Humboldts Papagei
Die letzten 30 Jahre seines Lebens leistete ein Vogel namens Jakob dem Gelehrten Gesellschaft
Jakob ist ein besonderer Vogel. Der Vasapapagei (Coracopsis vasa) hat ein fast schwarzes Federkleid und unterscheidet sich so von den allermeisten kunterbunten Papageienarten. Außerdem stammt er aus Madagaskar. „Das ist eine spezielle Herkunft, denn bei Papageien denken viele zuerst an Südamerika oder Australien“, sagt Dr. Sylke Frahnert. Die Ornithologin ist Kuratorin der Vogelsammlung am Naturkundemuseum Berlin. Für sie ist Jakob aber ein besonderes Stück, weil er Alexander von Humboldt gehörte, dessen Geburtstag sich am 14. September zum 250. Mal jährt. Der Universalgelehrte war fasziniert von dem Tier, das er bei sich zu Hause hielt und mit dem er eine innige Beziehung pflegte.
Alexander von Humboldt sah Jakob das erste Mal in Weimar. Er machte dort im Dezember 1826 Station auf dem Rückweg von Berlin nach Paris. In Weimar besuchte er Wolfgang von Goethe und dessen Förderer, den Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach. Goethe, selbst Universalgelehrter, war sehr an Humboldts Arbeit interessiert und stand in regem Briefwechsel mit ihm.
Von Paris nach Berlin
Humboldt dürfte ein wenig wehmütig zumute gewesen sein auf dieser Reise. Denn seine Zeit in Paris neigte sich rasant dem Ende zu.
Mehr als 20 Jahre hatte er in der französischen Hauptstadt verbracht, seit er als weltberühmter Mann im Jahr 1804 von seiner Forschungsreise durch Amerika zurückgekehrt war. Die vielen Kisten, die er von seiner Expedition mitgebracht hatte, gingen in der Sammlung des Muséum national de l’histoire naturelle in Paris auf. Zu einer Zeit, als es in Berlin nicht einmal eine Universität gab, boten sich ihm in der französischen Hauptstadt gute Bedingungen. Von Paris aus konnte er sein Netzwerk von Forschern in ganz Europa und über den Atlantik hinweg aufbauen und ausbreiten.
In Paris schrieb Humboldt mit seinem Compagnon Aimé Bonpland seine „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“ auf, die sie 1807 veröffentlichten. Sie beschrieben darin erstmals in großer Genauigkeit, welche zahlreichen Faktoren dafür sorgen, dass an unterschiedlichen Orten verschiedene Pflanzen wachsen. Dazu zählte Humboldt geologische Strukturen und die Bodenbeschaffenheit ebenso wie die Höhe über dem Meeresspiegel, die Temperatur, die Lichtintensität und die Luftqualität. „Das Gleichgewicht geht aus dem freyen Spiel der Kräfte hervor.“ Ein Jahr später brachte er sein Lieblingsbuch heraus: die „Ansichten der Natur“. Darin verband er wissenschaftliche Informationen mit literarischen Landschaftsbeschreibungen.
Auch bei den Lesern hatte er damit den größten Erfolg. Humboldt war ein Star der Wissenschaft …
Viele Bände folgten, in denen Humboldt seine amerikanische Reise aufarbeitete. Er schrieb viel und oft an mehreren Büchern gleichzeitig – ein Arbeitstier ohne familiäre Verpflichtungen. Nur gelegentlich holten ihn die politischen Geschehnisse in Europa oder Gesuche der preußischen Regierung ein. Er schaffte es aber stets, von den Kräften auf beiden Seiten des Rheins unabhängig zu bleiben – auch wenn die französische Geheimpolizei jahrelang seine Post mitlas und er den preußischen König immer wieder auf Reisen begleiten musste.
Doch das persönliche Klima für Alexander von Humboldt änderte sich: Sowohl in Frankreich wie in Preußen gewannen Erzkonservative bis reaktionäre Kräfte an Einfluss. Und er hatte finanzielle Sorgen. Er hatte sein ererbtes Geld für die Veröffentlichung seiner Bücher weitgehend aufgebraucht und war dringend auf die jährliche Pension als preußischer Kammerherr angewiesen.
Der König befahl ihm zurückzukehren
Friedrich Wilhelm III. von Preußen schrieb ihm im Herbst 1826 nach Paris: „Sie müssen nun mit der Herausgabe ihrer Werke fertig sein, die Sie nur in Paris bearbeiten zu können glauben.“ Er erwarte Humboldts baldige Rückkehr. Humboldt folgte dem Befehl, erlangte aber die Erlaubnis, jedes Jahr mehrere Wochen in Paris zu verbringen.
Dorthin fuhr Humboldt also Ende 1826 noch einmal, ehe er endgültig nach Berlin umzog. Er war Mitte 50, ergraut, der rechte Arm von Rheuma schwer in Mitleidenschaft gezogen. Als Humboldt auf dieser Reise im Dezember am Hof des Großherzogs Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach auf Jakob, den Papagei, traf, konnte er nicht ahnen, dass der Vogel ihn in den nächsten 30 Jahren seines Lebens begleiten würde. Der Gelehrte erfreute sich sehr daran, wie gelehrig der grauschwarze Vasapapagei war. Der betagte Großherzog wiederum war beeindruckt von Humboldts Faszination und vermachte ihm den Vogel in seinem Testament.
Wann Jakob seinen Namen bekommen hat – ob Humboldt ihn so nannte oder der Großherzog – ist nicht überliefert. Vielleicht hieß er sogar schon so, als Carl August ihn erhielt, denn der Papagei hatte da bereits zahlreiche Besitzer gehabt. Historiker vermuten, dass ein französischer Soldat ihn auf dem Rückweg von der Kolonie Pondichérry an der indischen Ostküste bei einem Zwischenstopp auf Réunion erwarb und mit nach Straßburg brachte. Dort lebte der spätere bayerische König Maximilian I. in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts sieben Jahre lang während seiner Ausbildung und kam in Kontakt mit der Einheit. Er erwarb den Papagei zusammen mit mehreren anderen Vögeln. Die Tiere landeten in der königlichen Menagerie, dem Privatzoo des Monarchen. Maximilian schenkte den Vogel wiederum später Carl August.
Keine zwei Jahre nach Humboldts Besuch starb der Großherzog von Sachsen-Weimar-Eisenach. Jakob kam nach Berlin zu seinem neuen Besitzer. Alexander von Humboldt hasste Berlin, schreiben seine Biografen. Der preußische König Friedrich Wilhelm III. hatte seinen weitgereisten Kammerherrn in den inneren höfischen Zirkel aufgenommen, aber das verschaffte Humboldt weniger politischen Einfluss als vielmehr gehörigen Stress. Er sah sich „Pendelschwingungen“ ausgesetzt, wie er es nannte, denn der König zog ständig umher: zwischen den Residenzen, dann wieder nach Berlin, im Schlepptau des Königs, den er unterhalten musste und ihm vorlesen. Humboldt schleppte kistenweise Manuskripte, Bücher und Aufzeichnungen mit, um wenigstens zwischen Mitternacht und drei Uhr morgens nach Erfüllung seiner Pflichten ein paar Stunden an seinen Büchern zu arbeiten.
Jakob dürfte von seinem neuen Besitzer also nicht allzu viel zu sehen bekommen haben. Der Vogel hat aber offenbar genug zu hören bekommen, um auch von ihm neue Sätze zu lernen. Einer ist überliefert. Es wird berichtet, Jakob habe seinen Besitzer und dessen Besucher immer wieder mit den „Viel Zucker, viel Kaffee, Herr Seifert!“ unterbrochen, also jenen Worten, mit denen Humboldt bei seinem Diener Johann Seifert seinen Kaffee bestellte.
Humboldt hatte das Große und Ganze im Blick
Humboldt war wie viele Naturforscher seiner Zeit nicht ausschließlich an einer bestimmten Disziplin interessiert, sondern an allen gleichzeitig. Wie schon in „Ansichten der Natur“ wollte er das Große und Ganze in den Blick nehmen, verstehen, wie die Dinge miteinander in Verbindung stehen. Und er wollte sein Wissen und seine Erkenntnisse einem möglichst großen Publikum vorstellen.
Dieser Idee blieb er auch in Berlin treu. Sechs Monate nach seiner Rückkehr begann Humboldt eine Vorlesungsreihe an der Universität und im Konzerthaus der Berliner Singakademie Unter den Linden, dem heutigen Maxim-Gorki-Theater. Er zog bei jedem Termin hunderte Besucher an. Diese „Kosmos-Vorträge“ brachten ihn auf die Idee zu seinem einflussreichsten Buch: „Ich habe den tollen Einfall, die ganze materielle Welt in Einem Werke darzustellen.“ Der inzwischen 65-jährige wollte alle Dinge im Himmel und auf Erden zusammenfassen und konnte dafür aus seinem riesigen Netzwerk aus Kollegen auf der ganzen Welt schöpfen. Sie lieferten ihm Informationen, die er zu seinem Gesamtbild verwob.
Wie bei so vielen Projekten Humboldts uferte auch die Arbeit am „Kosmos“ schnell aus. Der erste Band erschien im April 1845 und wurde wie der zweite ein Bestseller. Zwei weitere Bände erschienen in den 1850ern, und obwohl er das Alter zu spüren bekam, arbeitete Humboldt verbissen weiter an dem Werk. Im Januar 1859 starb Jakob. Wie sehr Humboldt trauerte, ist nicht überliefert. Aber offenbar sollte Jakob nach seinem Tod zumindest der Wissenschaft von Nutzen sein, denn Humboldt schenkte den toten Vogel dem Naturkundemuseum. Erst beim Präparieren bemerkte man dort, dass Jakob in Wahrheit eine Jakobine war. Männchen und Weibchen lassen sich bei diesen Papageien äußerlich nicht unterscheiden. Noch heute sieht man dem Vogel die lange Zeit in Gefangenschaft an: Er hat Schwielen unter den Zehen und extrem verlängerte und verformte Klauen.
Große Vasapapageien sind immer noch häufig
„Aus ornithologischer Sicht ist Jakob nicht besonders interessant“, sagt Sylke Frahnert, die heute die Vogelsammlung am Museum Berliner Naturkundemuseum. Große Vasapapageien sind immer noch so weit verbreitet in Madagaskar und auf den Komoren – so weit, dass sie Obstbauern lästig werden. Die Menschen fangen den Vogel wegen seines Fleisches und um sie zu verkaufen. Allerdings geraten die Großen Vasapapageien auf Madagaskar zunehmend in Bedrängnis, weil die Menschen die Wälder abholzen und ihren Lebensraum zerstören.
Allerdings war viel über Jakobs Lebensgeschichte bekannt. Darum konnten Wissenschaftler einiges über die Lebensspanne von Vögeln im Allgemeinen und Papageien in Gefangenschaft im Besonderen lernen. Sie schätzen, dass das Tier an die 75 Jahre alt geworden ist. Dieses hohe Alter entfachte bei Alexander von Humboldt selbst Interesse: Er schrieb einen verloren gegangenen Aufsatz über den Vogel, den er am 14. April 1859 fertigstellte und dem Zoologen Wilhelm Peters sandte. Am 19. April erst schickte er das Manuskript für den fünften Band des „Kosmos“ an seinen Verleger. Zwei Tage später brach er zusammen und starb am 6. Mai 1859 im Alter von 89 Jahren.
„Mein persönlicher Eindruck ist, dass Alexander von Humboldt nicht spezifisch ornithologisch interessiert war“, sagt Sylke Frahnert. Die Sammlung enthält gerade einmal fünf Vögel, die Humboldt von seiner Reise nach Russland mitgebracht hat. Auch in Paris gibt es kaum ornithologische Objekte von ihm.
Jakob hat eine Sonderrolle im Naturkundemuseum
Das bringt Jakob eine Sonderrrolle ein. Er beziehungsweise sie ist das ornithologische Objekt, das am engsten mit dem weltberühmten Forscher verbunden ist. Und es hatte auch nach seinem Tod eine wechselvolle Geschichte. Wie es Mitte des 19. Jahrhunderts üblich war, montierten die Präparatoren den Vogel damals aufgestellt auf einer Stange, die sie wiederum auf einen hölzernen quaderförmigen Sockel montierten. „Er hat in der Sammlung gestanden mit etwa 20.000 anderen Standpräparaten“, sagt Frahnert. Dadurch war er ständig dem Licht ausgesetzt. Das hat den Farben von Schnabel und Federn zugesetzt. Doch dieser schleichende Schaden ist nichts gegen die Zerstörungen, die das Museum und unzählige Sammlungsstücke während des Zweiten Weltkriegs erlitten haben: „In den Saal mit den Standpräparaten ist eine Granate eingeschlagen und hat große Zerstörung angerichtet“, sagt Frahnert.
Der Ornithologe Erwin Stresemann, Kustos der ornithologischen Sammlung und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg Direktor des Museum, stellte fest, mindestens 1000 Exemplare seien vollständig verloren gegangen, viele mehr wurden stark beschädigt.
Granaten beschädigen den Papagei und das Museum schwer
Jakob fehlte ein Flügel, an Kopf hatte er kahle Stellen, am Bauch war die Haut stellenweise ganz weggerissen, seine Schwanzfedern waren zerbrochen. Wie mehr als 10.000 andere Exemplare nahm man ihn zwischen 1945 und 1947 aus der Aufstellung heraus. Hätte Jakob nicht Alexander von Humboldt gehört, hätte man seine Überreste damals wohl auf den Müll geschmissen. „Ich kenne Jakob in Einzelteilen liegend in einem Kasten“, erinnert sich Sylke Frahnert an ihren ersten Eindruck von dem Tier.
Erst 1999, 140 Jahre nach Humboldts Tod, erwachte das Interesse an dem Papageien erneut. Die Präparatoren des Naturkundemuseums setzten die Einzelteile so gut es ging wieder zusammen. Wer Jakob von seiner Schokoladenseite sieht, dem fällt erstmal gar nicht auf, dass mit dem Vogel etwas nicht stimmt. Jakob reiste damals zu zahlreichen Ausstellungen über Humboldt.
„Jakob ist ein Symbol für das Museum“
„Jakob war das am meisten ausgeliehene Präparat unserer Sammlung im Zusammenhang mit Humboldt“, sagt Frahnert. Das ist im aktuellen Humboldt-Jahr anders: „Er hat wegen seines Zusammenhangs mit Humboldt einen großen Wert für das Museum“, sagt Sylke Frahnert, „er ist ein Symbol für das Museum an sich und seine Geschichte geworden“. Wann immer Museumsdirektor Johannes Vogel in diesen Tagen ein Interview über sein Haus gibt, ist auch Jakob dabei. Man schmückt sich jetzt gerne mit dem schmucklosen Vogel, der so eng mit dem Universalgenie verbunden ist.