Googlonia

Was passieren kann, wenn Datenkapitalismus und autoritäre Bewegungen eins werden. Ein Szenario.

22 Minuten
Autos fahren bei Nacht über eine Straße. Auf einem Straßenschild steht Google.

Auf diesen Blick hatte Ben sich den ganzen Weg gefreut. Vor ihm die Stubaier Alpen, diese mächtige Kette emporgestoßener Erdplatte, überzogen mit Wäldern, Häusern, Weiden. Hinter ihm die bizarr gefalteten Karwendelberge, eine trockene Felswüste, an deren Rand er von Innsbruck her seit dem Morgen entlanggelaufen war. Doch als er die Mandlscharte hochgeklettert war, das letzte steile Stück vor dem Ausblick, spürte er einen Stich am Ohr, genau dort, wo der Bügel seiner Brille auflag. Eine Mücke auf dieser Höhe, um diese Jahreszeit? Ein bisschen Kratzen geht, Alarm gibt es erst nach sechzig Sekunden, dachte er, nahm die Brille ab und legte sie neben sich auf einen Stein am Rand des Wanderwegs.

Ein Vogel kam von hinten angeschossen wie aus dem Nichts, schnappte sich seine Brille und flog hinab in den steilen Abhang vor ihm. Es war eine Alpendohle, das erkannte er noch, er sah sie ein paar Sekunden segeln, dann verschmolz der Vogel mit dem Dunkelgrün der Bäume weiter unten. Ben riss sich seinen Rucksack herunter und griff in das Fach mit seiner Ersatzbrille, noch war Zeit, und er konnte sich ein paar zehntausend Minuspunkte sparen. Das Fach war leer. Die zweite Brille musste ihm unterwegs herausgefallen sein. Es war sinnlos, sie zu suchen; der Wind hatte das feine Ding längst weggeweht.

Noch mehr Blut schoss in seinen vom Anstieg roten Kopf, Wut machte sich in seinem Bauch breit, nicht auf das Tier, sondern auf sich selbst. Er hätte wissen müssen, dass diese Vögel auf Glitzer stehen, er, der Vogelbeobachter, in dessen System Tausende Stunden Trips in Naturschutzgebiete, Zehntausende Vogelbeobachtungen festgehalten waren. Er hätte die Brille nie abnehmen und nie auf diesen Stein legen dürfen, so nah an dem Abhang, wie eine Einladung an die Dohle, sie mitzunehmen. Er hätte den Reißverschluss des Rucksacks prüfen müssen.

Nun würde er endgültig der GSI auffallen, dachte er, mir passiert immer das, wovor ich am meisten Angst habe, meine Ängste sind Navigationssysteme.

Als Kind hatte er sich vor Hunden gefürchtet, und er war unter seinen Freunden der Einzige, der je gebissen wurde. Als Student fürchtete er sich vor dem West-Nil-Virus und holte sich die Krankheit in den Isarauen. Heute hatte er vor nichts mehr Angst gehabt, als ins Visier der GSI zu kommen.

Die Brille war weg, und das System hatte es bestimmt bemerkt, ihn als Absetzer registriert, ihn lokalisiert. Irgendeines der unzähligen elektronischen Augen am Himmel fokussierte ihn gerade. Er schaute nach oben in den Himmel, besann sich, schaute zu Boden. Wer zeigte, dass er die Beobachtung bewusst wahrnahm, den rechneten die Algorithmen nach vorne, an die Oberfläche des Systembewußtseins, dann kümmerte sich die GSI persönlich um einen, und das Ranking ging in den Keller.

Wie unfassbar ruhig es nun war. Der Dauersound der Brille war verschwunden, klang für ein paar Minuten als Ohrenfiepen nach, dann machte sich Stille breit: keine Werbung, keine Nachrichten, keine Navigationsinfos und Wettervorhersagen. Er lauschte dem Wind, wie er über die Steine streifte, dem Summen der Bienen auf den Gebirgsblumen am Hang. Über ihm knarrte noch eine Alpendohle herum. Er sah den ersten freien Fetzen blauen Himmels seit langem. Keine Drohnen wie in München, wo der Himmel ein einziges Flirren war, nicht einmal das kleine Logo „Don’t be evil“, das morgens als Erstes da war, wenn er aufwachte.

Er hatte diese Brille vom ersten Tag an gehasst. Jetzt, wo sie weg war, bekam er Angst. Er war nicht mit dem System verbunden, hatte sein eigenes kleines Loch geschaffen – durch ein bescheuertes Versehen.

Wie lange es wohl dauern würde, bis er seine Ersatzbrille hatte? Die letzte Werbung hatte ihm das System beim Aufstieg eingespielt, vor etwa fünfzehn Minuten: Weil er so geschwitzt hatte und die Sensoren dies registrierten, wurde ihm ein nano-biologisches T-Shirt offeriert – Qualitätsprodukt aus China, Sonderangebot, das Schweiß sofort in einen frischen Duft verwandelte, voraussichtliche Lieferzeit 45 Minuten. Er hatte die Werbung ignoriert – warum sollte man beim Wandern nicht schwitzen? –, aber sich bemüht, keine sichtbaren Zeichen von Ärger zu zeigen. Nicht das System reizen.

Dreißig Minuten, das dürfte also ungefähr die Zeit sein, die er jetzt hier sitzen und auf die Drohne mit der Ersatzbrille warten würde. Dreißig Minuten, in denen er sich fühlen konnte wie ein Mensch in dieser fernen, unvorstellbaren Vergangenheit, als es noch nicht per Gesetz vorgeschrieben war, rund um die Uhr GSI-Brillen zu tragen. Weil er seine Ersatzbrille verloren hatte, war er zu einem digitalen Nackten geworden.

Die nackte Vorzeit, dachte Ben, hatte es sie je gegeben? Seine Großmutter kam ihm in den Sinn, die Frau seiner Kindheit, die auf das Funkloch in ihrem Dorf stolz war und das Smartphone, das seine Eltern ihr aufgedrückt hatten, bei einem Spaziergang mit ihm einfach in einen See geworfen hatte. Es erschien ihm jetzt, inmitten dieser ungewohnten Leere, unglaublich, dass seine Großmutter wegen illegaler Müllentsorgung belangt worden war und nicht dafür, offline zu sein. Man durfte damals alles abschalten, einfach so. Eine fremde, andere Welt. Sie hätten ihre Funklöcher damals unter Naturschutz stellen sollen, dachte er. Meine Kinder kennen mich nur mit Brille.

Berglandschaft über einem Wolkenhimmel.
Mandlscharte im Karwendelgebirge – am Horizont die Stubaier Alpen.
Ein Berg unter Wolken im Karwendelgebirge, Schauplatz des Szenarios.
„In seinem Sichtfeld tauchte ein neues Zeichen auf, ein kleines schwarz-gelbes Symbol.“
Berglandschaft im Karwendel in Wolken.
Jemand reichte ihm einen Zettel: „Nicht umdrehen, nichts sagen, schau in den Himmel.“
Berglandschaft im Karwendel
„Er hatte vor vielem Angst, und er war immer blind für das, was wirklich gefährlich für ihn war.“
Berglandschaft in Wolken im Karwendel
„Großartig, Michael, zehn an einem Tag, wie sauber das jetzt mit den Symbio-Drohnen läuft“