Wir brauchen einen neuen Plan

Ein Kommentar zum 1,5-Grad-Bericht des Weltklimarats

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Ein Forscher untersucht eine Korallenbleiche im Virgin Islands National Park in der Karibik.

Der Weltklimarat wird missverstanden: Er gibt uns nicht noch ein paar Jahre Zeit, um einen effektiven Klimaschutz anzugehen. Er zeigt uns vielmehr, welche Klimaschäden wir durch unser Zögern schon in Kauf genommen haben. Doch indem wir an unrealistischen Zielen festhalten, gehen wir einer Debatte über unsere Verantwortung aus dem Weg. Ein Kommentar.

Der Weltklimarat IPCC hat der Menschheit angeblich noch etwas Zeit gegeben: Zwischen 2010 und 2030 müssten die CO2-Emissionen um etwa 45 Prozent sinken – eine „schnelle, einschneidende und beispiellose Veränderung“, wie es in der Pressemitteilung des Gremiums heißt. Dann sei man auf bestem Weg, den globalen Temperaturanstieg doch noch auf 1,5 Grad zu begrenzen, wie es die Staatengemeinschaft im Weltklimavertrag von Paris vereinbart hat. Der IPCC präsentiert vier mögliche Szenarien mit diesem Ziel. Viele Klimaforscher kommentieren in einer Umfrage des Science Media Centers Deutschland, eine solch radikale Wende sei zwar schwierig, aber nicht unrealistisch. Die Politik reagiert – wenn sie überhaupt reagiert – entsprechend zerknirscht: „Die nächsten Jahre sind entscheidend, damit unser Planet nicht aus dem Gleichgewicht gerät“, schreibt zum Beispiel die Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) in einer Pressemitteilung.

Doch die Botschaft ist falsch: Die Zeit für verantwortungsvolles Handeln ist längst abgelaufen. Der IPCC präsentiert uns vielmehr die Rechnung für unseren Energiehunger und zählt auf, welche Klimaschäden wir in den vergangenen Jahren durch Nichtstun in Kauf genommen haben, die sich nun nicht mehr abwenden, sondern höchstens noch abmildern lassen. Die Marke von 1,5 Grad werden wir vermutlich schon in 20 Jahren reißen, denn es sieht nicht so aus, als würden wir die Emissionen in den kommenden Jahren deutlich senken. Wir brauchen einen neuen Plan.

1,5 Grad können schon zu viel sein

Grob gesprochen ergibt sich dieses Bild: Seit dem Erdgipfel von Rio de Janeiro 1992, auf dem die Klimarahmenkonvention verabschiedet wurde, ist der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen um mehr als 60 Prozent gestiegen. Um den Weltklimavertrag von Paris einzuhalten, müssten wir diese Entwicklung der vergangenen 25 Jahre in den kommenden 25 Jahren mindestens wieder zurückfahren. Doch nicht einmal in Deutschland funktioniert das: Von 2010 bis 2017 sind die Emissionen nur um etwa vier Prozent gesunken. Von den nötigen Reduktionen, die der IPCC für das 1,5-Grad-Ziel berechnet hat, haben wir also bisher so gut wie nichts geliefert. Selbst den Klimaschutzplan der Bundesregierung einzuhalten wird schwierig sein, das Ziel für 2020 hat die Politik schon offiziell aufgegeben.

Auch die EU stapelt tief: Sie hat vor einigen Jahren beschlossen, ihre Emissionen bis 2030 um 40 Prozent senken – verglichen mit dem Niveau im Jahr 1990. Ihr Ziel lautet also rund 3400 Millionen Tonnen Treibhausgase (umgerechnet auf CO2-Äquivalente) im Jahr 2030 (hier gibt es die Zahlen dazu). Der IPCC-Fahrplan für das 1,5-Grad-Ziel sähe hingegen 2700 Millionen Tonnen vor – und es wäre nur gerecht, wenn die Industriestaaten den größten Teil der Last auf sich nehmen. Doch nach der Veröffentlichung des IPCC-Berichts haben die EU-Umweltminister bloß die Staatengemeinschaft an ihre Verantwortung erinnert und damit nach eigener Einschätzung „ein starkes Signal“ ausgesandt. An ihren Zielen im Klimaschutz änderten sie nichts. (In den folgenden drei Grafiken deuten blaue Linien an, wie stark die Emissionen nach dem Fahrplan des IPCC bis 2030 sinken müssten. Korrektur: Die erste Grafik zu den Emissionen aller Staaten enthielt bei den historischen Emissionen zunächst nicht alle Treibhausgase und wurde am 14.10.2018 entsprechend korrigiert.)

Was dieses Nichtstun bedeutet, lässt sich am Beispiel der kleinen Inselstaaten veranschaulichen. Sie haben lange Druck ausgeübt, bis sich auf dem Klimagipfel 2015 in Paris eine Koalition von mehr als 100 Ländern zusammenfand, der die bis dahin favorisierte Marke von zwei Grad zu wenig ehrgeizig war: die High Ambition Coalition. Ihr Anführer war der inzwischen verstorbene Tony deBrum, der damals als Außenminister die Marshallinseln vertrat. Er hatte zuvor angekündigt, dass er in Paris kein „Todesurteil“ für sein Land unterschreiben werde – also keinen Klimavertrag, bei dem die flachen Atolle seines Landes untergehen würden. Am Ende setzte die Koalition durch, dass „Anstrengungen unternommen werden“ müssen, um den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu begrenzen (hier geht es zu einer kommentierten Fassung des Vertragstextes).

Das Fazit, das der Weltklimarat nun aus 6000 Studien zieht, ist für die kleinen Inselstaaten jedoch verheerend. Schon ein Temperaturanstieg von 1,5 Grad ist für sie schwer zu verkraften: „Einige verletzbare Regionen, darunter kleine Inseln und die am wenigsten entwickelten Länder, dürften schon bei einer globalen Erwärmung von 1,5 Grad mehrere starke und zusammenhängende Klimarisiken erleiden“, heißt es in der wichtigen Zusammenfassung des IPCC-Berichts. Es werden schon bei 1,5 Grad nicht nur Überschwemmungen und die Versalzung des Grundwassers vorhergesagt, sondern auch längere Dürren. Die Forscher sprechen in der Summe von „Wasser-Stress“. Zudem setzt der Klimawandel den Korallen, den Fischen und dem Vieh zu. (Das Portal „Climate Brief“ stellt die Folgen unterschiedlicher Temperaturen in einer interaktiven Grafik dar.)

Bei 1,5 Grad wird die Erderwärmung nicht haltmachen: Alle der angeblich realistischen Szenarien des IPCC erfordern, der Atmosphäre aktiv Kohlendioxid zu entziehen – wenigstens durch die großflächige Aufforstung von Wäldern, vielleicht aber auch durch die unterirdische Speicherung von Kohlenstoff. Beide Maßnahmen sind umstritten; in Deutschland werden sie nicht einmal breit diskutiert.

Lieber Hoffnung als Angst

Oliver Geden von der Stiftung Wissenschaft und Politik wehrt sich schon seit langem gegen die Schönrechnerei der Wissenschaft: Irgendwann muss die Klimaforschung seiner Ansicht nach erklären, dass es schon fünf nach zwölf Uhr ist. In einem Gastbeitrag für die „Süddeutsche Zeitung“ empfahl er vor einigen Wochen, die üblichen wissenschaftlichen Empfehlungen umzudrehen: „Anstatt zu sagen: ‚Ja, das 1,5-Grad-Ziel ist nach wie vor erreichbar, wenn die Regierungen A, B und C implementieren‘, sollte die Kernbotschaft vorsichtiger ausfallen: ‚Nein, derzeit ist das Erreichen des 1,5-Grad-Ziels nicht plausibel, es sei denn, die Regierungen implementieren A, B und C‘.“ Doch das hat der Weltklimarat nicht getan. Immerhin warnt der IPCC, dass die bisherigen Verpflichtungen der Länder nicht ausreichen: „Entwicklungspfade, die diese Ziele widerspiegeln, beschränken die Erderwärmung nicht auf 1,5 Grad, selbst wenn sie nach 2030 durch eine sehr anspruchsvolle Aufstockung der Emissionsminderung ergänzt würden.“

Beim Klimaschutz verbreitet man lieber Hoffnung, als dass man die Öffentlichkeit deprimiert. Man glaubt an eine Alles-oder-nichts-Regel: Wenn man die Ziele des Weltklimavertrags aufgibt, gibt man völlig auf. Dieses Risiko möchte man nicht eingehen; die Menschheit soll sich nicht ihrem vermeintlichen Schicksal ergeben. Also umschifft man die Aussage, dass es schon zu spät sei. Der Klimaforscher Gavin Schmidt vom NASA Goddard Institute for Space Studies fasst die Bedenken seiner Kollegen in einem Gastbeitrag im Blog „Klimalounge“ so zusammen: „Ich verstehe, dass es Zurückhaltung gibt, dies öffentlich zu sagen – es klingt, als würde man die Folgen einer Erwärmung über 1,5°C einfach hinnehmen.“

Für diese Pfeifen-im-Wald-Strategie sprechen auch einige Experimente, in denen gezeigt wird, dass dramatische Warnungen bei vielen Menschen Widerwillen und Ablehnung hervorrufen (das Portal „Klimafakten“ stellt sie vor). Man warnt schon so lange, ohne eine angemessene Reaktion zu sehen, denken viele Kommunikatoren der Branche. Vielleicht ist ein anderer, positiver Ansatz besser geeignet, um Menschen für die Sache zu gewinnen? Doch die Studienlage sei alles andere als klar, fassten Ende 2017 Forscher der University of Massachusetts im Fachmagazin „Nature Climate Change“ zusammen. Zwar korreliere eher Hoffnung als Angst mit der Motivation, etwas zu verändern. Doch daraus könne man nicht schließen, dass Hoffnung die Motivation erhöhe und Angst sie senke. Die Studien sind nicht aussagekräftig genug, um diese Einflussmöglichkeiten zu belegen. Darüber hinaus ist fraglich, ob es wirklich Hoffnung auslöst, wenn man erfährt, wie drastisch die CO2-Emissionen in den nächsten Jahren sinken müssten, um das 1,5-Grad-Ziel zu halten. Der IPCC-Bericht kann auch das Gefühl der Ohnmacht stärken: Wir schaffen es nicht mehr.

Realistischere Klimaziele

Gavin Schmidt wirbt dafür, nicht an unrealistischen Zielen festzuhalten, bloß um die Moral zu stärken. Er appelliert, sich ein anderes Ziel zu setzen: „Mir scheint, dass machbare Herausforderungen motivierender sind als unmögliche (oder extrem unrealistische).“ Auch das spricht für einen neuen Plan – für einen, der tatsächlich funktionieren könnte.

Einen neuen Plan zu fordern ist leichter gesagt als getan, denn der Weltklimavertrag ist inzwischen international gültiges Recht. Gewählte Politiker sollten sich daher davor hüten, die im Vertrag genannten Ziele als unrealistisch und revisionsbedürftig zu bezeichnen. Sie könnten damit die Architektur des internationalen Klimaschutzes einstürzen lassen. Und auch wir Bürger sollten uns dem Pariser Abkommen verpflichtet fühlen. Das sind wir den nachfolgenden Generationen schuldig. Doch das heißt nicht, weiterhin von der 1,5– oder 2-Grad-Grenze zu sprechen, ohne das mit dazu passenden Taten zu unterlegen. Dem Geist des Vertrags ist mehr gedient, wenn wir möglichst effektiven Klimaschutz betreiben. Doch über die konkreten, realistischen Ziele müssten wir uns erst noch verständigen. In der Diskussion würden auch die Optionen des Climate Engineerings verhandelt, die zwar eine Kühlung der Erde versprechen, aber vom Weltklimarat als riskant beurteilt werden.

Es ist ja nicht so, dass das 1,5-Grad-Ziel optimal wäre. Am besten hätten wir den Klimawandel unterhalb der Wahrnehmungsschwelle gehalten, also gar keine Klimaschäden zugelassen. Jetzt ist der Punkt erreicht, an dem die ersten Folgen der vom Menschen verursachten Erderwärmung sichtbar werden. Vor allem Hitzeperioden kommen deutlich häufiger vor, als es unter normalen Umständen zu erwarten wäre. Den Temperaturanstieg an dieser Marke zu stoppen, hätte der Klimarahmenkonvention von 1992 entsprochen, in der die Staaten der Welt vereinbart haben, „eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems“ zu verhindern. Dieses Ziel haben wir verfehlt, das nächstbeste – also das 1,5-Grad-Ziel – werden wir ebenso verfehlen. Es wird Zeit, dass wir uns ernsthaft um ein Ziel bemühen und dass wir uns ernsthaft um die Folgen unseres Nichtstuns kümmern. Die Bewohner der Marshallinseln und viele andere Menschen benötigen unsere Hilfe.

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