Jonathan Franzen: „Ich weiß, dass du mich nicht liebst, aber ich liebe dich."
Der US-Schriftsteller und passionierte Vogelbeobachter über seine liebsten Erlebnisse in der Natur und die Sorge um ihre Zukunft
Jonathan Franzen (62) ist eine der prominentesten literarischen Stimmen der USA – unter anderem ist er Autor der Romane The Corrections, Freedom, Purity und zuletzt Crossroads. Seit vielen Jahren setzt der Schriftsteller sich auch engagiert und streitbar für mehr Natur- und Vogelschutz ein. Viel Beachtung fand seine Mahnung in einem Essay im New Yorker, im Kampf gegen den Klimawandel nicht die verbliebene Natur durch einen ungezügelten Ausbau erneuerbarer Energien noch stärker zu beeinträchtigen.
Franzen kritisiert in diesem Zusammenhang immer wieder auch Teile der Umweltbewegung, denen er auch in einem ausführlichen Interview mit RiffReporter vor gut einem Jahr vorwarf, sich zu sehr auf den Klimawandel zu fixieren und dabei den Natur- und Artenschutz zu vernachlässigen. Franzen ist ein begeisterter „Birder“ und „Lister“, der auch in Deutschland schon ein beachtliches Spektrum von mehr als 150 Vogelarten auf seiner Liste hat.
Wann, wie und wo haben Sie den Zugang zur Vogelwelt gefunden?
Eine Schwägerin und ihr Mann, beide Vogelkundler, nahmen mich im Mai 2000, auf dem Höhepunkt des Frühjahrszugs im Osten der USA, mit in den Central Park in New York. Ich hatte gedacht, die einzigen Vögel im Park seien Wanderdrosseln, Tauben, Stare und Haussperlinge. In wenigen Stunden, mit offenen Augen und einem Fernglas in der Hand, sah ich mehr als fünfzig Vogelarten.
Was bedeutet Ihnen Vogelbeobachtung in Ihrem Alltag – und was hält Sie vom Beobachten ab?
Morgens wache ich auf und höre Zaunkönige und Grundammern, und über den Tag hinweg mache ich kleine Pausen und bewundere die vielen Besucher unserer Vogeltränke. Ich lausche auch immer nach Vögeln, egal wo ich bin. Aber nur selten – vielleicht einmal im Monat – mache ich einen speziellen Vogelspaziergang. Ich ziehe es vor, meine Zeit für die Vogelbeobachtung aufzusparen und sie in großen Stücken zu verbringen – längere Ausflüge zu weiter entfernten Orten. Wie ein Alkoholiker, der lieber gar nicht trinken möchte, wenn er nicht maßlos trinken kann.
Teilen Sie ein besonders schönes Beobachtungserlebnis mit uns?
In Santa Cruz County, wo ich wohne, haben wir das Glück, eine kleine Population von brütenden Schwarzseglern zu haben. Sie sind Sommergäste in Nordamerika und brüten meist entlang von Gebirgsbächen, aber eine kleine Anzahl von ihnen nistet auch in den Klippen des Pazifiks. Es sind große Vögel, ganz schwarz. Als ich sie das erste Mal sah, spazierte ich gerade an den Klippen in der Nähe meines Hauses entlang. Plötzlich, wie aus dem Nichts, näherten sich drei Schwarzsegler auf ihre anmutige Art und Weise. In zehn Sekunden waren sie an mir vorbei und außer Sichtweite. Aber diese zehn Sekunden waren eine kleine Ewigkeit. Die Zeit blieb stehen, die Welt wurde still – es gab nichts außer diesen drei Seglern.
Bei welchen Vögeln tun Sie sich mit der Bestimmung schwer?
Ich versuche nicht einmal, eine Großmöwe zu identifizieren, es sei denn, es ist ein ausgefärbter Altvogel. Die Leute, die immature Möwen bestimmen können, haben nicht nur mehr Zeit als ich, sie interessieren sich auch viel mehr für Möwen. Ich räume nur schweren Herzens ein, dass eine Möwe genauso ein Vogel ist wie jeder andere Vogel auch.
Gibt es eine Vogelart, die Sie nicht ausstehen können?
Ich habe einmal eine Woche auf einer Insel verbracht, auf der Westmöwen nisteten. Um sich nach draußen wagen zu können, musste man einen Schutzhelm aufsetzen und einen Regenponcho überstreifen, denn die Möwen stürzten sich sofort auf einen – sie hackten einem auf den Kopf, versuchten, einem die Augen auszustechen, und verspritzten beachtliche Mengen Kot über einem. Ich weiss, sie wollten nur ihre Eier und ihre Küken beschützen, aber seitdem kann ich mich nicht mehr für Westmöwen erwärmen.
Wenn Sie sich CO2-frei an einen beliebigen Ort der Erde zum Vogelbeobachten beamen könnten, wohin würde es gehen und auf welche Art hoffen Sie dort?
Trotz meiner Abneigung gegen Möwen ist der Vogel, den ich vielleicht am liebsten von allen sehen würde, die Elfenbeinmöwe, die reinweiße Bewohnerin des hohen Nordens. Der am besten zugängliche Ort, um sie zu sehen, ist die Mülldeponie auf Svalbard. Die anderen Orte sind noch weniger zugänglich.
Was machen Sie mit Ihren Beobachtungen?
Ich genieße sie im Moment der Beobachtung und erfasse sie später mit einer Vogellistensoftware. In meiner Datenbank befinden sich derzeit 47.578 Sichtungseinträge, davon 950 in Deutschland.
Wenn Sie sich in einen Vogel verwandeln dürften, welcher wäre das?
Vieles spricht für Papageien. Sie sind klug, sehr gesellig, ernähren sich vegetarisch von Früchten, und sie leben sehr lange.
Wenn Vögel unsere Sprache verstehen könnten, was würden Sie ihnen gerne sagen?
"Ich weiß, dass du mich nicht liebst, aber ich liebe dich."
Wenn Sie sich einen Begleiter zum Vogelbeobachten aussuchen dürften, wer wäre das?
Es macht mir besonders viel Spaß, mit Leuten rauszugehen, die sich vorher noch nie ernsthaft mit Vögeln beschäftigt haben. Es ist eine Weise das Geschenk weiterzugeben, das mir meine Schwägerin und ihr Mann gemacht haben, als sie mir die Augen für die Welt der Vögel geöffnet haben; eine Möglichkeit, den Zauber dieser Offenbarung wieder zu erleben.
Wer ist Ihr Held oder ihre Heldin in Biologie oder Naturschutz?
George und Rita Fenwick. Sie gründeten vor 25 Jahren die American Bird Conservancy, die sich zum entschiedensten und effektivsten Verteidiger und Fürsprecher der Vögel in der westlichen Hemisphäre entwickelt hat.
Auf welche ornithologische Frage hätten Sie gerne eine Antwort?
Ich warte immer noch auf eine überzeugende Erklärung dafür, wie ein 10 Gramm schwerer Singvogel, nachdem er 6000 Kilometer nach Süden geflogen ist und in Peru überwintert hat, den Weg zu genau demselben Baum in Massachusetts zurückfindet, in dem er im Jahr zuvor gebrütet hat.
Es ist schwer, sich für eine Maßnahme zu entscheiden, wenn zwanzig nötig sind. Aber wenn ich US-Präsident wäre und nur eine wählen müsste, würde ich Katzen im Freien verbieten. (Jonathan Franzen über seine wichtigste Vogelschutzmaßnahme als Regierungschef)
Was tun Sie zum Schutz der Vogelwelt?
Ich bin langjähriges Mitglied des Vorstands der American Bird Conservancy und habe viel über Vögel und die Herausforderungen, denen sie sich stellen müssen, geschrieben.
Welche Naturschutzmaßnahme finden Sie besonders wichtig?
Die dramatisch erfolgreichste Naturschutzmaßnahme ist vielleicht die Beseitigung invasiver Arten – Ratten, Mäuse, Katzen – von den abgelegenen Inseln, auf denen Seevögel brüten. Es ist eine schwierige und teure Arbeit, aber die Zunahme der Vogelpopulationen dadurch ist erstaunlich.
Was ist Ihre größte Umweltsünde? Unter welchen Umständen würden Sie darauf verzichten?
Flugreisen, sicherlich. Aber es ist interessant, dass Sie das Wort "Sünde" verwenden, das eine deutlich religiöse Konnotation hat und an die christliche Vorstellung von der "Erbsünde" erinnert – die Idee, dass allein die Tatsache, ein Mensch zu sein, bedeutet, schuldig zu sein.
Wenn Sie für einen Tag Regierungschef/in wären und eine Maßnahme zum Schutz der Vogelwelt umsetzen könnten, was wäre das?
Es ist schwer, sich für eine Maßnahme zu entscheiden, wenn zwanzig nötig sind. Aber wenn ich US-Präsident wäre und nur eine wählen müsste, würde ich Katzen im Freien verbieten.
Was beunruhigt Sie für die Zukunft der Artenvielfalt am meisten und warum?
Die menschliche Natur. Ich glaube nicht, dass unsere Zerstörung des Planeten vor dem Jüngsten Tag aufhören wird.
Woher nehmen Sie die Hoffnung?
Wiederum die menschliche Natur, die die Fähigkeit beinhaltet, die natürliche Welt zu erleben und zu lieben und sie schützen zu wollen.
Wenn Sie sich von der Evolution eine neue Vogelart wünschen dürften, wie würde sie heißen?
Katzen jagende Adler.