Katzen an die Leine

Der Rhein-Neckar-Kreis hat ein Freilaufverbot für Katzen während der Brutzeit einer seltenen Lerche angeordnet. Ein mutiger Schritt, der eine breitere Debatte in Gang setzen könnte: Leinenzwang und ein Freilaufverbot sind überfällig. Ein Kommentar

vom Recherche-Kollektiv Flugbegleiter:
4 Minuten
Eine Katze mit einem Rotschwanz im Maul.

140 Millionen Vögel – vielleicht auch mehr als 200 Millionen – sterben in Deutschland in jedem Jahr durch Katzen. Riesige Flächen werden von Vögeln gemieden und fallen als Teil ihres Lebensraums weg, weil dort Katzen herumstreunen.

Die Katzen tun, was sie tun müssen, denn sie sind domestizierte Jäger – Prädatoren, oder – wie es im Fachjargon heißt: gebietsfremde, invasive Arten. Die Wissenschaft sieht das klar: Auf der Liste der Top-100-Invasivgefährder für die jeweils heimischen Ökosysteme rangieren Katzen weit oben – in Gesellschaft einiger durch den Klimawandel geförderter Algen, Ratten und ja, auch einigen Vogelarten.

Katzen legen ihren Haltern das Problem buchstäblich vor die Füße

Auch Politik, Behörden, Naturschutzverbände und natürlich Katzenhalterinnen und -halter kennen das Problem seit langem. Die Tiere legen es ihren Besitzerïnnen schließlich oft genug als Mitbringsel von ihren Streifzügen vor die Füße. Unternommen wird gegen den millionenfachen vermeidbaren Vogeltod trotzdem nur wenig – zu wenig.

Halterïnnen nehmen sich wie selbstverständlich das Recht heraus, ihre Lieblinge auf Vögel, Kleinsäuger und Reptilien loszulassen, wann immer es ihnen beliebt. Dass sich die meisten wahrscheinlich gar keine Gedanken darüber machen und andere ihrer eigenen Katze nur das Allerbeste unterstellen („meine Katze bringt keine Vögel nach Hause“), macht es nicht besser und entlässt die Besitzerïnnen nicht aus der Verantwortung.

Behörden und Regierungen wiederum ignorieren zu oft ihre Pflicht, das alltägliche Vogelsterben in unseren Gärten zu unterbinden. Schon vor zwei Jahren legten die renommierten Rechtswissenschaftler Arie Trouwborst und Han Somsen in einem vielbeachteten Aufsatz im Journal of Environmental Law dar, dass Behörden und Regierungen nicht nur die Möglichkeit haben, etwa mit Ausgehverboten zur Brutzeit wirksam gegen das Problem vorzugehen, sondern dass sie nach internationalem Recht dazu sogar verpflichtet sind. Das Rechtsgutachten hätte ein Wendepunkt im rechtlichen Umgang mit dem Katzenproblem sein können, geschehen ist seitdem zumindest hierzulande aber nichts.

Naturschützer scheuen vor dem Konflikt zurück

Auch die meisten Naturschutzverbände haben die Vorlage nicht aufgegriffen – aus Scheu, ein so heißes Eisen anzufassen. Von ihnen empfohlene Maßnahmen wie Glöckchen am Hals der Tiere mindern Teilaspekte des Problems mit viel Glück, sind insgesamt aber bei weitem nicht ausreichend. Die Forderung nach dem wirksamsten Mittel – einem Freilaufverbot für Katzen zumindest während der Fortpflanzungszeit ihrer Opfer – traut sich bislang kein Verband offensiv zu erheben.

Stattdessen wird argumentiert, Katzen erbeuteten fast nur Angehörige häufiger Vogelarten und würden auch nicht ganze Populationen ausrotten. Ein weiteres Argument lautet, Katzen seien nicht die eigentlichen Treiber des Artensterbens. Beides stimmt natürlich. Trotzdem sind es Ausreden. Sie können sogar zu einer Bagatellisierung des Problems beitragen. Warum – Argument 1 – sollten wir uns nicht für das Leben und die Unversehrtheit auch häufiger Arten einsetzen? In der Logik dieses Arguments wird das Engagement für urbane Natur, für Spatz & Co, als nachrangig eingestuft.

Alle Vögel genießen Rechte – auch die häufigsten

Übrigens ist das Argument auch rechtlich nicht haltbar. Denn nach der Vogelschutzrichtlinie genießen alle in Europa wild vorkommenden Arten denselben Schutz – häufige Arten ebenso wie seltene. Und wie schnell aus einer häufigen eine bedrohte Art wird, sehen wir beispielsweise am Schicksal des Haussperlings, der in einigen Großstädten binnen weniger Jahre zur Rarität wurde oder schon verschwunden ist.

Auch das zweite Argument gegen ein strikteres Vorgehen gegen das Katzenproblem – Katzen seien nicht die eigentlichen Treiber des Artensterbens – leidet unter einer Unwucht: Der Verlust der Biodiversität um uns herum hat viele Ursachen. Die Verschlechterung der Lebensgrundlage für Tiere und Pflanzen auf breiter Front ist ja gerade das Problem. Es gibt also nicht den einen Treiber, den es auszuschalten gilt, es geht um Verbesserungen durch die Bank.

Der überflüssige Tod einer dreistelligen Millionenzahl von Vögeln in unseren Gärten sowie die großflächige Lebensraumentwertung durch Katzenpräsenz sind gravierend.

Natürlich gibt es stärkere und schwächere Faktoren für den Vogelschwund – die Industrielandwirtschaft ist sicher ein insgesamt größerer Faktor als Katzen. Aber warum sollten deshalb andere – gravierende – Treiber für den Verlust der Biodiversität ignoriert werden? Und der überflüssige Tod einer dreistelligen Millionenzahl von Vögeln in unseren Gärten sowie die großflächige Lebensraumentwertung durch Katzenpräsenz auf großer Fläche sind gravierend. In der Logik dieses Arguments könnten wir Naturschutz gleich fast überall einstellen. Wieso gegen den millionenfachen Tod von Vögeln an Scheiben vorgehen, wieso gegen das Sterben an Windrädern, im Straßenverkehr, bei der (legalen wie illegalen) Zugvogeljagd auf Singvögel – alles isoliert betrachtet nicht die entscheidenden Treiber des Biodiversitätsverlustes. Zum Glück sind dieselben Leute, die so argumentieren oft genug in ihrem eigenen Handeln nicht konsequent – und setzen sich engagiert für den Naturschutz ein.

Auch die Katzen profitieren

Und wer denkt an die Katzen? Auch ich tue das, denn ich mag Katzen. Viele Expertïnnen, die sich für ein Freilaufverbot einsetzen, übrigens auch. Die University of California in Davis hat in einer Handreichung mit den „Mythen“ aufgeräumt, nach denen nur freilaufende Katzen glücklich sein könnten. Die Veterinärmediziner kommen zu einem ganz anderen Ergebnis und führen Argumente auf, über die Besitzerïnnen von Freilaufkatzen nachdenken sollten. Hauskatzen kommen nicht unter die Räder, fangen sich keine gefährlichen Parasiten ein, werden nicht bei Revierkämpfen verletzt, vergiftet oder gefangen… Auch das Wohlbefinden leide nicht – wenn sich die Besitzerïnnen denn um ihre vierbeinigen Mitbewohner kümmerten.

Millionen Katzen zur Vogelbrutzeit an die Leine nehmen? Zugegeben: Das klingt radikal, auch weil der Gedanke ungewohnt ist. Das war früher aber auch der Gedanke an angeleinte Hunde, angeschnallte Autofahrerïnnen oder raucherfreie Kneipen. Es ist Zeit für ein Umdenken – und das vom Rhein-Neckar-Kreis für einen Teil der Stadt Walldorf angeordnete Freilaufverbot ist ein guter Ausgangspunkt auch für Naturschutzverbände, diese Debatte endlich offensiv zu führen.

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