einnahmen daraus drittens die Bürger entlasten, vor allem indem Steuern auf Energieverbrauch gesenkt werden. Und viertens soll es regulatorische Maßnahmen geben, spricht Anordnungen und Entscheidungen der Verwaltung und des Gesetzgebers. Insgesamt, so die Regierung, soll „das klare Signal“ ausgesandt werden: „Jede und jeder wird in der Transformation zurechtkommen, auch bei kleinem Einkommen.“
Es sei ein großer Schwenk, war von der Regierungsseite zu hören, der Einstieg in eine ganz neue Architektur des Klimaschutzes. Die Bundeskanzlerin hingegen klang in einzelnen Sätzen so, als sei der Weg, um den die Koalition so lange in einer Nachtsitzung von Donnerstag auf Freitag gerungen hatte, eigentlich vollkommen klar gewesen. „Es ist nicht so, dass wir hier irgendwas Ideologisches machen“, sagte Angela Merkel. „Sondern wir machen hier etwas, wofür es so massive Evidenzen gibt, dass wir dagegen handeln müssen. Wir leben nicht nachhaltig.“
Eine Steuer, die Emissionshandel heißt
Besonders der Mechanismus der CO2-Bepreisung hatte vorab große Erwartungen ausgelöst. Gutachten, die von der Regierung bestellt wurden, hatten Anfangspreise von 35 bis 50 Euro pro Tonne des Treibhausgases vorgesehen und dann eine jährliche Steigerung von 5 bis knapp 15 Euro. Entschieden haben sich die Minister aber für einen Einstieg mit 10 Euro im Jahr 2021, der bis 2025 auf 35 Euro steigt. Das Modell nennt sich Emissionshandel, aber da tatsächlich der Preis nicht durch Angebot und Nachfrage entsteht, und da es möglich bleibt, dass mehr Klimagas als vorgesehen ausgestoßen wird (dann muss irgendwas im Ausland gekauft werden), hat das Modell doch zunächst eher den Charakter einer Steuer. Bei der Gestaltung hat sich also eher die SPD durchgesetzt, beim Namen die CDU/CSU.
Besonders diese Regelung kritisieren die Experten. „Der CO2-Preis, der eigentlich das Leitinstrument hätte werden sollen, hat nur eine Alibifunktion bekommen“, sagt Brigitte Knopf. „Das Gerüst für eine CO2-Preis-Architektur ist zwar angelegt, aber das Ambitionsniveau ist viel zu gering: Nach unseren Berechnungen hätte er beim fünffachen, nämlich bei 50 Euro pro Tonne CO2 liegen und dann bis 2030 auf 130 Euro ansteigen müssen.“ Ähnlich äußerte sich Patrick Graichen, Leiter des Thinktanks Agora Energiewende: „Die vorgeschlagene CO2-Bepreisung ist ein schlechter Scherz: die jährliche Anhebung ist so homöopathisch, dass das kaum mehr als die Inflationsentwicklung ist.“
Um die dennoch befürchteten Belastungen der Bürger zu kompensieren, plant die Regierung zum einen die Besteuerung von Strom zu reduzieren. Die EEG-Umlage zur Finanzierung von Windrädern, Solarzellen und Biogasanlagen soll anfangs um 0,25 Cent pro Kilowattstunde gesenkt werden (zurzeit liegt sie bei 6,4 Cent). Außerdem will die Regierung die Pendlerpauschale anheben. Ab 2021 können Steuerpflichtige demnach für jeden Kilometer ab dem 21. nun 35 statt 30 Cent von der Steuer absetzen. Das kritisiert Claudia Kemfert von Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin: Nicht nur vernachlässige die Regierung „den Abbau von umweltschädlichen Subventionen (Dieselprivileg, Pendlerpauschale)“, die CO2-Bepreisung werde auch verpuffen, denn die „Erhöhung der Pendlerpauschale konterkariert diesen Effekt“.
[Ergänzung am 14. Oktober 2019: Dieser folgende Absatz wurde mit neuen Details überarbeitet. Links dazu siehe unten.] Das zeigt schon ein Rechenexempel. Im Jahr 2021 wird Benzin wegen der CO2-Zertifikate zunächst um drei Cent pro Liter teurer. Mit einem Liter kann man – je nach Modell und Alter des Autos – vielleicht 10 bis 20 Kilometer fahren, also kostet der Treibstoff pro Kilometer zwischen 0,15 und 0,3 Cent mehr. Die Pendlerpauschale steigt um 5 Cent pro Kilometer ab dem 21. Kilometer; dieser Betrag kann dann zusätzlich vom zu versteuernden Einkommen abgezogen werden. Das heißt, es kann sich dann sogar lohnen, längere Strecken zu pendeln. Fachleute wie Stefan Bach vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin haben dies inzwischen in großem Detail ausgerechnet. Sein Tenor bei Twitter: „Bei verbrauchsarmem Fahrzeug werden die Geringverdiener mit geringen Steuersätzen entlastet, bei den Besserverdienern mit den hohen Steuersätzen auch die SUV-Fahrer.“ Generell gilt dabei, dass längere Strecken sich eher „lohnen“, wobei Menschen mit höherem Einkommen und Steuersatz besser wegkommen. Dieses Phänomen betrifft nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung mindestens sechs Millionen Menschen: Von den 6,7 Millionen, die täglich mehr als 20 Kilometer zurücklegen, benutzen ungefähr so viele das Auto. Im Gegensatz zu den Bahnkunden ist bei ihnen der Vorteil durch die Pendlerpauschale zudem nicht gedeckelt.
Kein Wort zur Krise der Windbauern
Vor allem im Verkehr und bei den Gebäuden listet die Regierung zudem eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen auf. Vieles davon betrifft Elektroautos, die großzügiger und länger gefördert werden sollen. Es gibt Zuschüsse für den Aufbau von Ladesäulen, die Tankstellen sollen zudem verpflichtet werden, auch Strom zum Nachtanken anzubieten. Die Kraftfahrzeugsteuer für Verbrenner soll hingegen mehr an den CO2-Ausstoß angepasst werden. Dem Fahrrad widmet die Regierung nur etwas mehr als sechs Zeilen – und vom Inhalt her hätten auch die beiden Wörter „mehr Radwege“ gereicht; konkret wird da nichts. Die Bahn soll gestärkt werden, und ihre Tickets will die Regierung durch eine Senkung der Mehrwertsteuer verbilligen. Dafür bezahlen sollen die Flugpassagiere, denn die Luftverkehrsabgabe soll „im Gegenzug“ „und „in dem Umfang“ erhöht werden.
Bei den Gebäuden werden neue Ölheizungen ab 2026 verboten werden, jedenfalls dort, wo es Alternativen gibt. Bis dahin wird der Austausch alter Heizkessel dieser Bauart gefördert, aber die Regelung sieht nur vor, ein „effizienteres Heizsystem“ einzubauen – niemand sagt, dass das keine moderne Ölheizung sein darf. Das kritisiert zum Beispiel Christoph Lützel von der GLS-Bank: „Bis zum Jahr 2026 können neue Ölheizungen gebaut und dann 20 bis 30 Jahre betrieben werden. Eine dirigistische, klimatische Fehlleistung.“
Die Krise der Windindustrie spricht die Regierung nicht direkt an. Sie hält zwar daran fest, die Quote für erneuerbaren Strom bis 2030 auf 65 Prozent erhöhen. Aber wo es Erleichterungen für Windräder geben soll, ist nicht offensichtlich. Zunächst schreibt das Konzept fest, dass neue und ausgetauschte Anlagen nicht näher als 1000 Meter an Wohnhäuser heranrücken dürfen. Das ist eine Verschärfung der Bedingungen. Allerdings könnten Bundesländer und Gemeinden davon nach unten abweichen. Bayern wiederum behält seine sogenannte 10h-Regelung, wonach der Abstand die zehnfache Höhe betragen muss, das sind bei modernen Windrädern eher 1500 Meter oder mehr als 1000 Meter. Im Freistaat gibt es deswegen kaum noch Flächen für die Windenergie.
Marcel Keiffenheim von Greenpeace Energy kritisiert: „Das Eckpunktepapier ist ein Windkraft-Verhinderungsprogramm und eine Breitseite gegen die Energiewende. In der Politik ist längst bekannt, dass pauschale Mindestabstände bei neuen Windanlagen von 1000 Metern die möglichen Flächen um 20 bis 50 Prozent reduzieren.“
Bei all dieser Kritik ist es nicht so leicht, lobende Stimmen zu finden. Von der Opposition im Bundestag sind sie natürlich nicht zu erwarten. Oft haben die Kommentare zum Beispiel von Wirtschaftsverbänden jedoch zumindest einen „Ja, aber“-Charakter: Der Einstieg in die CO2-Bepreisung sei gut, aber die konkreten Preise zu niedrig, sagt zum Beispiel der Chef des Verbandes der Maschinen- und Anlagenbauer, Carl Martin Welcker. Die Große Koalition sende ein unklares Signal. Auch Andreas Kuhlmann, Leiter der staats-eigenen Deutschen Energieagentur (Dena), folgt dem Muster, wenn er sagt: „Das ist ein guter Ansatz. Damit kann der Einstieg in den Kurswechsel gelingen.“ Aber: „Das, was heute politisch möglich war, ist sehr wahrscheinlich noch nicht genug, um die Klimaziele 2030 zu erreichen.“
Wissenschaftler sind in der Gesamtschau deutlich kritischer. „Damit hat die Große Koalition im zentralen Punkt nicht geliefert. Über diese Tatsache kann auch die Vielzahl an angekündigten Fördermaßnahmen nicht hinwegtäuschen“, klagt Ottmar Edenhofer vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung. „Die Bundesregierung bleibt heute uns und den kommenden Generationen die entscheidende Antwort auf die Frage nach einem ambitionierten Klimaschutz schuldig.“
Und Christoph Heinrich von der Umweltorganisation WWF kleidete seine große Enttäuschung in eine Art Reim: „Diese Mischung aus Verzagen, Vertagen und Versagen ist kein akzeptables Ergebnis.“ ◀
Ergänzung am 14. Oktober 2019: Heute haben das Mercator-Institut in Berlin und das Potsdam-Institut eine ausführliche Analyse zu den Schwachpunkten des Klimapakets vorgelegt. Sie bestätigt die unmittelbare Kritik vieler Beobachter, dass die vorgesehenen CO2-Preise viel zu niedrig sind. Man müsse den Preispfad „auf ein Ambitionsniveau [anheben], mit dem die Klimaziele zuverlässig erreicht werden können“. Dieser hätte mit ungefähr 50 Euro pro Tonne beginnen und dann jährlich um zehn Prozent steigen müssen. Bleibt die Regierung hingegen bei ihren Beschlüssen, sind ab 2026 jährliche Erhöhungen von 20 bis 30 Prozent fällig, um die nötige Wirkung zu erzielen.
Weiterhin regen die Wissenschaftler um Brigitte Knopf und Ottmar Edenhofer an, den sozialen Ausgleich so zu vergrößern, dass das untere Drittel der Haushalte tatsächlich zunächst entlastet wird – etwa durch eine stärkere Rücknahme der EEG-Zulage um einen statt einen Viertel Cent pro Kilowattstunde oder eine Klimadividende, die pro Kopf der Bevölkerung ausgezahlt wird. Außerdem soll beim Monitoring des Klimapakets die Position des Expertenbeirats gestärkt werden: Die Mitglieder sollen nicht nur nachträglich feststellen, dass Klimaziele nicht erreicht wurden, sondern auch vorher schon aktiv Vorschläge für das Nachsteuern machen können.
Zeit-Kommentator Bernd Ulrich ging vor einigen Tagen mit der Aussage Merkels, ein ehrgeizigeres Klimapaket sei nicht durchzusetzen gewesen, hart ins Gericht: Zu suggerieren, „dass Forderungen, die deutlich darüber hinausgingen, nur noch mit undemokratischen Mitteln zu realisieren wären“ sei „im Grunde ein ungeheuerlicher Vorgang: Diese müde, ausgepowerte, ängstliche Regierung erklärt sich klimapolitisch zum Maß des Möglichen. [Die Groko tat so, ] als müsse nach 14 Jahren gefühlter grüner Alleinregierung endlich Schluss sein mit all den klimapolitischen Übertreibungen.“ Die Regierung habe zudem das Wesen des Kompromisses falsch verstanden, dieser könne nicht nur zwischen fast nichts und sehr wenig geschlossen werden, sondern auch zwischen sehr viel und richtig viel. Insgesamt müsse sich das Land „Gedanken darüber machen, wie eine Ökodemokratie aussehen könnte. Das wissen wir nämlich noch nicht. Welche institutionellen und rechtlichen Vorkehrungen brauchen wir, um den dramatischen Verzehr an Optionen und damit an Freiheit zu stoppen?“